Katharina Kern

Hydra schläft


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Vor zwei Jahren radelte ich nach einem Arzttermin durch Berlin nach Hause. Es waren die ersten warmen Tage nach einem langen Winter und es schien, als seien alle Menschen der Stadt in die Parks, Restaurants und Cafés geströmt. Jede Treppenstufe, jede noch so kleine Rasenfläche wurde zum Verweilen genutzt. Die Menschen aßen Eis, lagen auf Decken herum, spielten Frisbee, hielten ihre Gesichter in die Sonne.
Ich schwitzte unverhältnismäßig stark, während ich an all diesen Menschen vorbeiradelte. Das war nichts Neues, das war seit über einem Jahr so. Ich zitterte außerdem dauerhaft, schlief kaum und verlor immer weiter Gewicht, Menschenmengen überforderten mich. Zu Hause würde ich mir ein lauwarmes Bad einlassen, mir später am Abend etwas zu essen machen, mein Bett frisch beziehen und schlafen gehen.
Angekommen in der Wohnung, fühlte ich mich erleichtert und gleichzeitig wie der einzige Mensch der Stadt, der nicht an der kollektiven Freude über die Rückkehr des Lichts und der Wärme teilnahm. Aber ich hätte die Isolation nicht der Krankheit zugeordnet, ich habe mir viel mehr eingeredet, dass mein Alleinsein selbst gewählt war.
Heute, zwei Jahre später, weiß ich, dass viele Menschen an den ersten warmen Tagen zu Hause sind. Verborgen hinter Wohnungstüren koordinieren sie ihre Erkrankungen, entwickeln Strategien, befolgen Abläufe und Medikamentenpläne. Sie halten es aus, dass sie dieses, nächstes oder übernächstes Jahr die ersten warmen Tage verpassen werden.
Im Jahr 2020 erschien der erste groß angelegte Report über chronische Erkrankungen in Deutschland.[1] Laut dessen Publikation gibt es für die Formulierung chronisch krank „keine einheitliche Definition, weder auf internationaler noch auf nationaler Ebene. Auch in der Wissenschaft wird der Begriff nicht einheitlich verwendet, Statistiken zu chronischen Krankheiten etwa berücksichtigen oft unterschiedliche Krankheits- oder Patientengruppen und sind deshalb nur schwer vergleichbar.“[2]
Allgemein könne man sagen: „Chronische Krankheiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie lange andauern“[3] und dass die Krankheit in der Regel nicht vollständig geheilt wird.

Vor zwei Jahren, an den ersten warmen Tagen nach einem langen Winter, kam ich gerade von meiner neuen Hausärztin. Es war der Tag einer meiner Diagnosen. Meine neue Hausärztin hatte mich gründlich untersucht, die Kompetenz meiner alten Hausärztin infrage gestellt und mich zu einer Fachärztin überwiesen. „Freuen Sie sich, es gibt Medikamente gegen Morbus Basedow! “, sagte sie und gab mir zum Abschied die Hand. Recht hatte sie damit, dass das Thiamazol, das ich kurz darauf zu nehmen begann, anschlug. Ich hörte auf zu zittern, nahm zu, schlief besser, mein Puls normalisierte sich genauso wie mein Wärmeempfinden, das war eine riesige Erleichterung.
Der Morbus Basedow ist jedoch eine chronische Autoimmunerkrankung der Schilddrüse, was bedeutet: Mit der richtigen Therapie schlummert die Erkrankung, ist in medizinischer Terminologie remittierend, verschwinden wird ein Morbus Basedow nie.

Die Youtuberin Silvi Carlsson veröffentlichte am 18.5.2025 ein Video über ihre eigene Schilddrüsenerkrankung, die seit mehreren Jahren bekannt, jedoch ebenfalls remittierend war.[4] Als sie starke Symptome bekam, führte sie ihr Unwohlsein zunächst nicht auf ihre chronische Erkrankung zurück. Nach einer groben Fehlbehandlung im Krankenhaus recherchierte sie mithilfe ihrer Blutwerte ihre Diagnose selbst. In den Kommentaren unter dem Video berichten andere Betroffene von Autoimmunerkrankungen, aber auch an ME/CFS Erkrankte, von Morbus Crohn oder Endometriose Betroffene von ähnlichen Erfahrungen im Gesundheitssystem. Die Kommentare sind von Empathie geprägt, neben Besserungswünschen fallen die vielen Nachrichten von ME/CFS-Betroffenen auf, die berührt davon sind, dass eine Nicht-Betroffene ME/CFS schlicht erwähnt.
Für mich fühlt es sich so an, als hätte sich mit dem Lesen all dieser Nachrichten das diffuse Einsamkeitsgefühl verringert, das ich an ersten und letzten warmen Tagen im Jahr spüre, an verpassten Geburtstagen oder an Wochenenden, wenn ich abends zu Hause bin, Serien schaue und lese, während meine Freunde in Bars sind oder tanzen gehen.
Laut des Reports zu chronischen Erkrankungen der Goethe-Universität Frankfurt fühlen sich 20,8 % der Frauen und 17,5 % der Männer zwischen 18 und 29 Jahren in Deutschland von chronischen Erkrankungen betroffen.[5]
Ich stelle mir vor, wie jeder fünfte Mensch unter 30 an den ersten warmen Tagen in der Wohnung sitzt und sich so allein fühlt wie ich.

Um mit und nicht gegen eine chronische Erkrankung zu leben, muss man sich eingestehen, dass man chronisch krank ist. Ich habe mich selbst lange nicht als chronisch krank gesehen, obwohl ich oft solche Schmerzen hatte, dass ich das Haus nicht verließ. Ich bezeichnete mich selbst als gesund und mein Anspruch an mich war dementsprechend der Anspruch an eine Gesunde – also an jemanden, der körperlich, geistig und sozial in einem „vollständigen Zustand“ ist.[6]
Wenn mehrere chronische Erkrankungen vorliegen, spricht man von Multimorbidität. Meine chronischen Erkrankungen – Migräne, Endometriose, Autoimmunerkrankung der Schilddrüse – bedingen sich eventuell gegenseitig, es sind jedoch alles Erkrankungen, von denen hauptsächlich Frauen bzw. Menschen mit Gebärmutter betroffen sind, weswegen es wenig Forschung, wenig Daten, kaum Interpretationen hinsichtlich der Zusammenhänge gibt.

Habe ich Schmerzen, bleibe ich zu Hause und ziehe mich zurück. Schlafe ich wenig, bin ich weniger fit am nächsten Tag und schaffe nur das Nötigste. Die Krankheiten, die in den letzten Jahren zu mir gekommen sind, mal zeitgleich, mal nacheinander, mal in starker, mal in schwacher Form, alle diese Krankheiten bedingen meinen Zustand, der mal besser, mal schlechter ist.
„Um das Ausmaß von gesundheitlichen Einschränkungen möglichst exakt zu erfassen, entwickelte die WHO die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF). Grundlage dieses Schemas ist ein „bio-psycho-soziales Modell, das sowohl körperliche als auch psychische und soziale Faktoren berücksichtigt. “[7], heißt es im Report über chronische Erkrankungen. Dabei wird auch berücksichtigt, ob die Person Aktivitäten durchführen oder an Situationen teilnehmen kann.

Ich habe mich mehr als einmal gefragt, ob ich krank genug bin, einen Text über chronische Erkrankungen aus der Betroffenenperspektive zu schreiben. Es ist nicht verwunderlich und trotzdem sonderbar, dass selbst Erkrankungen im kapitalistischen System in Konkurrenz zueinander stehen. Chronische Erkrankung ist selbstverständlich nicht gleich chronische Erkrankung, sie sind so vielfältig wie die Menschen, die von ihnen betroffen sind. Sie variieren in ihrer Ausprägung, in der Häufigkeit und Stärke der auftretenden Symptome.
Meine Erkrankungen sind moderat, sie beeinträchtigen mich, aber ich kann meinen Alltag selbstständig bestreiten und habe eine weitestgehend hohe Lebensqualität. Mein Leben unterscheidet sich von dem eines gesunden Menschen, aber es unterscheidet sich viel stärker von einem Menschen mit ME/CFS, der auf der Bell-Skala bei 50 liegt.[8] Es ist wichtig, das zu benennen, es ist aber auch wichtig, sich klarzumachen, dass Erkrankungen eben nicht miteinander konkurrieren. Austausch, Solidarität und gegenseitige Fürsorge sind gerade unter chronisch Erkrankten, die ein Gespür dafür haben, was die Vulnerabilität unter einer lang anhaltenden Erkrankung bedeutet, von immenser Bedeutung.

Als ich vor zwei Jahren anfing, diesen Text zu schreiben, nannte ich meinen Zustand intuitiv Hydra. Ich war erstaunt, als ich feststellte, dass Magdalena Herrmann, ebenfalls von Endometriose betroffen, ihre Erkrankung in ihrem Buch mit der mythischen Figur der Hydra darstellt: „Wie bereits erwähnt, kann man die Hydra nicht zerstören. Mit jedem Akt der Rebellion gegen den eigenen Körper schlagen wir ihr einen Kopf ab, doch zwei neue wachsen nach. “[9]
Nahm ich die Pille, wurde meine Migräne stärker, setzte ich die Pille ab, wurde ich ängstlicher und hatte extreme Schmerzen während meiner Periode. Die Schlafstörungen, die ich unter dem aktiven Morbus Basedow entwickelt hatte, waren in abgemilderter Form geblieben.
Selbst Herakles, der Mann, der die Hydra besiegt, stirbt letztendlich durch sie: „Zuletzt brachte ihm bekanntlich das mit dem Blute des Nessos gemischte Gift der Hydra den Tod.“[10]
Chronische Erkrankungen bleiben. Sie sind selbst in Fällen privilegierter Lebensumstände wie stillgelegte Endometrioseherde – jederzeit bereit, wieder auszubrechen.
Ich bin also dazu übergegangen, Hydra nicht zu bekämpfen, sondern zu besänftigen. Ich versuche sie Stück für Stück zum Schlafen zu bringen.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir alle im Laufe unseres Lebens krank werden, und wenn wir nicht krank werden, werden wir alt, und spätestens dann werden wir wahrscheinlich krank.
Ich stelle mir manchmal vor, welche Krankheiten noch zu mir kommen werden: Blasenkrebs, Parkinson, Diabetes, Bluthochdruck, Depression, Arthrose, Alzheimer. Je länger ich krank bin, desto seltsamer kommt es mir vor, dass man vom gesunden Körper als Norm ausgeht, nicht von der Fragilität und Anfälligkeit, die den Körper viel eher ausmacht. Auch bin ich lange der neoliberalen Doktrin aufgesessen, es wäre möglich, jenen fragilen Körper vor Krankheit zu schützen, wenn ich mich nur genug anstrengte. Sicher, man kann auf seine Gesundheit achten, aber krank werden kann man trotzdem. Sogenannte unsichtbare Krankheiten wie Migräne oder ME/CFS werden vielleicht weniger ernst genommen als Krankheiten, die sichtbar sind, weil die Verlockung groß ist, Vulnerabilität dort zu vernichten, wo man sie Betroffenen absprechen kann.
„Um in der Sorge um andere nicht selbst schwach zu werden, muss man sich möglichst brutal von ihnen abgrenzen “, schreibt Theresia Enzensberger, „die Angst davor gleicht einer blinden Todesangst, denn in der Anerkennung der Verletzlichkeit anderer steckt die Anerkennung der eigenen Sterblichkeit. “[11]

Für ihre Krankheiten interessieren sich gezwungenermaßen hauptsächlich die Erkrankten selbst, für den Schlaf interessieren sich die Schlaflosen, für Behinderung die, die behindert sind und behindert werden, für Verlust diejenigen, die einen erlitten haben, für Armut die, die kein Geld haben, für Einsamkeit die, die einsam sind.
Geschichten über Schwäche, Krankheit und Vulnerabilität sind meistens Geschichten über Verluste – und werden in der Moderne, die von Fortschrittsgedanken geprägt ist, ausgeklammert. „Die individuellen und kollektiven Verlusterfahrungen, die sich inmitten der Modernisierung – oder trotz dieser – ausbilden, bleiben in der Fortschrittsperspektive hingegen eine Leerstelle.“[12]
Diese Leerstelle, sich mit Verlusten jeglicher Art auseinanderzusetzen, birgt eine große Chance, wenn wir endlich damit beginnen.

„Da stehen wir also. “, schreibt Eva von Redecker: „Der Meeresspiegel steigt, Wälder brennen, die Luft ist verschmutzt, Boden verödet. “[13]
Da stehen wir also. Jegliche Vulnerabilität ausklammernd, jeden Verlust negierend, jedes Anzeichen von Schwäche ausgemerzt, blicken wir auf unseren Planeten wie auf unser Ebenbild:
„Die Erschöpfung von Ökosystemen führt auch zu Überhitzung, Vergiftung und Wucherung. Erschöpfung verlangsamt nämlich nicht nur, sie ebnet auch den Weg für viel zu schnelle Dynamiken. Jeder dritte Europäerin erhält inzwischen eine Krebsdiagnose. Viren profitieren von durch Stress geschwächten Immunsystemen, besonders wenn sie durch den Zusammenbruch von Ökosystemen ihre tierischen Wirte verlieren und beginnen, auf Menschen zu mutieren. “[14]

Ich beginne den steigenden Meeresspiegel, die brennenden Wälder, die verschmutzte Luft als chronischen Zustand zu begreifen. Ich denke über den Klimawandel nach wie über meine multimorbiditären Erkrankungen.
Der Klimawandel ist in diesem Fall eine Krankheit, für die es noch keine Heilung gibt, die voraussichtlich ein Leben lang anhält, sodass ich ihn anerkennen und akzeptieren muss. Wenn ich den Klimawandel also anerkenne, statt die Berechenbarkeit dieses Prozesses zu bekämpfen – ist es dann möglich, Strategien zu entwickeln, mit dem Klimawandel zu leben? Ihn gar zu besänftigen, ihn zur Ruhe zu bringen?

Ich schreibe hier Klimawandel und nicht Klimakrise, weil eine Krise eher auf ein Momentum, eine Akutsituation schließen lässt. Chronische Erkrankungen sind, wie der Klimawandel, jedoch eine prozesshafte Aneinanderreihung vieler Akutsituationen. Vielleicht sollten wir beginnen, von den Klimakrisen statt von der Klimakrise oder dem Klimawandel zu sprechen.

Angesichts des Protests der letzten Jahre für Maßnahmen gegen die Klimakrisen mag die Vorstellung, die Klimakrisen zu besänftigen, absurd klingen. Es geht mir aber nicht um die Klimakrisen als Tatsache, mehr um den Umgang mit ihnen, um die Zustände, auf die wir zusteuern. Die großen Proteste sind vorbei, die CDU stellt den Kanzler und der betrachtet die Klimakrisen offenbar als Randthema[15].
Wie bei Hydra als chronischem Zustand geht es darum, die Bedingungen, unter denen die Klimakrisen stattfinden, abzuschätzen. Es geht darum, zu sagen: Wir werden Geburtstage verpassen, wir werden Extremwetter erleben, in besonders heißen Sommern werden uns die Kühlräume ausgehen und wir werden nicht wissen, wo wir unsere Toten lagern sollen, der Starkregen wird unsere Keller fluten, ein, zwei oder dreimal im Jahr. Wir werden zeitweilig verzweifelt und erschöpft sein und damit werden wir leben müssen, so wie Menschen in Regionen, die heute schon stark von Klimakrisen betroffen sind, damit leben. 

Das bedeutet nicht, dass wir damit aufhören werden, nach Auswegen aus diesem Zustand zu suchen. Ein wesentlicher Teil der Besänftigung einer chronischen Erkrankung besteht darin, sich mit ihr zu beschäftigen. Chronisch Kranke lesen Bücher über ihre Erkrankung, sie folgen Social-Media-Kanälen, die über ihre Erkrankung aufklären, sie recherchieren Fachärzt*innen, sie gründen Selbsthilfegruppen, organisieren Demos, schreiben selber Bücher, vernetzen sich, klären auf, sie schaffen Räume des Austauschs, der Solidarität, der gegenseitigen Stärkung und des Trosts. Auch wenn ein Teil des Umgangs mit der Erkrankung darin besteht, sich mit ihrer Dauerhaftigkeit zu beschäftigen, geht es auch um Besserung in Form von Linderung der Symptome oder Verbesserung der Lebensqualität.

Die Frage nach der Heilung ist eine diffuse. So viele Studien müssen noch durchgeführt und interpretiert werden, so viel Wissen generiert, so viele Medikamente noch getestet werden, bis es eine reelle Chance auf Heilung gibt.
Aber ich hoffe auf diese Chance, so wie ich hoffe, dass es irgendwann einen Weg aus den Klimakrisen gibt – eine diffuse Hoffnung auf ein System, das nicht ausbeutet, sondern repariert, Leben erhält, statt es auszulöschen, Raum für Regeneration lässt - ich hoffe darauf, dass andere das erleben. Die nächste Generation oder die danach.

In diesem Leben bleiben mir meine Strategien. Anders als über Medikamente, Arztbesuche oder Schmerzen spreche ich selten über die Strategien, dabei sind sie ebenso wichtig wie alles andere.

„Je weniger wir Schwäche zulassen – die eigene und die der anderen –, je vehementer wir die Sorge für andere und uns selbst ablehnen, desto weniger sind wir gewappnet für die Gefahren der Welt. Denn Regeneration findet nicht durch Leistung statt, sondern durch Ruhe “[16], schreibt Theresia Enzensberger.
Ruhe kann vieles bedeuten und ist sicherlich für jeden Menschen anders. Für mich bedeutet Ruhe, zu meiner Cousine und zu meiner Tante zu fahren, die direkt am Waldrand wohnen, und dort ein paar Tage zu verbringen. Ruhe bedeutet für mich auszuschlafen, ohne Wecker aufzuwachen und dann mit dem ersten Kaffee zurück ins Bett zu gehen und so lange zu lesen, wie ich möchte. Ruhe bedeutet für mich auch, eine Arbeit zu haben, die mich finanziert, und dazu noch genügend Zeit zum Schreiben zu finden. Ruhe bedeutet, dass ich mich um die Menschen, die ich liebe, kümmern kann und sie sich um mich kümmern können. Und wenn wir uns gegenseitig sagen, dass wir uns lieb haben und wenn wir uns in den Arm nehmen, das ist auch Ruhe für mich.

In Vulnerabilität erprobte Menschen haben heute schon ein besonderes Bewusstsein für ihren fragilen Körper und die Zerbrechlichkeit anderer.
Boris Nikitin beschreibt jenes Bewusstsein in Versuch über das Sterben als Fähigkeit: „eine Fähigkeit, die vielleicht am deutlichsten in die englische Bezeichnung für Verwundbarkeit eingeschrieben ist: Vulner-ability. Die Fähigkeit, verwundbar zu sein. Die Fähigkeit, sich angreifbar zu machen. Die Fähigkeit, die eigene Verwundbarkeit unmittelbar in die Begegnung mit der Welt einzusetzen.“[17]

Vielleicht sind Menschen, die zur Vulnerabilität fähig sind, diejenigen, die im Angesicht der Schwäche standhalten; diejenigen, die sich nicht abwenden, die den Anblick des kranken Geliebten aushalten.
Anne Boyer schreibt: „Krebs war furchtbar, aber ich hatte diese erfinderischen Formen von Liebe, um ihn zu mildern, auch wenn diese Lieben völlig rechtsfreier und nicht amtlicher Natur waren, unabhängig von Paarsein oder Familie. (...) Einige Freund:innen verließen mich, aber andere steckten ihr Geld und ihre Zeit in meine Pflege. Die über Geld verfügten, stellten Schecks aus, damit die, die über Kapazitäten für sorgfältige Fürsorge verfügten, zu mir fliegen und mir helfen konnten, die in meinen Körper vernähten Drainagebeutel zu leeren. Einige Freund:innen schickten Bücher, andere schickten Mixtapes. Unsere Lösungen der Fürsorge sind nicht skalierbar, sie waren unzureichend und provisorisch, aber dank ihnen kam ich schließlich durch. “[18]
Ich habe mich verliebt in das Provisorische, das uns schließlich durchbringt, durch was auch immer. Dieses System ist ein feindliches, es entsolidarisiert, erschöpft und tötet uns. Trotzdem lieben wir einander, daran glaube ich wirklich, dass wir uns aufeinander verlassen können, wenn es heißer wird und wir kränker werden und verzweifelt und erschöpft sind. Dass wir einander haben.

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[1]https://aktuelles.uni-frankfurt.de/forschung/erster-umfassender-report-chronische-krankheiten-in-deutschland/, zuletzt aufgerufen am 6.6.2025

[2]Güthlin, C.; Köhler, S.; Dieckelmann, M. (2020): Chronisch krank sein in Deutschland. Zahlen, Fakten und Versorgungserfahrungen. Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität, Frankfurt am Main, S.10

[3] ebd.

[4] https://www.youtube.com/watch?v=Wv5Uybb-owo, zuletzt aufgerufen am 9.6.2025

[5]Güthlin, C.; Köhler, S.; Dieckelmann, M. (2020): Chronisch krank sein in Deutschland. Zahlen, Fakten und Versorgungserfahrungen. Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität, Frankfurt am Main, S.14

[6]https://flexikon.doccheck.com/de/Gesundheit, nach Definition der WHO, zuletzt aufgerufen am 19.6.2025

[7]Güthlin, C.; Köhler, S.; Dieckelmann, M. (2020): Chronisch krank sein in Deutschland. Zahlen, Fakten und Versorgungserfahrungen. Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität, Frankfurt am Main, S. 21

[8]Punkteskala nach David Bell. Ziel ist es, einen Maßstab für Behinderung und Einschränkungen bei ME/CFS festzulegen: https://sgme.ch/bell-skala, zuletzt aufgerufen am 10.6.2025

[9]Magdalena Herrmann: Die Frau und die Hydra, 1. Auflage 2023

[10]Roscher, Wilhelm-Heinrich in: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, S. 2770, https://archive.org/details/ausfhrlicheslexi12rosc/page/668/mode/1up, zuletzt aufgerufen am 9.6.2025

[11]Theresia Enzensberger: Schlafen, 1. Auflage 2024, S. 38

[12]Andreas Reckwitz: Verlust – ein Grundproblem der Moderne, 1. Auflage 2024, S. 16

[13]Eva von Redecker: Revolution für das Leben, 2023 (1. Auflage 2020), S. 83

[14]ebd., S. 89

[15]https://www.deutschlandfunk.de/bundesregierung-koalitionsvertrag-klimaschutz-100.html, zuletzt aufgerufen am 11.6.2025

[16]Theresia Enzensberger: Schlafen, 1. Auflage 2024, S. 51

[17]Boris Nikitin: Versuch über das Sterben, 1. Auflage 2020, S. 34

[18]Anne Boyer: Die Unsterblichen, 1. Auflage 2021, S. 254