Felicia Schätzer

Das Elasthan der Tage


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Ich trug da immer eine Leggings aus Elasthan, und Elasthan war eine dehnbare Chemiefaser. Man kannte sie schon oder hatte sie vergessen. Wenn ich mit meinem Körper Figuren nachstellte, Kobra, herabschauender Hund, Kriegerin, spannte sich der Stoff über meine Muskeln und meine Muskeln spannten sich über meine Knochen, meine Knochen wölbten sich über die Atome, alles zusammen zerriss in sich, umschlang einander und so weiter. Ich dehnte meine Hüften bis zum Mond, bis zum Jupiter, dehnte die verklebten Faszien, sie glätteten sich. Ich balancierte meine schwerelosen 68 Kilo im Bakasana auf den eigenen Armen und stellte mir vor, mein Kopf wäre eine goldene Kugel, die von einem senkrecht aus meinem Hals schießenden Wasserstrahl getragen würde. Inhale, exhale. Wisst ihr, nach der Erschöpfung kam ja immer Yoga. Bevor man am Ende des Tages oder am Ende des Lebens starb, machten alle immer noch einmal Yoga, um runterzukommen, logisch, um alles auszuschalten, was einen fertigmachte. Die Welt bewegte sich und das war bewegend. Am besten bewegte man sich selbst mit, in einer beweglichen Leggings aus beweglichem Elasthan. Nun genug Gefasel. Die Yogastunde war zu Ende. Ich hatte Hausarbeit zu erledigen. Ich musste Leggings waschen.

Leggings wusch ich immer bei 60 Grad. Vollgeschwitzte Leggings, Elasthan, 60 Grad, Waschmaschinen, das gehörte alles zusammen, das ergab Sinn. Meine Mutter hatte mich gelehrt, dass sich Leggings bei zu heißen Temperaturen verformen. Beim Waschen konnte man neu anfangen, nagelneu, einfach nur alles abwaschen und in die Flüsse fließen lassen. Lass laufen. Lass spielen. Lass einfach alles aufhören. Mit der Nase an die Trommel gedrückt sah ich manchmal, selten, eher nie, wie sich klitzekleine Fasern Mikroplastik vom Elasthan der Leggings beim Waschen ablösten und über das Abwasser in die Kläranlagen, Flüsse und Meere der Welt gelangten. Es war so, wie einen Sticker abzulösen, es ging wie von selbst. Die Kläranlagen arbeiteten mit Sand vom Uranus und ich war die Frau vom Fischer. Ganz in der Nähe von Oberndorf, wo ich aufgewachsen war, gab es eine Kläranlage, zu der ich ein paar Mal mit dem Longboard meiner Schwester gefahren war, kurz nachdem sie mir verboten hatte, es zu verwenden. Der feine, dunkle Asphalt der Dammstraße, die zur Kläranlage führte, schien fürs Skaten geschaffen. Es fuhr sich, vorbei an Pfadfinderheim, Kapelle, Hochwassermarkierungen, wie auf Butter. Mit 15 waren Noah und ich im Finstern hier entlangspaziert, er hatte mir erzählt, dass in den Tiefen des Flusses Fische namens Huchen lebten. Huchen, noch nie gehört, sagte ich und mir war klar, dass ich den Begriff sofort vergessen würde. Auf dem Nachhauseweg dachte ich an den tiefen, endlosen Marianengraben, dessen unerforschte, den Grund bewohnende Oktopoden manchmal nach einem Sturm an der Küste Japans angespült wurden, und ich erinnerte mich daran, dass Mikroplastik in ihren Mägen gefunden worden war. Im ICE am nächsten Tag kamen mir die Austernzüchter:innen der Île d'Oléron wieder unter, weil ich ein Haus sah, dass mich an eine Auster erinnerte, ein ganz natürlicher Vergleich. Ich dachte an Rainer, der mir die atlantische Insel Île d'Oléron auf einem Block aufgezeichnet und erzählt hatte, dass die weltweiten Selbstmordraten dort in letzter Zeit explodiert wären, weil die Kultivierung der Huîtres, der Austern, ganze fünf Jahre dauerte, aber von einem einzigen, starken, unerwarteten Sturm zerstört werden konnte. Was die Existenzgrundlage der Austernzüchter:innen für die nächsten fünf Jahre mit ins Meer spülte. Wusch. Boing. Eine schlechte Welle zum Surfen, sehr schlecht. Ich sah wieder aus dem Zugfenster. Die Austernhäuser standen nach wie vor so weit das Auge reichte. Muschelig, verwachsen, marode.

Ich lebte weit weg von zuhause, in einer pulsierenden Metropole mit vielen neuen Bäumen und hatte oft Heimweh. Die Mieten pulsierten, die sieben Sonnen pulsierten und auch meine Adern beim Yoga, die vor kohlendioxidaufgeladenem Sauerstoff nur so strotzten, ihnen fehlte es an Eisen. Ich ging selten vor die Tür, weil ich nicht sterben wollte und deshalb war dieses quadratische Zimmer in seiner Enge alles, was mir noch an Weite blieb. Am Boden stand ein Glas Zitronenwasser gegen den Durst, selbst das pulsierte, wenn ich Yoga machte. Sobald ich Figuren nachstellte, tanzten die Fruchtfleischstücke. Ich stellte meinen Fuß aufs Fenstersims, um beim Nachdenken nachzudehnen, sah dabei in den grauen Schacht des Innenhofs. Die Stadt war in letzter Zeit recht eng geworden und zwang mich dazu, stundenlang Yoga zu machen, um mich zu entfalten oder zu beruhigen oder weiß Gott was. Alles hatte doch einen Zweck und nirgendwo rauchten Schornsteine in normaler Geschwindigkeit. Meine Brust hob und senkte sich, während ich mich an den Facetten des Graus erfreute, selbst irgendwie gern grau werden würde, ein kühlschrankkühles Grau wie damals, in jenem Winter vor 10 Jahren, als ich in einer heute unvorstellbaren Kälte zu Hilals Wohnung marschiert war, messerscharf kalt war es gewesen. In der Hand hatte ich ein durchsichtiges Einhandmesser, einen Gertel, ein Katana, gegen den Frost getragen. Meine Oma hatte Angst vor den Männern mit den Messern. Ich selbst war noch nie auf offener Straße ermordet worden und hatte auch niemanden getötet, aber man musste aufpassen. An jenem Abend war Silvester, ich liebte Silvester, der Himmel zersprang. In Hilals Küche sah ich einer namenlosen, unentwegt rauchenden Frau dabei zu, wie sie lebendigen Lachs und totes Safrangemüse kochte, Kirschtomaten wusch, Pastinaken in Streifen schnitt oder das schimmernde Öl in hohem Strahl in die Pfanne leerte, es war so beruhigend, und ich erinnerte mich an die Dächer der Oberndorfer Häuser, an die gemütlich dahinrauchenden Schornsteine der F-X-Gruberstraße und an die staubigen Tennisplätze, die ich so vermisste, so, so sehr. Später gingen wir zu einer Party in einem baufälligen Haus, wo sich 200 Teenager aufhielten. Eine unter ihnen riss alle Blicke auf sich, weil sie ein lila-oranges Bauchtänzerinnenkostüm trug, bei dem Handgelenke und Achseln mit Schleiern verbunden waren. Sie hörte nicht mehr auf, Pirouetten quer durch den Raum zu drehen. Ballsaal, Hitze, Perlen im Haar, unglaublich. Hilal hielt mir eine Flasche Sekt hin, die ich vorhin schon zur Hälfte geleert hatte, und lallte: Auf 2035. Sie trank, verzog den Mund und meinte: Schmeckt nach Essig, aber weil ich schmeckt nach Acid verstand, fragte ich erschrocken, ob da, auf die Flasche deutend, Acid drinnen wäre, und sie so: Ja klar, weil sie wieder Sekt verstand. So drehte sich alles im Kreis, in Ellipsen, in Ypsilons, hoch und nieder, eine Loopingbahn, die in den Himmel und zur Hölle führte. Panisch wartete ich darauf, dass sich halluzinogene Batiktuchmuster in mein Sehfeld schieben würden, und dehnte dabei im Eck meine Wadenmuskulatur. Ich balancierte meinen Kopf wie eine goldene Kugel auf einem Wasserstrahl, inhale, exhale, breitete meine Arme wie ein Adler aus. Beim Dehnen gegen die Angst verwandelte sich meine Hose in eine dehnbare Elasthan-Leggings eines chinesischen Versands, mit der man alles schaffte, sogar den Spagat, mit der alles Sinn ergab. Zu dieser Zeit hatte ich ständig zwanghaft das Gefühl, irgendjemand würde mir Drogen einflößen. Vielleicht waren die Medien daran schuld oder alle Kläranlangen dieser Welt, die mir Sorgen einschwämmten. Wenn ich Angst hatte, fesselte mich etwas Abstraktes, das wie ein Oktopus aussah, an einen Stuhl und ich konnte meine Gedanken nicht mehr bewegen. Da waren nur mehr schwarze Silhouetten mit langen Beinen und großen Taschen, welche geschäftig von links nach rechts eilten und bei den 200 Teenagern in baufälligen Häusern anklopften, klopf, klopf. Die Teenager spähten durch den Spion, sagten: Kommt herein, und schluckten gierig Tabletten von Tabletts, die ihnen hingehalten wurden, während ihre Augen silbern zu schimmern begannen, fast als wären sie Werwölfe. Obwohl das neue Jahr noch frisch und unverbraucht war, ja, geradeso dazu einlud, neu anzufangen, machte niemand außer mir in diesem riesigen Raum Yoga. Niemand außer mir musste Yoga machen, um das bewegte Leben zu ertragen, das erschöpfend schnell zirkulierende Leben, das stets in schwarze Löcher führte. Daran dachte ich also, während ich so langsam zurückkehrte in die wahre Welt, mit den wahren Badezimmerfliesen vor meinem Gesicht, in deren Fugen kleine Schlangen lebten, ihr könnt es glauben oder nicht.

Oje, ich war auf den Badezimmerboden geknallt. Das kam vor. Passierte den Besten. Immer, wenn ich viel arbeitete, wenn viel los war, wenn sich die Welt zu viel bewegte, wenn ich zu viel über das Brennende oder Flüssige, generell das Sichbewegende in meinem Leben nachdachte, verlor ich meine Orientierung, meinen Kreislauf, mein Bewusstsein und knallte halt mal wieder so richtig auf den Boden, nicht schlimm. Blut tropfte von meiner Stirn. Die Schlangen rissen ihre Mäuler auf, um was abzukriegen. Nur ein Cut, dachte ich, oder zwei oder drei. Die Cuts zogen sich wie Reißverschlüsse auf, mein Hirninhalt stob in alle sieben Himmelsrichtungen davon. Ärzt:innen konnten so was säuberlich mit speziellen Fäden nähen, hoch und nieder, hoch und nieder, das wusste ich, da brauchte ich mir eigentlich keine Sorgen zu machen. Ich stand wackelig auf und blutete einen See herab. Die Schlangen sprangen vor Freude wild herum, sie waren wie Kinder. Die ganze Zeit über drehte sich schon die Waschmaschine und schickte Mikroplastik in die Leitungen. Alles war wie immer. Immer. Immer. Am Ende des Lebens oder des Tages machten alle noch einmal Yoga. An das musste ich mich erinnern, während ich über die blutende Beule auf meiner Schläfe strich, über eine dieser gigantischen Beulen meiner Gedanken. Nicht jede Haut konnte, was Elasthan konnte, wisst ihr. Nicht jede Haut war so gut und leistungsfähig wie Elasthan, um genau zu sein keine Haut. Durch das wahre, gute Elasthan musste sich nie mehr wieder irgendetwas zu eng anfühlen.

Ich war also verletzt, mein Hirn aufgeplatzt. Ich musste einen Arzt finden, der mich reparierte, hatte aber keine Versicherung, weil ich all mein Geld für Mieten ausgab. Was machte man, wenn man nicht mehr weiterwusste? Richtig, man ging joggen, man lief davon. Mit Bewegung gegen die Bewegung arbeiten, yes, Baby. Das Leben musste sich dehnen und strecken wie ein Plastiksack. Wenn die Tage lang und dünn wurden, wenn sie sich in die Vertikale dehnten wie ein Plastiksack, in den jemand mehrere giftige Orangen gefüllt hatte und saure Zitronen und Sprite Zero und Proteinriegel, eben alles, was so zum Leben dazugehörte, dann, ja, genau, dann war dieses Dehnen des Plastiksacks das Elasthan der Tage. Bis 100 Jahre vergangen und der Sack verrottet wäre, würde dort ein Biotop wachsen. Durch die Kelchgrube der Zitruspflanzen schössen blaugrüne Zweige. Ornamente formten sich aus, rankten sich hoch, irgendeine Macht knetete alles so lang, bis ein flammender Ball entstünde, ein Feuerwerk, und nach 100 Jahren verschwände alles im Weltall wie ein Fussel im Staubsauger. Plopp. Joggen, ich ging also mit dem Gesicht voller Blut raus, um zu joggen und joggte nach Colombo. Eins kann ich sagen: Ich war ziemlich schnell. 5:16 Pace, 11,39 Kilometer die Stunde. Das Arsenal, an dem ich vorbei musste, bestand aus kilometerlangen Gebäuden, in deren Fenstern sich die Sonne spiegelte. Die Kieswege knirschten und kurz vor Colombo tauchte am Horizont ein süßer Teich mit Fischen auf. Wo früher Waffen gegen Volksaufstände aufbewahrt wurden, war heute ein verlassener Tennisplatz, der nicht mehr staubte. Beim Joggen produzierte ich immer schöne, große Schweißperlen auf der Stirn, die mir irgendwann heruntertropften, ein Elixier.

Beim Arsenalteich mit den Goldfischen angekommen, konnte ich dann nicht mehr. Ich fiel ins Gras, als wäre es eine Wolke, das Gras war heiß. Meine Lungenflügel flatterten, alle Alveolen in mir schlugen schaumige Blasen. Inhale, exhale. Im Liegen dehnte ich die Waden, einmal hoch, einmal rüber, einmal seitlich. Knacks. Mein Bein war abgebrochen. Ich hielt es fassungslos in meiner linken Hand. Eine Taube setzte sich auf meine Nasenspitze und begann zu picken. Ich drehte mich auf die Seite und schaute den Fischen im Teich zu. Es waren Schleierschwanzgoldfische. Sie trugen ihre Zierflossen wie Accessoires, ich beneidete sie um ihre intakten Extremitäten. Die Schleier bewegten sich sinnlos um ihre glatten, orangen Körper. Sanft und beruhigend waren ihre Bewegungen, oh Gott, herrlich. Schling, schlung machte das, ein edles Geräusch, wie Champagner, der aus einem Meter Höhe in einen goldenen Pokal gegossen wurde. Fischlis Kiemen blähten sich auf und zu wie beim Seitenblättern in einem Buch, immer weiter, weiter, weiter, das Buch war schließlich rund, logisch. Alles war so logisch und schön und es erinnerte mich daran, wie die Eltern meines Exfreundes einmal von ihrem Badeteich erzählt hatten, in dem nach 20 Jahren plötzlich aus dem Nichts kleine Fische schwammen, Fische mit weißen Punkten, was für ein Wunder, nicht? Nur leider waren sie krank. Wahrscheinlich hatten die Enten den Laich übers gespritzte Pestizidfeld angetragen, das Pestizidfeld des Nachbarn, und der Laich hatte dabei ein bisschen Gift abbekommen. Ich lachte so über die Geschichte und dachte, dass solche nichtigen Erlebnisse doch nicht spurlos an uns Menschen vorbeigingen, dass in den unwichtigen Details immer das Wesentlichste überhaupt steckte. Was für eine Erkenntnis! Ich haute auf den Tisch, prustete los, spuckte, stopfte mir während dem Lachen einen Keks vom Teller in den Mund. Der Vater meines Ex sah mich irritiert an und begann dann, als wäre nichts gewesen, über den Bruder seiner Frau zu reden, der, genau wie der Pestizidfeld-Nachbar auch Landwirt war, nur ein biologischer. Dieser biologische Bruder besaß eine biologische Glashaus-Tomatenplantage mit biologischen Traktoren samt biologischer Motoren, das Wort fiel 200-mal und sein Herz war aus Stahl. Dieser Bruder ließ sich Stecklinge aus Marokko und australische Hummeln in Boxen liefern, verkaufte dann das Gemüse an Rewe und Rewe drückte den Preis in besinnungslose Tiefen. Mein Exschwiegervater sagte: Dabei ist das Schlimme, dass die Menschen in den Metropolen allein drei Dinge vor dem großen Krebs retten: Bio, Yoga und gute Laune. Er nahm einen Schluck Wodka-Wellness, begann dann urplötzlich das Thema zu wechseln und von den Wolkenkriegen zwischen Indien und China zu erzählen, über die er immer nur redete, wenn er frustriert war und eigentlich Yoga machen sollte. Es ging darum, dass China seit längerem versuchte, Wolken mittels chemischer Substanzen umzulenken, um die ganze Region nördlich oder östlich oder westlich von Punjab auszutrocknen und dann die Wolke über dem eigenen Land abregnen zu lassen, jaja. Mein Ex murmelte: Das hast du doch schon so oft erzählt. Wir gähnten, gingen ins Zimmer und machten vor dem Schlafen noch ein wenig Yoga. Das war alles ein wenig viel für unsere armen Seelen. Solche schlechten Nachrichten vertrugen wir doch genauso wenig wie Fische die Pestizide vom Feld.

Mit meinem Bein in der Hand und einem blutenden Gesicht lag ich auf der heißen Wiese. Wie beruhigend es war, aufzugeben, nur mehr zu liegen und zu schmelzen. Ich hatte großes Heimweh und ließ mich in den Teich hineinrollen. Der Teich, mein Zuhause. Das Elasthan verband sich auf wundersame Weise mit den Bewegungen des Wassers. Ich wurde zu einem Tosakin mit einer immensen Schwanzflosse, die mich nachts zudeckte und wärmte. Kurz bevor ich im weichen Wasser vor Erschöpfung unterging, von der Last der ganzen Gedanken meines Lebens und der Welt, erinnerte ich mich aber nochmal und nochmal und nochmal daran und daran, also an alles. Schau dir das an, ein Feuerwerk in Blau, Rot, wow, wie schön. Das Fluid aus pyrotechnischen Darbietungen, unhaltbaren Lichtströmen, ließ mich nicht los, obwohl mir das doch alles zu viel war. Das Helle im Dunkeln. Die Last des bewegten Lebens, in dem ich mich so bewegt fühlte, drängte mich fort, die Schächte waren zu eng. Eigentlich wollte ich nur im Vrikshasana und Trikonasana stehen, ich wollte inhale und exhale denken, ein- und ausatmen, doch es gingen immer die Bilder los, wie das, wo Ecrin, Mery und ich im Morgengrauen in die Suhrheimer Erdbeerfelder eingebrochen waren, um im Kreuzgang der Kirche stehend geklaute Erdbeeren zu verspeisen. Unsere Körper fühlten sich bleiern an, die Früchte zwischen den Zähnen kalt. Da war Farez, der im Schneidersitz am Strand in Rio saß, sich einen zweistündigen Sonnenuntergang ansah, während er gleichzeitig auf seinem Handy Simpsons schaute, und Sand durch die Finger rieseln ließ. Die Erinnerung daran, wie ein Staubkorn aus der Sahara irgendein Ohr verstopfte. Wie Ali Christina Mösenbichlers Schuhsohle abgeschleckt hatte und deswegen zwei Bläschen an der Zunge bekam. Wie Dominik Reisinger einem Betrunkenen seine Matrosenmütze vom 1-Euro-Shop für 45 Euro verkaufte oder im Darknet einen 50-Euro-Schein für 5 Euro bestellte. Eigentlich wollte ich viele der Situationen, in denen alles so bewegt war, ungeschehen machen, weil Bewegendes manchmal so mächtig wurde, dass es schmerzte, ein durch die Nase rollender, kolossaler Schmerz. Ein Schmerz, wegen dem man nicht schlafen konnte, der meine Tränendrüsen zwang, Flüssigkeit zu erzeugen, die mir klebrig die Wangen hinunterlief. Ein Schmerz, der Heißhunger auslöste, nach Börek, dessen Teig zehnmal hintereinander mit Öl eingestrichen und langgezogen wurde. Eingestrichen und langgezogen. Sich aneinanderreihende Fotostrecken. Sich dehnendes Elasthan. Unstillbares Heimweh nach was auch immer.

Ich schloss die Augen. Hinter meinen Lidern fielen rote Theatervorhänge zu, die sich vor Abbildungen ägyptischer Hieroglyphen wieder öffneten. Es ergab keinen Sinn. Ich dachte an die konzentrischen Kreise des Universums, verdeutlicht durch ein Zitronenwasserglas, das ich durch meine Yogafiguren in Bewegung brachte. Das Dehnen, Strecken, Fließen des Universums. Wusch. Auch wenn Bewohner:innen der Île d’Oléron am Ende des Tages oder des Lebens durch einen Sturm alles verloren hätten, auch wenn die Teenager gierig Drogen schluckten, auch wenn die Oktopoden ausstarben, eins würde bleiben, nämlich, dass die Leggings sich straff über meine an Elastizität verlierende Haut spannte und geradeso das zusammenhielt, was sich danach sehnte, auseinanderzubrechen. Kobra, herabschauender Hund, Kriegerin. Einzelne Momente konnten sich riesig und gleichzeitig leer anfühlen, sie schwappten über mich wie Tsunamis. Es waren die Tage, an denen ich zu Silvester Sekt trank, an denen ich mit dem Longboard zur Kläranlage fuhr, an denen ich im heißen Zimmer Yoga machte, meine Fußspitzen in Richtung Sonne, Mond, Sterne streckte und die vollgeschwitzte Leggings in die Waschmaschine stopfte. Tage, an denen ich Elasthan bei 60 Grad wusch und an denen das Mikroplastik in die Kläranlagen, Teiche und Meere der Welt geschwemmt wurde. Zu den Huchen, die dort lebten.