Berfin Şilen

Das Arbaytırkint


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Ih bin tsulets teytih giveyzın als
Bauır, şlosır, maurır, kelnır, arbaytır, berkman, tişlır, ferkoyfır, mehaanikır, kneht, lantarbaytır
als
Arbaytırkint.

Das ist nicht die Geschichte einer Arbeiterin, eher die eines Kindes, das arbeiten musste. Eines Kindes, das auf Reisen geschickt wurde. Eines Kindes, das arbaytın ging.
Das Kind wurde in den Zug gesetzt. Neben dem großen, staubigen Mantel der Tante, die es in diese Zukunft eines Kindes bringen sollte. Das Kind wurde an den Mantel gedrückt, wurde von der Tante fast unter dem Mantel versteckt, an diesem dunklen staubigen Ort. Aus dem Spalt des staubigen Mantels sah das Kind, wie sich die Landschaft veränderte. Von trockenen stacheligen Gewächsen und Palmen hin zu großen saftigen Tannen. Einmal schlief das Kind an diesem dunklen Ort ein. In dem Speckgeruch der Tante hatte das Kind es sich gemütlich gemacht. Bei jedem Schienenwechsel hüpften die Federn des Sitzes und so auch der Speck der Tante, auf dem der Kopf des Kindes lag.
Immer wieder träumte das Kind von diesem Ort, an dem sie ankommen würden. Sie hielt das Foto von ihrem Kindheitsfreund in der Hand, der schon zwei Jahre vor ihr nach Almanya gegangen war. Stellte sich vor, wie sie zusammen Verstecken spielen würden. Sie hatte noch keine Vorstellung von den großen Tannen, dem Schuppen und dem kleinen Spalt in der Mauer der Kirche, in der sie sich verstecken würde.

Die großen Männer hatten Flüsterpost gespielt. Die Nachricht hatte sich schnell verbreitet: „Irgendwo weit weg von da, wo du bist, da gibt es einen Traum.“ Die Leute sagten, es sei zwar kein schönes Land, aber es gäbe arbayt. Also folgte man diesem Flüsterton oder vielleicht auch der leeren Hosentasche oder der Liebe, von zwei Kindern, die zusammen bleiben sollten, oder dem unbedachten Wort. Das Kind sprang währenddessen Seil auf dem sandigen Boden vor der Wohnung.

Als das Arbaytırkint dann in das Haus der Tante kam, war es voller Kinder. Die Tante hatte 8 Kinder. Das Arbaytırkint und ihr Kindheitsfreund lebten auch dort. Ein Haus, das mit jedem Kind wuchs, lauter und größer wurde. Von außen wirkte es wie ein kleines Haus, zwar auf zwei Etagen, aber nicht sehr hoch. Sobald man aber das Haus betrat, spürte man die Wände atmen.
In der ersten Nacht lag das Arbaytırkint mit den anderen 8 Kindern in einem Zimmer. Sie hatten tausend Schichten an Decken auf den Boden gelegt und lagen da nebeneinander gereiht wie die Hausschuhe, die sich an der Türschwelle der Eingangstür häuften. Von Wärme eingebettet schlief das Arbaytırkint ein. 

Am nächsten Morgen begann schon die arbayt. Das Arbaytırkint wachte auf und sah, dass die anderen Arbaytırkindır schon arbaytıtın. In der Küche war es laut, Töpfe wurden eingefettet, Eier aufgeschlagen, Kartoffeln geschält, Petersilie und Zwiebeln gehackt. Das Arbaytırkint setzte sich an den Tisch und fing auch an, Kartoffeln zu schälen. Die samtige Oberfläche der geschälten Kartoffel fühlte sich gut an, ließ das Arbaytırkint nachdenklich werden. Sie dachte darüber nach, wie sich wohl die Haut eines anderen Menschen auf ihrer Haut anfühlen würde. Die Kartoffel wurde ihr von einem anderen Arbaytırkint aus der Hand genommen, um sie weiterzuverarbeiten. Mit drei schnellen Handgriffen schnitt das andere Arbaytırkint die Kartoffel in Spalten, warf sie in das brutzelnde Fett. Währenddessen verarbeiteten zwei andere Arbaytırkindır die Paprika, die sie, in kleine Stücke geschnitten, mit den Tomaten anbrieten. Es zischte kurz, als sie die Eier in die heiße Pfanne rührten. In einer Arbaytırkindırkette wurden Teller für den Tisch weitergereicht. Alles hatte seinen geordneten Ablauf und als der Tisch dann fertig gedeckt war, kamen die Älteren, setzten sich an den Esstisch und ihre Münder saugten die Teller auf.

„Yaa, ih bin ferha’yraatıt. Yaa, yaa das ist main kint. Bitı geybın zi arbayt“, sagte die Tante dem Vorstand der Fabrik. Das Arbaytırkint fand den Klang dieser neuen Sprache lustig. Sie kannte die Melodie des Türkischen, wenn es aus dem Mund der Tante kam, doch die Buchstaben setzten sich zu neuen Wörtern zusammen. Das Arbaytırkint folgte dem großen staubigen Mantel der Tante. Und die Tante folgte dem Arbaytırkint. Sie sah das Geld in den Fingern des Kindes wachsen. Geld, das sie bald aus der Arbayt der Kinderhände sammeln würde.

Im Jahr 1968 war das Arbaytırkint 14 und 18 Jahre alt. Während es Seil sprang, war es 14, wenn sie in die Firma ging, dann war sie 18. Und beides war wahr.
Wenn das Arbaytırkint am Fließband stand und die Lampenschirme in Kartons packte, rief die Vorarbytırin: „Schineller, akkord, akkord.“ Dann packte das Arbaytırkint die Lampen schneller in die Kartons. Man sollte zwar schnell sein, aber auch mögliche Fehler in der Produktion erkennen. Es war ein bisschen wie ein Spiel, außer dass dem Arbaytırkint nach einer 8-Stunden-Schicht die Beine weh taten. Die Knochen, die noch am Wachsen waren, wuchsen mit Schmerzen. Je schneller man arbaytıtı, desto mehr Lohn bekam man. Immer wieder den Lampenschirm säubern, prüfen, einpacken. Schineller schineller. Die Fließbandgeschwindigkeit kam dem Arbaytırkint nach mehreren Stunden viel schneller vor als zu Beginn. Die Finger wurden langsamer und die Vorarbytırin rief weiter: „Schineller, schineller.“
In den Pausen tätschelten Arbaytırınnın, die wie ihre Tante aussahen, dem Arbaytırkint den Kopf. Sagten, was für schöne, dunkle Locken es doch habe. Dann war die Pause schon rum und das Arbaytırkint musste zurück ans Fließband. „Pauzı forbay“, riefen die Arbaytırınnın.

Die Geräusche erzeugten nach mehreren Stunden am Fließband einen Rhythmus, der durch die große Halle und die vielen Arbaytırınnınhände ein Echo bildete. Die Hände falteten Karton, setzten die Lampenschirme ein, legten Stroh in die Kartons und klebten sie zu. Schleifen, Klirren, Rascheln, Ratschen. Immer wieder. In einer Schnelligkeit, die sich zu einer Melodie im Kopf des Arbaytırkindes verdichtete. Schleifen, Klirren, Rascheln, Ratschen.
Das Arbaytırkint begann nun auch außerhalb der Firma diese Melodien zu erkennen. Wenn der Bus seine Türen öffnete, die Münzen klirrten, die Federn im Sitz quietschten. Sie begann, eine Rhythmik in den alltäglichsten Dingen zu sehen. Die Wiederholung beim Stapeln des Küchengeschirrs. Immer wieder das Klirren, wenn jemand Zucker im Çay-Glas umrührte. Immer wieder die Stufen zur Fabrik hinauflaufen, immer wieder die Kartoffeln schälen. Immer wieder das brutzelnde Fett. 

Nur wenn sie spielte, wenn sie sich versteckte im Spalt der Kirchenmauer. Wenn sie einem anderen Arbaytırkint die Haare flocht. Wenn sie über den Onkel scherzte, der immer schmatzte und es nicht merkte. Wenn sie sich auf die Wiese legte. Wenn sie die schweren Äste der Tanne im Wind rauschen hörte. Wenn sie die Wolken betrachtete. Wenn sie die Fäden ihrer Fantasie in sie einwebte. Wenn sie irgendwann an ihren Kindheitsfreund dachte, der ein anderer geworden war, der nicht mehr spielen wollte, dann war da Stille.

„Ensuldigung ih haabı zi niht ferstandın“, schrie die Tante den Busfahrer an und „ay bir susun“, zu den Arbaytırkindırn. Die 9 Arbaytırkindır hinter ihr redeten laut miteinander. „Eine Mark und 20 Pfennig, bidde“, brüllte der Busfahrer. Die Arbaytırkindırkolonne kletterte hinter der Tante in den Bus. Alle trugen zwei leere Taschen in der Hand, denn es wurde eingekauft. Eine Aufregung erfüllte den Bus, die Köpfe drehten sich zu ihnen. Das Arbaytırkint spürt eine Schicht auf seinem Körper, die ihr unangenehm ist, deswegen konzentriert es sich auf die Haare seiner Arbaytırschwester. Als sie den Markt betreten, bekommt jeder eine Aufgabe. Das Arbaytırkint soll Auberginen und Kartoffeln holen, aber das ist eigentlich eine große Herausforderung, weil es Auberginen – der Erzählung der Tante nach – noch nicht so lange im deutschen Supermarkt gibt. Karnıyarık gab es deswegen immer nur an besonderen Tagen und das war das Lieblingsessen des Arbaytırkindes. Ihre Mutter hatte es, wenn sie sich nicht vor den Hausaufgaben drückte, als Belohnung gekocht. Dann saßen sie gemeinsam mit der Schwester am Bodentisch und aßen die halbierten Bäuche.
Während sie den ganzen Einkauf aufs Kassenband luden, mussten sie drei Mal warten, bis der ganze Einkauf auf das Band passte und die Kassiererin mit dem Abkassieren hinterherkam. Die Arbaytırkindır machten sich schon daran, ihre Taschen zu füllen. Am Ende spazierten sie zusammen aus dem Laden hinaus: glücklich und zufrieden, wie nach einem gemeinsamen Ausflug. Alle Arbaytırkindır und die Tante waren beladen mit Lebensmitteln und machten sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Als derselbe Busfahrer wieder die Türen öffnete, winkte er die Arbaytırkindır und die Tante durch.

Im Bus saß dem Arbaytırkint ein Mädchen gegenüber, die es länger anschaute. Das Arbaytırkint schaute sie auch an. Ihr rundes Gesicht und ihre dünnen Lippen brachten Erinnerungen in dem Arbaytırkint auf: eine Muschel am Wegrand, der schmale Pfad von der Wohnung ans Meer, der staubige Mantel der Tante, das Verabschieden am Bahngleis, Mutter. Etwas in ihr sagte: Ich kenne dich.
Erst als sie bereits aus dem Bus ausgestiegen war, fiel es ihr ein: Sie kannte das Mädchen vom Bahnsteig, damals. Sie blickte ihm hinterher. Sah nur noch das verschwommene Winken, als der Bus vorbeifuhr, und ihr Mund formte den Satz: „Ih haysı Leyla.“