Katrin Krause

Alles, was unter uns liegt


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Wo die Landkarte Falten wirft, liegt das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Im Süden wird es durch drei Baustellen begrenzt. Nach Norden hin beginnt ein dichter Wald, durch den seit Jahren wieder Wölfe stromern. Im Westen gibt es eine Bahnhofsbrücke und sonst nichts. Ein Junge von meiner Schule ist da runtergesprungen. Ich kannte ihn nicht gut, habe nur einmal mit ihm geredet, ihn nach einem Tintenkiller gefragt. Er hat zwei Nächte im Lehm gelegen, ehe er starb. Ich meide die Eisenbahnbrücken seitdem. Im Osten haben die Häuser Risse – unseres auch. Das liegt daran, dass hier alles auf Fels gebaut ist und die Erde unter unserem Dorf alle fünfzig Jahre so heftig wackelt, dass man sich erzählt, es habe sich einmal der Boden aufgetan und das Haus eines Nachbarn sei darin verschwunden. Einmal habe ich so ein Beben mitbekommen. Ich wachte sehr früh auf und mein Bett tanzte – gemeinsam mit allen anderen Möbeln – durch mein Kinderzimmer. Ich erinnere mich gerne daran.

Die Fassade unseres Hauses ist alt. Älter auf jeden Fall als fünfzig Jahre. Unter der Fensterbank sind Risse. Einer zieht sich von der ersten Etage bis auf den Boden. An ihm wird unser Haus wohl einmal zerbrechen. Die Madonnenfigur meiner Oma ist im Vorgarten zwischen den Brennnesseln verschwunden, vielleicht hat meine Mutter sie aber auch entsorgt. Aus dem Keller weht ein muffiger Geruch, und unser Weichspüler – Felce Azzurra – beißt mich. Meine Schulfreundinnen haben mir früher gesagt, dass es in unserem Haus komisch riecht. Ich habe nie gewusst, was sie meinten, mich aber geschämt. Habe dann einfach aufgehört, Schulfreundinnen zu mir nach Hause einzuladen. Habe aufgehört, Schulfreundinnen zu haben. Heute kann ich es selbst riechen. Während ich unseren Vorgarten ansehe, werde ich traurig. Kann nicht sagen, woher es kommt. Denke aber, dass eine etwas andere Anordnung des Vorgartens mein düsteres Gefühl abschwächen – vielleicht sogar ganz auflösen – könnte. Unsere Klingel knirscht beim Eindrücken.

Meine Mutter öffnet die Tür und schwingt die Arme. Gibt alles, was sie hat. Mir kommt das erst wie eine erzwungene und unnötige Geste vor. Aber ich schaue ihr in ihre Augen und verstehe, dass die Überschwänglichkeit für sie kein Theater ist. 

„Oh hallo, da bist du ja”, sagt sie, nimmt mich in den Arm und drückt mich fest.

Mein Rucksack stört. 

„Hallo Mama”, sage ich und halte sie. 

Sie ist kleiner als ich, ihre Haut weich und kaum mit Fleisch gefüllt. Sie fühlt sich beim Drücken an wie eine halbleere Capri-Sonne. Ich drücke zu fest und fühle Vogelknochen. Drücke also weniger, auch wenn mir gar nicht danach ist. Ich sehe sie an, meine Mutter, und folge ihr in die Küche. Kein Mensch hat sich je in so kurzer Zeit so schrecklich verändert wie sie in den letzten Jahren. Ihre Haut ist rau. Als hätte sie jemand fleißig über einen Klotz geschmirgelt und keine Stelle ausgelassen. Nicht die Wangen, nicht die weiche Haut an den Unterarmen. Einige der geschmirgelten Stellen fangen ohne Vorwarnung zu bluten an, besonders die Knöchel an den Händen, die sie ständig in die Dalli-Lauge hält. Rucke di guh, rucke di guh, Blut ist im Spülwasser, singen zwei Tauben auf dem Grabröschen vor dem Küchenfenster. Die Märchen der Gebrüder Grimm hat Mama mir als Kind am liebsten vorgelesen. 

Als eine Mutter den Stiefsohn enthauptete und ihn seinem Vater zum Eintopf kochte, war ihre Stimme ganz aufgeregt und ihre Augen glänzten. Ich erinnere mich gerne daran. Ich habe ihre Augen schon lange nicht mehr glänzen sehen. Auch ihre Haare nicht. Früher waren sie Herbstkastanie wie meine, heute Altweibersommer. Und einen Buckel hat sie bekommen, wie die Frauen in dem grauen Sammelband, dem sie so gedankenlos den Rücken gebrochen hat, als sie über mein Bett gebeugt unter der Dachschräge saß und Geschichten erzählte. Von Hexen und namenlosen Wäscherinnen. Heute fällt der graue Sammelband auseinander. Ob ich Bohnensuppe will, fragt meine Mutter. Ihre Augen sind immer gleichzeitig auf mir, dem Herd und dem Riss, der sich von der Küche über das Treppenhaus in die obere und untere Etage verästelt. „Ja“, sage ich und meine Mutter schaut an mir vorbei, als würde sie noch einen weiteren Gast erwarten. „Ich bin hier“, sage ich. Sie hört mich aber nicht. 
Ich nehme meinen Rucksack und folge dem Riss ins obere Stockwerk. Unser Flur ist ein Ort für Gespenster. Wind pustet durch die Spalte in der Wand und bläst mir Moder und Mäusenest ins Gesicht. Die Stufen knarzen, mittlerweile sind es fast alle. Auf der obersten heult ein Geist. Er ist am Treppengeländer festgebunden wie ein Kirmesballon. Er ruft um Hilfe. Ich kenne ihn gut, begrüße ihn freundlich. Er neigt den Kopf.

 

In meinem alten Kinderzimmer lege ich den Rucksack ab. Alle Möbel berühren sich, tanzen Ringelreihe. Ein rothaariger Junge schaut mich aus einem aufgeschlagenen Katalog an. Auf der Fensterbank liegen drei tote Fliegen. Es riecht nach Buntstiftschubladen, alten Waschlappen und Borotalco. Meine Mutter hat Sachen aussortiert: die Stofftiere Flüsterkopf und Fauchelknochen, meine Schulbücher und Hefte. Eine blonde Meerjungfrau ist auf dem Umschlag eines Mathehefts. Ich habe sie mit einem Pfeil versehen. „Jenny“ steht dran. In Jenny vom Pferdehof war ich lange verliebt. Nach der Schule habe ich sie jeden Tag nach Hause gebracht. Dabei war ihr Nachhauseweg viel länger als meiner. Das hat mir nicht viel ausgemacht. Meiner Mutter schon. Sie hat geschimpft. Hat gesagt, ich solle mich auf die Schule konzentrieren. Dass Mädchen wie Jenny nicht sitzenbleiben würden, Mädchen wie ich aber schon. Ich habe das nicht verstanden. Ich glaube, ich bin in meinem Leben nie lieber zur Schule gegangen als in dem Jahr, in dem ich neben Jenny saß. Nach den Sommerferien kam Jenny nicht mehr zurück. Ihre Pferde waren an einer Seuche zugrunde gegangen. Noch atmend hat ihr Fleisch zu faulen begonnen. Wir haben in der Zeitung davon gelesen. Nachdem Jennys Eltern die kranken Pferde erschossen und den Hof verkauft hatten, zogen sie weg und ich wurde trübsinnig. Erwachsene lächelten mild und erklärten mir, so sei sie, die Pubertät. Aber ich glaube, dass mich Schlimmeres befallen hatte. 

 

Nach der Schule zog ich die Vorhänge zu und legte mich ins Bett. Stand nur auf, wenn Mama mich zwang, wollte ein Vampir sein. Meine Noten wurden schlechter und meine Mutter zornig. Sie geriet damals so leicht in Rage. Ich träumte, sie würde mich enthaupten und meinem Vater als Eintopf servieren. Ich träumte, sie wäre neidisch auf mich und würde mich in einen Käfig aus Vogelknochen stecken, mich mit weißen Bohnen mästen und essen, meine dicken Ärmchen zuerst. Um selbst noch einmal jung zu sein und ohne Kind ein Literaturstudium zu beenden. Undankbar nannte sie mich und warf Bücher nach mir, wenn ich schlechte Noten hatte – und die hatte ich oft. Sie riss Seiten aus meinen Heften und schrie: „Sauklaue, neu machen!“ Brüllte mich an, jeden Tag. Dass ich – wie sie – in der Fabrik arbeiten müsse, oder bei McDonald’s Burger einpacken. Als Kind hat sich mir der Horror dieser Arbeiten nicht erschlossen. Es gab damals nichts Schöneres für mich als den Geruch aus dem Happy Meal. Als ich das sagte, ohrfeigte sie mich so fest, dass ich meinte, fünfzig Jahre wären vergangen und der Boden unter unserem Haus würde schon wieder beben. 

 

Neben meinen Schulheften liegen Betablocker, ein Rosenkranz, Felce Azzurra-Duschgel, Erwachsenenwindeln und das alte Tagebuch meiner Oma. Ich fahre über die Riffeln der Duschgelverpackung – das habe ich immer getan. Ich blättere in dem Tagebuch – das habe ich noch nie getan. Das Tagebuch ist noch nicht vollgeschrieben. Der letzte Eintrag ist alt: „Es ist 33.33 Uhr und ich bin aus einem schrecklichen Albtraum erwacht…“, steht da und nichts weiter. Aber ich weiß, wie der schreckliche Albtraum angefangen hat. Ich kenne ihn auswendig. 

 

Im Sommer, in dem ich 18 wurde, ist meine Oma die Kellertreppe runtergefallen. Ich habe sie gefunden, weil ich ihr eine Flasche Sekt stehlen wollte. Sie schrie wie eine Hyäne und ihre Gliedmaßen waren merkwürdig verdreht. Als hätte jemand die Fäden abgeschnitten von dem Spielkreuz, an dem sie geführt worden war. Auf der Treppe und an ihrem Kopf klebte schwarzes Blut. Ich zögerte. Wie eine Fremde kam sie mir vor, die Frau, in deren Armen ich so oft eingeschlafen war, während sie mir Gruselgeschichten vorgelesen hatte. Ich nahm sie auf den Arm, versuchte sie die Treppe hinaufzutragen. Sie fluchte und kratzte und biss mich fest in den Hals wie eine blutrünstige Vampirin. Da schrie ich vor Schmerz und erkannte sie wieder, meine widerspenstige Blutgräfin.

 

Im Krankenhaus schrie sie. Schrie etwas, das mit Krieg zu tun hatte. Vergaß die deutsche Sprache, belegte mich mit einem italienischen Blutfluch und wünschte sich, mir – Tochter einer Hure – würde im Schlaf die Zunge brechen. Den Ärzten sagte sie, ich sei Landstreicherin, hätte sie entführt, um das einzig Wertvolle zu stehlen, das sie noch besitze. Die jungen Ärzte lächelten so mild, ich bereitete mich darauf vor, dass sie mir sagen würden, so sei sie nun einmal, die Pubertät. Ich hätte sie am liebsten geohrfeigt. So fest geohrfeigt, dass sie mich mit einem Erdbeben verwechselt hätten. Ich wusste, dass meine Oma etwas Düstereres befallen hatte. 

 

Als ein Arzt ins Untersuchungszimmer kam, begann meine Oma sich auszuziehen – ganz. Ihre Unterhose warf sie ihm ins Gesicht. Nackt lief sie durchs Untersuchungszimmer, kreischte und tanzte um den Behandlungsstuhl wie um den Blocksberg. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich die Pobacken meiner Oma, dieser stolzen Frau, dieser hart arbeitenden Frau gesehen. Eine Hauthülle, ganz leer, die sich um die Knochen legt. Das bleibt also übrig, dachte ich und war erschrocken. 

 

Sie blieb eine Weile im Krankenhaus. In ihr eigenes Haus kehrte sie nie zurück und der Albtraum, in den sie gefallen war, hörte nicht auf. Als meine Oma zu uns zog, wurde sie von einem nächtlichen Spuk heimgesucht. Immer wenn es dämmerte, legte sie sich auf den Rücken, ihre Zähne aufs Kopfkissen und schrie. So ausdauernd, dass ich schon nach wenigen Tagen Melodien im Kopf hatte, die geblieben sind. Ich weiß, ich bin nicht die Einzige, die sie kennt. György Ligeti, Lux aeterna. Claude Vivier, Zipangu. Arvo Pärt, Ludus und Silentium. Um elf Uhr gab es immer ein Crescendo, dann Pause. Vielleicht schlief meine Oma dann, vielleicht sprach sie mit Geistern. (Sie sprach lieber mit ihnen als mit uns.) Wer weiß, was sie ihr erzählten. Ich will nicht daran denken, mir wird sonst kalt. Jede Nacht um 3.33 Uhr folgte ein großer Auftritt: Sie stellte sie sich ins Treppenhaus, auf die oberste Stufe, hielt sich wie eine Opernsängerin mit einem Arm gut am Geländer fest, atmete viel Luft in ihren Vogelknochenbrustkorb und schrie um Hilfe. Sie schrie, dass es durch Mark und Bein ging. Meine Mutter, mein Vater und ich lagen einzeln im Dunkeln und weinten still.

 

Im Hellen sammelte meine Oma Kataloge. Otto, Quelle, Witt Weiden. Meine Mutter bestellte die Kataloge im Internet, immer zwei- oder dreimal dieselbe Ausgabe. Mit einer Kinderschere schnitt Oma Familien aus – und rothaarige Jungs im Alter zwischen fünf und siebzehn. Sie klebte die glänzenden und glücklichen Leute an die Tapete in meinem Kinderzimmer. Nur den Riss ließ sie frei. Ich habe sie einmal gefragt, wer die Menschen sind. Sie sagte, das sei ihre Familie. Ich kannte die Leute nicht. Erinnerungen an diese Familie schrieb sie bald auch in ihr Tagebuch. Dadurch wurde sie ruhiger. Sie schrie weniger. Sie schrieb stattdessen: „Es ist 33.33 Uhr und ich bin aus einem schrecklichen Albtraum erwacht…“

 

Ich folge dem Riss die Stufen hinab. Der Geist ist verstummt und treibt bloß noch im Luftzug, der durch den Riss weht. Im Treppenhaus steht ein schwerer Nachmittagsnebel. Süßlich und feucht, als hätte jemand darin geschlafen. Auch mich überfällt eine Müdigkeit auf den dreiunddreißig Stufen, die in unseren Keller führen. Im Erdgeschoss muss ich eine kurze Pause machen. Als ich noch hier wohnte, ging es mir immer so. Alles, was ich erledigen musste, erledigte ich durch dichten Nebel. Wir alle taten das. Wir renovierten ein Haus, schliefen nicht, arbeiteten, fütterten, wurden krank, immer wieder krank, arbeiteten, lernten, schliefen nicht, wuschen, arbeiteten, schmierten Brote, stritten, spülten, schliefen nicht, arbeiteten, trafen keine Freunde mehr, sortierten Medikamente, hielten eine Hand, brachten Müll raus, schliefen nicht, arbeiteten, wechselten Windeln, schrien uns an, weinten wieder im Dunkeln und entsorgten ein ganzes Leben im Nebel auf der Straße.

 

Das Zimmer meines Vaters ist im Keller. Die Tür ist angelehnt. Eine ganze Weile stehe ich davor. Schiebe sie dann vorsichtig auf. Sie jammert und ich denke an die Hörspiel-Kassetten von Geisterjäger John Sinclair, die mein Vater mir jedes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat, um sie heimlich selbst zu hören. Papa sitzt in einem ausladenden schwarzen Ledersessel mit Schwingen wie ein dicker Graf Dracula. Die Luft ist halb Gruft, halb Hundeschnauze. Seine Haut ist wächsern. Die Waden dunkelblau, violett, fast schwarz. Die geschwollenen Füße kann ich in den Hausschlappen nicht sehen. Ich schaue ihn eine Weile sehr genau an, um sicherzugehen, dass er nur schläft und nicht tot ist. Das habe ich mir angewöhnt. 

 

Als meine Oma zu uns kam, hat sich mein Vater in den Keller zurückgezogen. Es ist nicht so, dass ihm das etwas ausgemacht hätte. Papa findet sich mit allem zurecht. Haus und Tageslicht überlässt er den anderen und tritt in den Schatten zurück. Das ist immer schon so gewesen. Als er sich in meine Mutter verliebt hat, lebte er im Keller seiner Eltern. Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, nahm er eine Ausbildungsstelle im Untergeschoss eines Anderen an. Dort arbeitet er noch immer. Der Keller, in dem er arbeitet, liegt mitten im Industriegebiet. Papa steht morgens in einemn Keller auf, setzt sich ins Auto und fährt in den anderen. Immer muss er sich beeilen, immer ist er pünktlich gewesen. Auf Papa kann man sich verlassen. In dem Industriegebiet gibt es drei Fast Food Restaurants. Mein Vater hat sie täglich abgewechselt. Krank geworden ist er trotzdem. Kann sich kaum noch bewegen. Schon gar nicht die Treppe rauf. Meine Mutter sagt manchmal – wenn der Wahnsinn sie überfällt – dass er fett geworden ist, und alt. Mein Vater schaut dann traurig auf den Boden und sagt nichts. Schwankt durch dichten Nebel zurück in den Keller. Eines Tages wird er hier höflich sterben. Kein Geschrei, kein Arzt, keine Umstände. Für eine Weile wird es keiner wissen. 

 

Im Regal steht ein Foto von ihm. München, 1976. Als Junge trug er seine seidig schwarzen Haare lang. War in einer Theatergruppe damals. Trägt einen bunten Cord-Anzug mit Schlaghose. Hat sich für Umweltschutz eingesetzt. Trägt eine Traumfängerkette. Lacht frech durch eine Zahnlücke. Daneben steht ein Bild von mir. Zuhause, 1996. Ich trage einen braunen Samtpullover mit Leoprint-Kragen und Reißverschluss. Wollte Künstlerin werden damals. An den Ohren zwei orange Federn. Habe mich für bedrohte Tierarten eingesetzt. Ich lache frech durch eine Zahnlücke. Ich schaue meine Beine an. Sie sind aufgedunsen und schimmern grün und mein Herz schlägt schnell. Mein Vater öffnet die Augen. Es sind die Augen eines zehnjährigen Traumfängers. Ich glaube, das Herz verräterisch schlagen zu hören, das meinem so ähnlich ist. „Hallo. Mama hat gekocht“, sage ich. „Hallo. Ich komm gleich hoch“, sagt er. Und wir beide hoffen, der jeweils andere möge nicht hören, dass man selbst ein Inneres hat. Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich bin eigentlich nicht so. Er doch auch nicht. 

 

In der Küche zerfallen die weißen Bohnen in der Suppe. Meine Mutter hat sie vergessen. Ich schalte den Herd aus und lasse das hellrosa Spülwasser ab. Vor dem Fenster kreischen die blutrünstigen Täubchen. „Heute nicht“, sage ich und sie verschwinden. 

 

In meinem Unterleib zieht einer die Fäden. Ich habe eine Blasenentzündung, gehe ins Bad. Auf der Toilette kneift es. Ein Schmerz zieht wie durch einen Strohhalm in mir hoch. Aber es tröpfelt nur. Es ist eine Unordnung in mir, als hätte jemand seine alten Möbel nicht auf die Straße, sondern in meinen Uterus gestellt. Die fleckige Matratze von oben, alte Quelle-Kataloge und den Staubsauger mit dem gerissenen Schlauch. Ich drücke meine Faust von außen gegen die Blase. Versuche sie auszuquetschen wie eine Pampelmuse. 

 

In unserer Dusche steht ein Plastikhocker mit Gummifüßen wie ein Dinosaurierskelett. Da hat Mama Oma draufgesetzt, wenn sie ins Bett gemacht hat. Das hat sie zum Schluss oft. Meine Mutter hat Oma ausgezogen. Sie wurde jedes Mal ruppiger. Irgendwann war sie so brutal, ich wollte nicht mehr hinschauen. Ich bin feiger und schwächer als meine Mutter. Manchmal, wenn meine Oma meinen Namen gerufen hat, habe ich mich versteckt wie vor einem Grusel. Ich schäme mich dafür. Ich schäme mich dafür, dass ich meine Mutter allein gelassen habe und für das, was an einem Nachmittag passiert ist, als ich aus der Schule kam. 

 

Unser Küchenfenster stand auf Kipp. Ich hörte das Geschrei schon von draußen. „Aua Aua. Du tust mir weh“, schrie meine Oma. Vor unserer Tür standen zwei Nachbarn zwischen den Grabröschen und gurrten aufgeregt. „Rucke di guh, rucke di guh, das sind Asoziale",  hat die Nachbarin mit der strengen Frisur gesagt. „Hallo“, habe ich gesagt und die Tür aufgeschlossen. Drinnen wurde meine Oma die Treppe raufgezogen. Von einer Frau mit einem schrecklichen Buckel. Ich konnte die irre Wut im Gesicht meiner Mutter sehen und bekam Angst. Im Flur hat es nach ausgehobenen Gräbern, abgestandener Bohnensuppe und uralter Muttermilch gerochen. Im Bad hat Mama Oma ausgezogen, wie eine Fünfjährige eine hässliche Puppe auszieht. Ich habe durch die Tür geschaut und die Rippen meines Brustkorbs wuchsen. Millimeter um Millimeter in meine Organe hinein. Sie stachen mich. Ob ich etwas hätte sagen sollen, statt nur auf die Pobacken meiner Oma zu schauen und auf die vernachlässigten Ellenbogen meiner Mutter.

 

„Mama, das ist alles deine Schuld. Du hast dich blödsinnig gesoffen“, schreit meine Mutter.

„Gar nicht wahr“, sagt Oma und sieht auf den Boden. 

Meine Mutter drückt die leere Hülle meiner Oma in die Dusche. 

„Aua Aua heiß, du tust mir weh“, schreit Oma. 

„Ja, du tust mir auch weh“, sagt Mama streng.

Dann fängt sie an zu weinen. 

„Ich kann nicht mehr, Mama“, sagt sie. 

„Ich kann doch nichts dazu“, sagt Oma und schrumpft unter dem Wasserstrahl.

„Ich weiß“, sagt Mama, stellt das Wasser ab und umarmt meine Oma in der Dusche. Oma umarmt nicht zurück, steht nur da und sieht sich im Spiegel an. Ich sehe nicht nur eine, sondern zwei ausgetrunkene Frauen und reibe meine Ellenbogen. Weine auf dem Flur leise mit.

 

Im Flur kommen mir meine Mutter und ein Schwall Felce Azzurra entgegen. „Suppe ist fertig, wir können essen“, sagt sie. Also binde ich den Geist vom Treppengeländer los, wickle die Schnur um meine Hand und ziehe ihn wie einen Kirmesballon hinter mir her ins Wohnzimmer. Ich setze mich aufs Sofa und der Geist windet sich in meinem Schoß wie ein liebes erschöpftes Tier. Das Gemüse in der Suppe ist so weich, dass es auf dem Löffel zerfällt. Mama erzählt von einer unheimlichen Begegnung bei der Arbeit. Mein Vater lacht wie ein Graf hinter einem Samtvorhang. Sagt dann, dass es vielleicht schon sehr bald wieder ein Erdbeben geben könnte und ich erinnere mich an das Letzte. Erinnere mich, wie ich nachts gemeinsam mit den Möbeln durchs Zimmer getanzt bin. Und wie mein Vater danach seinen Kopf durch den Türspalt gesteckt hat, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Und wie meine Mutter danach in mein Zimmer gekommen ist, mit der Märchensammlung. Weder sie noch ich haben uns daran gestört, dass das Bett in der Mitte des Zimmers stand und die anderen Möbel wie neugierige Zuschauer drumherum. Sie hat sich einfach zu mir gelegt und mir meine Lieblingsgeschichte vorgelesen. Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Ich erinnere mich gerne daran.