Carla Lorenz
Schacht
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Man müsste zumindest nass werden
1
Ich höre die Löcher sofort. Fünfzig Tabs sind offen und in einem davon wird er liegen. Was ist denn so arg?, frage ich. Pause.
Ich war eben woanders, sagt er. Habe unkontrolliert Nüsse geknackt. Aber die Nüsse sind nicht die Gefahr, das weiß ich. Die Nüsse tun doch nichts. Und wieder bin ich nicht bei ihm. Kann ihn nicht schütteln. Was erwartest du dir, fragt er? Was soll ich jetzt leisten? Was soll ich gut machen? Ich werde wütend. Schmiere mir ein Brot und laufe in den Regen.
Bei jedem Aufwachen freue ich mich, geschlafen zu haben. Es ist unglaublich. Ich wünsche mir nichts mehr. Ich muss mich nur erholen. Und noch einmal erholen. Ich schlafe zur aufgenommenen Stimme meiner Schwester ein, schrecke hoch, bin unglücklich, dass sie weg ist. Licht, Finger, alles ist sehr hart.
Auf einem Feld. Mit einer Sonne. Einem Baum. Und ohne Strom. Und ohne Spiegel. Und ohne Angst. Und ohne Arbeit. Und im Spiel. Und mit Ball. Und mit Büchern. Und sein Körper. Ich will ihn. Und seine Augen. Nicht am Bildschirm. Entspannt. Sein liegender Körper. Sein laufender Körper. Ich bin nicht da. Ich habe es nicht in der Hand. Kann es nicht fassen.
Er sagt: Vor mir liegt eine Blume, die ist schön. Und ich? Vor mir liegt eine Katze, die ist schön. Jetzt können wir uns verabschieden. Davor suche ich angestrengt das Wort Capoeira, das mir nicht sofort einfallen mag, und als ich es gefunden und von vorne nach hinten gedacht habe, da hat er schon aufgelegt.
Ich komme aus den verschränkten Armen nicht mehr hervor. Wir beide, oder wir kommen aus den verschränkten Armen nicht mehr hervor. Die halbreifen Brombeeren, die vertrockneten Himbeeren und dass er der Beste in Mühle sei.
Dein Satz zum Tag?
Im Stellen dieser Frage sind wir uns näher gekommen als die ganze restliche Woche über.
Wenn er aber nach meiner Hand greift und ich weiß, das war eine Anstrengung jetzt, ich sie halte und weitergehe, ohne mir anmerken zu lassen, dass ich gerade nicht, bestimmt nicht, nach seiner Hand gegriffen hätte, erstaunt, aber dankbar in einem, mit meiner einen Hand das Rad schiebe, mit der anderen Hand seine halte, mir ein Haar ins Auge weht, sich allein durch mein Blinzeln nicht fortbewegen lässt: Was tue ich dann?
Da ist eine Unruhe, sage ich: Wenn ich laufe, könnte ich ewig weiterlaufen. Er sieht mich an und lacht. Ewig, fragt er, hast du es schon probiert?
Wir fürchten uns vor verschiedenen Dingen. Er legt Äpfel aus der Schale, wenn ich mit Bananen ankomme. Er sorgt sich, dass sie einander berühren, dass durch die Äpfel das Reifen beschleunigt wird, unsichtbar. Es gibt nur diese eine Obstschale, und so liegen zwei oder drei Äpfel wie Verstoßene auf der Tischplatte, während die restlichen Früchte, Bananen, Zitronen, Orangen, in Ruhe zusammenbleiben dürfen.
Obwohl er sich im Haus meiner Eltern nicht auskennt, sich wenig anzufassen traut, nach Erklärungen verlangt, macht er es auch dort. Sie essen viel Obst, haben Schalen mit allen möglichen Sorten in ihrer Küche stehen, Bananen liegen arglos und gelb unter Äpfeln. Einmal sehe ich, wie er die Äpfel aus den Schalen heraussucht und auf die Küchenplatte legt, in stillem Ernst. Er dreht sich um und schaut mich erschrocken an, sonst wird alles braun, sagt er, wisst ihr das nicht?
Ich fürchte mich, nicht schnell genug zu sein. Ich muss schnell sein, denke ich – in dieser Ordnung kam der Satz in meinen Kopf und geht seitdem nicht mehr. In meiner Erinnerung bin ich auf einer Brücke, als ich ihn zum ersten Mal höre, gleichzeitig ist rechts und links von mir Gebüsch, dichte, grüne Zweige und Blätter, die meine Arme berühren. Ich muss weitergegangen sein ohne Hast, kein schnelleres Gehen oder Laufen. Es hat sich noch nicht übersetzt. Als hätte ich davon erfahren, und erst später hat es sich eingelöst.
Wir wechseln uns ab: Als er von draußen kommt, stehe ich auf der anderen Seite der Tür bereit. Ich gehe nach draußen, Kuverts kaufen, sage ich, und meine: Pflaster. Ich brauche dringend Pflaster. Während ich die Treppe nach unten steige, denke ich, dass ich mich dauernd wiedererkenne: Ich lese drei Seiten und erkenne mich zwischen und in manchen Sätzen wieder, das ist mein Wort!, denke ich, mein Satz!, mein Zwischenraum!, und gehe auf die Straße. Es ist bequem. Wenn man es richtig macht, ist es hier doch so schön wie im Schreiben, denke ich, wenn ich nur richtig durch die Gegend gehe, geht es mir gut. Zuhause, nachdem ich eine Stunde lang vor einer Pfanne stehe und warte, dass der Inhalt endlich braun wird, knicke ich ein. Es ist nicht dasselbe. Ich setze mich hin und schreibe.
Es muss gelogen sein, denke ich, aber hat es sich nach einer Lüge angefühlt? Wer hat gesagt, dass ich ewig laufe? Er hat mich an- und ich habe weggeschaut, es war unangenehm. Ich habe es mir ausgedacht.
Es war ein unmögliches Unterfangen, sagt meine Schwester, mir konnte niemand mehr helfen. Ich höre ihr zu und bin ergriffen. Sie wollte ihr Schlafzimmer mit dem Wohnzimmer tauschen, hat erst einen Freund um Hilfe gebeten: Zusammen haben sie das Bett durch die schmale Tür gebracht, die Schränke und Stühle, den Tisch. Als er gegangen ist, sagt sie, war sie unglücklich und hat beide Räume gehasst. Niemand hatte mehr Zeit. Also hat sie es alleine gemacht: zwei Stunden lang das schwere Bett und Sofa zerlegt, alles auseinandergenommen, die Räume zurückgetauscht.
Während sie erzählt, baue ich ein Ende, ich setze den vertauschten Räumen etwas auf: Du erzählst mir gerade einen Text, denke ich, später bist du im Schlaf aus dem wütenden Bett gefallen, später ist alles zusammengeklappt – aber das sagt sie nicht. Sie ist aus einer Laune heraus in den Park, hat sich unter einen Baum gesetzt, und als es zu regnen begonnen hat, blieb sie, wo sie war: Es hat sich gut angefühlt. Ich fürchte, etwas verpasst zu haben, schaue ihr ins braune Gesicht. Es muss dir wirklich gut gehen, sage ich, wenn plötzlicher Regen dir nichts mehr ausmacht, du bist glücklich dort, habe ich recht?
Ich besuche meine Schwester, wir haben drei Tage. Die Bettdecke ist groß und rot. Ich schlafe wie ein Kind und mache mir keine Sorgen. Als ich eines der wenigen Bilder sehe, die sie von mir macht, schaue ich anders aus. Ich fühle mich alt. Wir sitzen auf einer Bank und ich knete meine nackten, warmen Füße.
2
Bevor ich laufen gehe, schreibe ich einen Brief, erwähne darin, dass ich gleich zwei oder drei Runden durch den Park laufen werde, dass ich noch nicht weiß, wie gut es mir nach dem Kranksein dabei geht. Ich klebe den Brief zu und lege ihn ab, für später. Nach dem Lauf möchte ich berichten: Vier Runden, es waren vier, die ich geschafft habe, aber wie, es passt nicht mehr in den Brief.
Dagegen meine offenen Tage: wie sie sich umschreiben lassen, ohne eine bestimmte Uhrzeit, zu der ich gehen müsste, zu der ich mich anmelden oder abmelden müsste, wie mir durch den Kopf weht, worauf ich Lust habe, wie ich meine Tage offenlasse, hineinzeichne und streiche, verschiebe, Bögen Papier herausziehe, vollschreibe, zusammenknülle, ohne dass ein Kuvert Schaden nehmen würde dabei, ich lasse die Tage offen, ich schreibe dazu und dazu. Ich muss mich nicht an- oder abmelden, niemand kontrolliert: Bin ich da? Ich wandle an der oberen Kante des Tages herum und drohe herauszufallen, hereinzufallen, dabei will ich nur balancieren.
Er spielt Ball, was mich sehr glücklich macht, denn er muss nicht warten, während ich mich umständlich anziehe, und überhaupt, er spielt Ball. Als der Ball in den Brunnen fällt, bückt er sich und wirft eine Handvoll Kiesel auf den am Wasser schwimmenden Ball, wohl in der Hoffnung, ihn anzuschieben, bis zur anderen Seite; der von den Steinen getroffene Ball bewegt sich kurz nach unten, von ihrem Gewicht unter die Oberfläche gedrückt, schwappt dann als Boje wieder nach oben.
3
Ich lege einen bestimmten Weg zurück, befinde mich in einem Schacht unter der Erde. Das Licht ist künstlich und ich weiß, dass Nacht ist. Ich trage nur einen kurzen Rock in Farben, aus denen ich mir vergangenes Jahr selbst einen Rock gehäkelt habe – Grün, Rosa und Violett. Aber dieser hier ist ein anderer. Ich bin nass, kehre aus der Dusche oder einem Schwimmbecken zurück zu einem ganz bestimmten Punkt, den ich, mich durch den Schacht bewegend, ansteuere. Meine Arme sind nicht vor der nackten Brust verschränkt, sondern halten, nach oben angewinkelt, je eine Brust verdeckt, drücken sie flach. Die Hände liegen als Fäuste am Brustkorb. Aus meinen Haaren läuft Wasser über den Körper zu Boden. Von den Seiten höre ich Männerstimmen rufen. Sie rufen, weil ich nackt und nass durch diesen Schacht gehe. Sie rufen „Sieh sie dir an“ oder „Was für ein Teil“. Sie wissen voneinander und rufen nicht nach mir, sondern sich gegenseitig zu. Ihre Stimmen kommen aus den Wänden, die nah sind, es ist ein Schacht und keine Brücke. Das Wichtigste ist mein Tempo: Ich beginne nicht zu laufen, ich bleibe nicht stehen. Ich steuere meinen tropfenden Körper durch den hellen Schacht, höre die Rufe der Männer, passiere.