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EVOLUTION EXECUTION

 

Alles Urdenken geschieht in Bildern
Arthur Schopenhauer


// MEER-ES //


ES ist nachtaktiv und gleitet durch das schwarze Salzwasseruniversum wie der atmende Schatten eines U-Boots auf dem Meeresgrund. Keines der anderen Weich- und Wirbeltiere, die sich in wabernde Anemonen zurückziehen, Fortpflanzung suchen, panisch voreinander fliehen und sich gegenseitig genüsslich oder ohne zu kauen verspeisen, bevor sie selbst zu Frutti di Mare werden, beachtet ES. ES ist etwa drei Meter lang, die Oberfläche glatt wie die einer Robbe, die Form schnittig, ein weißes Auge an jeder Seite, sowie jeweils ein weiteres Auge auf der Kopfdecke, eines am fliehenden Kinn, das grenzenlos in den Rumpf übergeht, ein weiteres Auge am Körperende auf einer Flosse, die mehrgliedrig ist und somit einer häuternen auseinandergeklappten Inkalilie ähnelt. Petrolfarben ist der Körper, an dem bis auf die Flossen kein Glied klar voneinander getrennt ist, wodurch ES einer glitschigen Schupfnudel gleicht. Weitere Flossen befinden sich an den Seiten rechts und links der Körpermitte als balancierende Oberflächen sowie an Rücken und Bauch (wobei diese Zuordnungen nicht ganz klar zu bestimmen sind, da ES sich aufgrund seiner Strahlform nach Belieben drehen und wenden kann, wodurch oben immer auch unten und unten immer auch oben sein kann). Mit kurzen, starken, impulsiven Stößen schiebt ES sich etwa vier Meter gegen den Wasserwiderstand, um anschließend eine Stunde, vielleicht zwei zu gleiten. Angetrieben von einem kleinen Mechanismus unter der Inkalilienflosse, der mit körpergeneriertem Mineralkraftstoff betrieben wird, einer Art grapefruitorangem Serum, das durch knorpelige Drüsen ausgestoßen und in pfeilartigen Spritzern aus dem Organismus durch eine Auslassung in der Membran direkt ins Getriebe katapultiert wird. ES hält nie ein, sondern treibt ständig stets pfeilartig nach vorne schwimmend.
In zufälligen Anordnungen auf dem Körper wachsen zahlreiche fleischige Sensoren, noppenähnlich, mehr noch wie Zitzen; manche sterben ab und gedeihen sogleich wieder neu, entfalten sich wie Röschen und nehmen im Akkord ihre Arbeit auf. Ein in der Grundstruktur diamantengeformtes Nervensystem im Leibesinnern mit zahlreichen feingliedrigen Abzweigungen und Verästelungen verbindet jede Zitze mit einem der fünf Gehirne, die im Organismus in exakt gleichen Abständen von Körperanfang bis Körperende verteilt verankert sind.
Erfasst eines der fünf Augen oder einer der mannigfachen Zitzensensoren ein gesuchtes Objekt, reagiert der ganze Organismus und schaltet unmittelbar in Workmode: Thermoplaste, Duroplaste, Elastomere, Polymere, kleinste Makromoleküle werden erfasst. Es öffnet sich eines von zwei Mäulern, ebendas, das sich zum Zeitpunkt der Objekterfassung näher am Zielobjekt befindet, wie eine kreisrunde Luke. An der Innenseite ringsherum mit hörnernen pyramidalen Greifern ausgestattet, packt das Maul das Objekt und verschluckt es, sodass das
plastikfressende Enzym PHL12 mit der Arbeit beginnen kann. Einzig an Meerestieren verankerte Kunststoffreste werden samt Tier vom Organismus abgestoßen und zum Sterben zurück in die Wellen entlassen.


// LUFT-ES //


ES kommt natürlicherweise vor allem in urbanen Räumen, verkehrsdichten Metropolen,zwischen Skyscrapern und Fernsehtürmen vor. Hier sieht man ES am Horizont durch den Smog oszillieren, dabei weniger kraftvoll und schwebend wie ein Adler als mehr noch wie eine überdimensionale Taube flatternd umherirren, als hätte ES kein Ziel vor Augen. Doch ist der Flügelschlag alles, was an eine Taube erinnert, vielmehr wirkt ES von Weitem wie ein Pterosaurier, bei näherem Hinsehen fällt jedoch das Fehlen des Kopfes auf. Die Oberflächenstruktur sehnig und ledrig, schlägt ES im aufbrausenden Flug.
Die Grundform erinnert an einen Ahornsamen, ebenso die Bewegungen, da ES sich durch seine Schnelligkeit und bisweilen unkontrollierten Drehungen auszeichnet. Kopflos, jedoch im rein körperlichen – nicht aber metaphorischen – Sinne, da ES mit zwei voll ausgestatteten Gehirnen versehen ist: das eine für die Orientierung, das andere für die Filtration. Die Farbe des ledrigen Ahornblattes changiert je nach Lichteinfall zwischen Kupferrot und Maisgelb, da die Dünnhäutigkeit (ebenfalls nicht im metaphorischen Sinne, da ES sich weder von Lärm noch von Stadt, Staub oder Stau aus der Fassung bringen lässt) bei Sonneneinfall ein gelbliches Leuchten erzeugt.
Die Körpermitte hält ein harter, knochiger Stamm zusammen, von dessen zwei langen Seiten sich zwei etwa sechs Meter lange tropfenähnliche Flügel nach rechts und links ausstrecken, die durch schnelles Schlagen den zuvor beschriebenen leicht hektisch wirkenden Flug oder aber im konzentrierten Stillstand propellerartig einen spiralförmigen Sturzflug generieren. ES verfügt über keinerlei Sehorgan, dafür jedoch über feine, kaum sichtbare Härchen am gesamten
Körper. In Kombination mit der ledrigen Optik setzt ES damit Assoziationen an die etwa zweitagebärtige Gesichtshaut eines vierwöchigen Mallorca-All-Inclusive-Urlaubers frei. Über ebenjene Härchen nimmt ES veränderte Luftwiderstände bis ins kleinste Detail wahr und kann somit die Flugrichtung bestimmen, ohne je mit einem Objekt zu kollidieren. Sollte ES in seltenen Fällen Unsicherheiten bezüglich seiner Umgebung verspüren, stößt ES aus einer lippenlosen Luke krähenhafte Laute aus, deren Widerhall über etwa zweizentimeterkleine Öhrchen an Stammesober- und -unterseite endgültigen Aufschluss über die Entfernung von
etwaigen Kollisionsobjekten bietet.
Die Flügel werden jeweils von einer pulsierenden Ader mit dem Rumpfstamm verbunden, von der aus sich weitere Adern schlangenförmig bis zur Flügelaußenseite erstrecken. Bespannt sind die Flügel mit einer dünnen, papyrusähnlichen Oberfläche, die durch eine doppelseitige, mit dem bloßen Auge kaum erkennbare Netzstruktur mit verschwindend kleinen Poren automatisch, nur allein durch Flügelschlag, Propellerflug und die Oberflächenbeschaffenheit
der Filtrationshaut, ultrafeine Partikel aus der Luft fischt, die im Innern des Flügelnetzes archiviert werden. Am unteren Ende des Stammes befindet sich ein kleiner elastischer Rüssel, einem fleischigen Staubsaugerstummel gleich, der in emsiger Manier saugt. ES hat eine Lebensdauer von etwa 48 Wochen, also ungefähr einem Jahr, eben so viel Zeit, wie es benötigt, um die Netze komplett mit Feinstaub zu füllen. Spürt ES den Druck der Flügel und die Prallheit der Netze, so lässt ES sich zum Sterben außerhalb der Stadt vorzugsweise im Moor nieder.


// LAND-ES //


ES liegt flach auf dem Bauch wie ein gestrandeter Seestern, nur schwabbeliger, in der Konsistenz eher wie ein buntes Slime, mit dem Kinder in den 90ern gespielt haben, das gegen Decken, Wohnzimmerschränke, Küchentüren geworfen wurde, um Sekunden – an der Decke stalaktitenhaft oder an der Wand wie ein Rotz – hängenzubleiben, dann siechend und in Zeitlupe abzufallen, auf dem Teppichboden Bauchnabelflusen, Hundehaare und Hornhautreste in sein schleimiges Inneres aufzunehmen und es nie zu verdauen. Im Gegensatz zum Slime ist ES jedoch nicht neonfarben, weder grün noch pink, sondern asphaltgrau und damit optisch weniger ansprechend, aber auch weniger auffällig als das beliebte Kinderspielzeug.
In normaler Position ist der Körpermittelpunkt fest in die Erde gedrückt, während sich die äußeren Schleimärmchen ausstrecken (mal sind es tatsächlich fünf wie beim Seestern, mal viel mehr, etwa 23, die in alle Richtungen pfützenhaft ausufern und das Körperinnere so sehr dehnen, dass es immer platter gegen den Boden drückt, bis es fast eins mit der Erdoberfläche wird). So ist ES auf befahrenen Sommerstraßen in der Stadt, dort wo es im August nach Nudelwasser, Lindenblüten und heißem Beton riecht, unfreiwillig so getarnt, dass man ES
kaum erkennen kann. Vereinzelt findet man ES in dieser urbanen Umgebung, dann aber keinesfalls, weil ES den Stadtkern aus eigenem Antrieb aufgesucht hätte, sondern weil ES von irgendetwas Menschlichem aufgesammelt, mitgenommen und achtlos weggeschmissen wurde. ES hat auf Teer nichts verloren und nichts auszurichten; hier verharrt ES einfach nur, bewegt sich kaum fort, trocknet irgendwann in den immer heißen und stetig trockner werdenden Sommernächten ein, und wird eines Tages von einem Straßencafébesitzer mit dem Kehrblech gedankenverloren abgekratzt und in einen Gully entsorgt.
Die natürliche Lebensumgebung findet ES auf dem Land, vorzugsweise auf Ackern, Feldern, an angrenzenden Waldgebieten und mitunter auch auf Wiesen, wo ES liegt und befeuchtet. Über einen speziellen Stoffkreislauf produziert ES in der gesamten Schleimsubstanz kontinuierlich körpereigene Flüssigkeiten, die, vergleichbar mit der menschlichen Transpiration, über Drüsen abgeben werden und ES von außen mit einem feuchten Film benetzen, der durch den klebrigen Zustand nicht nur die Haftung auf der Erdoberfläche gewährleistet, sondern den Verweiluntergrund mit wertvoller Feuchtigkeit und wichtigen Nährstoffen versorgt. Wo ES längere Zeit klebte, blühen und gedeihen über Monate üppig wilder Löwenzahn, Wiesenblumen, ruppiges Kraut, Erdäpfel, Radieschen, Spargel, Thymian, kleinere Sträucher oder was auch immer im Erdboden als Saat darauf wartet, dem Sonnenlicht entgegenzusprießen.
Über den Boden befeuchtet ES sich selbst. Anders als im heißen Asphalt findet ES hier kleine Steinchen, Lehm, Sand, Wurzeln, abgestorbene Pflänzchen und Tierteilchen, Algen, Würmer und Bodenluft, die ES mit magnetischer Oberfläche anzuziehen vermag, um die Bestandteile (eben wie das Slime die kleinen Zehennägelchen und Nasenhärchen im Kinderzimmer) zu absorbieren, alles umzuwandeln, anzureichern und als vervielfacht nährstoffreichere Substanz
wieder abzugeben. Dieser Vorgang wiederholt sich täglich, stündlich, wobei ES sich beharrlich über die Oberfläche, den Acker, das Feld, die Wiese arbeitet, indem ES sich mit Scheinfüßchen, ganz gleich einer Amöbe, Zentimeter für Zentimeter fortbewegt. ES streckt sich ausgiebig, heftet sich am Untergrund an und zieht den Rest des Körpers nach sich. Strecken, Anheften, Zurückziehen. Strecken, Anheften, Zurückziehen. Strecken, Anheften, Zurückziehen, bis ES das Nährserum auf den ärmsten Böden verteilt hat und sich schließlich nur noch zurückzieht
bis ES nicht mehr ist.


// PERDITOR //


Dr. Korbinian Veilsprenger lässt sich auf dem samtbezogenen Mahagonisessel nieder, eines seiner vielbeachteten Kolonialschätzchen, die in der alten Villa am Bodensee in jeder Ecke für anerkennende Blicke seiner Kollegen sorgen. Er geht zunächst leicht in die Hocke, den in die Jahre gekommenen und immer weiter schrumpfenden Flachhintern kurz in der Luft positionierend, um sich dann mit einem beachtlichen Rums und einem noch beachtlicheren Seufzer in den weichen Samt fallen zu lassen.
Von hier aus hat er den perfekten Überblick über seine Sammlung. Auf dem mit sattgrünen Ranken bemalten, fliesenbesetzten Tischlein neben dem Sessel steht eine große Karaffe Wasser mit Zitronenscheiben, in der sich die letzten Sonnenstrahlen des Tages spiegeln, die sich ihren Weg durch schwere kastanienbraune Vorhänge bahnen.
Da hängt es, sein Lebenswerk, das sich Dr. Korbinian Veilsprenger im Schweiße seines Angesichts erarbeitet hat. Den rechten dicken Zeh hat er auf einer seiner Expeditionen gelassen und das verschlissene Knie zwingt ihn nun schon seit Jahren zur redlichen Schmerzmitteleinnahme vor dem Zubettgehen. Aber jede körperliche Belastung, jeder Schmerz, jede Panikattacke, jede kafkaeske Auseinandersetzung mit den Behörden hat sich gelohnt. Für seine Sammlung. Seinen Stolz. Seine Liebe.
Er liebt sie wahrlich. Insgeheim, und das weiß nur Dr. Korbinian Veilsprenger, liebt er die Exponate mehr als seine Frau. Ob es schon Objektophilie ist, weiß er nicht, da er nicht wirklich sexuelle Erregung beim Anblick seiner Exponate empfindet. Zumindest nicht auf der ersten Ebene. Es ist eher ein väterlicher Stolz, der ihn durchdringt, wenn er sie sieht, dort an seiner Wand hängend. Die toten Blicke aus den insgesamt fünf Augen des exotischen Meereswesens etwa, das er an diesem einen heißen Septembernachmittag bei seinem Tauchausflug im Great Barrier Reef das erste Mal entdeckte. Dort hängt es, exakt so, wie er es gefangen hat, ganze 12 Tage hat es gedauert, bis die Harpune das Wesen endlich erlegen konnte, so intelligent war es. Mittlerweile wusste er über die fünf Gehirne Bescheid, doch damals war es noch nahezu unerforscht.

Und so nahm alles seinen Anfang. Sein Interesse, seine Liebe, seine Obsession.
„EVOLUTION EXECUTION“ titelte die NEW YORK TIMES einst in einem Artikel über diese eigenartigen Lebewesen, dieses Trio, das sich plötzlich aus der Natur erhob wie eine totgeglaubte Gottheit, „um die Welt vor dem Menschen zu retten.“ Sofort war Dr. Korbinian Veilsprenger klar, welch seltenen Fund er im australischen Korallenriff gemacht hat. Ein Teil einer Gruppe – wie die Avengers –, dachte er, als er die ersten Berichte in Fachzeitschriften recherchierte. Doch während sie dort als Superhelden und evolutionsbiologische Kraft gehandelt wurden, waren ihm der Ernst der Lage und die von ihnen ausgehende Bedrohung direkt klar. Und bald wusste er, dass er sie haben musste. Nicht nur einen von jeder Art, am besten alle Existierenden. So gründete Dr. Korbinian Veilsprenger den ersten Klub zur
Bekämpfung galaktischer Materie. Die Presse hatte ein völlig falsches Bild verbreitet, machte die Menschen glauben, es handele sich um einen außergewöhnlichen Evolutionseffekt, diese Lebewesen könnten gar die Rettung des Klimas bedeuten. Doch in Wahrheit waren sie Feinde, das wusste Dr. Korbinian Veilsprenger, seit er das erste Mal in eines der toten Augen dieses
fremden Meereswesens geblickt hatte. Leer und kalt, bereit alles zu vernichten, was ihm lieb und teuer war. Sie waren unnatürlich, keine Gottheiten, sondern von den Aliens geschickt. Er hatte die Wahrheit erkannt.

Das erste Flugwesen konnte er nach vielen Experimenten letztlich mit einer spezialgefertigten Drohne überwältigen. Es war widerspenstig, grob und zickig. Die Form gefiel ihm auf Anhieb und so hängte er sich dieses erste von vielen – hunderte zählt seine Sammlung mittlerweile – mit der Spitze nach oben und den zwei tropfenförmigen Flügeln nach unten zeigend, über seinen Fernsehapparat. Es erinnerte ihn an einen Ahornsamen und die fleischig-schimmernde, kaum merklich mit Härchen bedeckte Optik erregte ihn tatsächlich ein wenig, erinnerte sie doch mit ihrem nach unten ausgerichteten Stümmelchen an ein menschliches Geschlecht. Schnell hatte er die richtige Technik entwickelt, um die ersten Exponate zu häuten. Er nahm die oberste Hautschicht ab und ummantelte damit den Wurfarm seines Bogens. Bald fing er an sie zu verkaufen, der Schwarzmarkt war groß und wuchs stetig, sodass er bereits nach den ersten Erträgen endlich das Kaminzimmer ausbauen konnte.

Nur das dritte Wesen des fantastischen Trios konnte seinem ästhetischen Urteil nicht standhalten, dieses schleimige Etwas. Lange Zeit wusste Dr. Korbinian Veilsprenger nicht, was er mit seiner Beute anstellen sollte. Natürlich waren es ausgerechnet diese glibbernden Rotzgören, die sich auf die einfachste Weise fangen ließen. Fast beleidigte ihn der fehlende Widerstand beim händischen Auflesen der hässlichen Objekte. Lange Zeit suchte Dr. Korbinian Veilsprenger nach einer einigermaßen ansehnlichen Verwendung für die ausgefledderten Schleimkreaturen und entschied sich schließlich dafür, sie lebendig zu fangen
und für den eigenen Garten zu verwenden. Ein einziges Exemplar nur hielt er im Reagenzglas auf dem Fensterbrett und zwang es in seiner feuchten Umgebung so zum ewigen Leben.

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