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uga

 

Es ist eigentlich schön hier, außer dass die Leute stören, die Campinggäste, Campbetreiber und die Lieferanten, die meist erst spät abends kommen, wo man dann bei dem ganzen Gerappel nicht schlafen kann. Aber ich will mich nicht sonderlich beschweren, will keinen gegen mich aufbringen, weil ich wegen der kleinen Sache mit Josch und der großen, fubar, meine Füße stillhalten muss. Zumindest für eine Weile.
Josch war im Grunde genommen nett. Gut, kaum Klamotten an, auf dem Platz kaum mal mit Schuhen unterwegs, bisschen dünn, aber ich schließlich auch, hat ja heutzutage nicht gleich was zu sagen. Ich dachte, hätte da einen zum Austauschen, einen zum Sammeln gefunden, der auch mal zuhört, bis er angefangen hat, mir Dinge zu senden, Fucking News, Real Fake Shorts, die Sachen eben, meistens One-Cuts mit Kindern aus dem Camp und das hat mich verletzt, der dachte, ich finde das stylish, weil ich eher mit Tieren gut konnte und Menschenleute nicht mochte, wie er. War aber nicht so.

spürt Hunger, Kälte, Eis, spuckt Blut, blitzt, Feuer, wird
warm, klopft an

Ich sage immer Camp, Campingstuhl, Campingbesteck, weil die Milben auf dem Platz den ganzen Tag vorn am Wasser – ‚Fluss‘ nennen sie das, ist in Wirklichkeit nur Stinkebrühe – mit ihren beigen Shorts, ihren weißen oder warngelben Mützen auf den Köpfen (wegen dem Krebs) in ihren Metallgestängen sitzen oder manche liegen, Ravioli-Dosen knacken (die meisten nehmen dazu die Finger – ihr Campingbesteck), die ganzen alten, ranzigen Sachen ausschlürfen – neue gibt’s ja nicht mehr – dazu bisschen Gras, bisschen Erde zu sich nehmen, wegen Mineralien, und sich ansonsten sonnen, obwohl keine Sonne scheint seit fubar, aber für sie muss es sich so anfühlen. Sieht aus, als würden die meisten ein bisschen dösen, bisschen ausruhen, wie beim Campen eben, und ich gönne es ihnen, auch wenn sie früher dumme Schweine waren, wegen denen jetzt alles so ist, aber ich bin da entspannt, sie machen’s schließlich nicht mehr lang.
Manche sind auch tot. Das erkennt man oft nicht gleich, man merkt es zum Beispiel nicht etwa an der gekrümmten Liegeposition, die viele von ihnen einnehmen, oder an ihren Falten – die meisten mit richtig vielen Falten auf der Stirn – sondern daran, dass, wenn man sich von hinten anschleicht und ihnen die Mützen abnimmt (eine klebrige, blutige Angelegenheit), ihre Augen geschlossen bleiben und keine Beschwerden kommen.
Oder wenn man sie anrempelt, ihnen in die Nase zwickt: Augen zu. Ihnen mit der Faust ins Gesicht schlägt: Augen zu. Sie befummelt: Augen zu. Ihnen die Klunker abnimmt: Augen zu. Ihnen die Augen aussticht: Naja, keine Reaktion eben. Nicht dass ich das gemacht hätte. Aber Josch schon hin und wieder mit seinem Dingsda-Messerchen, bisschen rumzaubern. Das alte Gemäuer mal durchrütteln, hat er das genannt. Ich fand das schon irgendwie grenzüberschreitend. Aber auch lustig.

was warm, was kocht, was ist fein, in der Sonne sein, in der
Hitze, unter dem Blatt, dem Palmblatt, unter dem Dach bei

Ich hatte Josch gleich am ersten Tag getroffen, vorn bei der Schranke, wo ich ankam, und die Campbetreiberin, die Obermutter oder so, vier Zentner Fleisch, kaum noch Haare auf dem Kopf, aber schwere Kronjuwelen an beiden Ohren, Lapislazuli oder Dings, was weiß ich, jedenfalls hatte die mich angesehen wie: keine Kohle – kein Einlass, oder nein, die hatte gesagt: keine Kohle – kein Einlass, Fötzchen. Hat auf meine Hosentasche geschielt. Wollte meine letzten Streichhölzer. Dabei kam ich von hundert Meilen ohne Regen, richtig dünn an mir, richtig faltig eingetrocknet. Hab also rumgezockt, bisschen gespuckt, bisschen geschrien. Josch war gerade mit seinem Rechen die Einfahrt harken, hat das mitbekommen und eingegriffen, von wegen Oma und so, brauchen doch wen für die Gäste und Oma meinte: Die? Höchstens im Stall, und er darauf: Oma! Mehr kam nicht von ihm, aber dann hat sie mich passieren lassen und ihr Josch – Lieblingsenkel wahrscheinlich, obwohl naja, so, wie der Klamotten hatte, vielleicht auch nicht – hat mir den Stall gezeigt, das Dings-Messer an seinem Gürtel dabei immer hin- und hergebaumelt, er hat ganz vorsichtig angefragt, wie ich mit Hühnern könne, ob ich schon mal welche gesehen habe, ob ich generell schon mal was mit Tieren zu tun gehabt hätte, gäbe ja nicht mehr viele wegen f fu, und ich gleich: Ja, Tiere sind mir das Allerliebste! Strauße und Hasenkaninchen und Wellensittiche und …
Naja, wir halten hier nur Hühner, du Schöne, worauf ich sage: Ich heiße R. R? fragt er. Nein, R! sage ich, wie englisch, aaaar. Und er: Ah ok, dann viel Spaß. Ach so, dreht er sich nochmal um: Nur füttern, ausmistenmachen, nix essen, klar? Ich zähl abends durch! Uga, sage ich, nicke und sage dann noch
Als wir vor zehn- oder zwölftausend Jahren sesshaft wurden im Zweistromland, bei den großen Flüssen, irgendwie paradiesmäßig, irgendwo halbmondmäßig, weiß nicht mehr genau wo, da hinten eben, haben wir angefangen, Gitter zu bauen und Gatter und Zäune und Gehege, um Tiere zu halten, so nennen das die Leute, die Forscher, aber in real haben wir die versklavt, um das mal Menschmodus zu sagen, mal ohne fake, haben die festgebunden, eingepflockt, ihnen die Zitzen balsamiert, die Babys weggenommen und Kehle durch, sauberer Schnitt, vorher Schädel einschlagen, dann Ausbluten, Gedärme raus, aufspießen, Feuer machen, Babyziege übers Feuer, was abschneiden, vom Knochen kauen oder Schaschlik, dazu bisschen Milch, bisschen Zitzenmilch saufen und Eier, viele rohe Eier für die Gehirnentwicklung, uga uga eben. Das hab ich natürlich nicht alles zu Josch gesagt, nur das mit uga, Josch hat es aber nicht gerallt, naja.

Was ist wahr, was ist innen warm, was blitzt fein, was ist
geborgen, innen, bei seinem Körper sein, seinen Händen,
seinen eigenen Wänden, kommt

Im Stall, wie die Campbetreiber den Verbau aus Wellblech, zerfetzten Müllbeuteln, Draht, Autoteilen, Plastikstühlen, Treibgut und Knochen und Scheiße und Heu und Hastdunichtgehört nennen, durfte ich immer bei den Hühnern schlafen. Es gab kein richtiges Bett, aber dafür war der Boden relativ weich, weil schlammig, weil nah am Fluss und schön durchgepickt. Das machte nichts, ich bin seit der Sache nicht mehr in nem richtigen Bett gewesen. Tagsüber, eigentlich auch nachts, sollte ich den Hühnchen die Federn rausrupfen, ohne sie umzubringen, weil die brauchten sie noch, für Eier und so. Die Federn hat Josch oder sein buckliger Brudervater einmal am Tag mit einer Schüssel aus echtem Metall abgeholt, war immer Höhepunkt des Tages, wusste man nicht, wer kommt. Der Brudervater musste, wenn er mit Holen dran war, jedes Mal die Hosen runterlassen, seinen Schmutzi rausholen, sich einen knüppeln und auf eins von den Hühnern spritzen. Ich glaube, er hat irgendwann aufgehört, weil ich ihm dabei zugeschaut habe. War ihm wohl unangenehm.

Ein paar Wochen später meinte Josch, der mich einmal am Tag mit Schokoriegeln, Braune-Soße und Dextro (von dem ich nicht viel ansammeln konnte) versorgte, sie hätten entschieden, ich wäre jetzt aufgestiegen und also ergo ipso, wie die Milben (gebildete Leute) sagen, kam ich in die Baracke. Dort wohnten eigentlich nur Kinder oder welche, die so aussahen wie Kinder, mit glasdünnen Gliedern und irgendwie Druckschädeln, sehr groß, die Augen quollen manchen beinah heraus und so ohne Haare wirkten ihre Köpfe eigenartig mucho. Wir saßen dort alle an alten Schultischen, wo wir Haarersatzteile aus den Federn nähen mussten, was nicht so leicht war, aber eben bessere Arbeit mit richtigen Nadeln aus Metall (selbst schuld), bessere Luft, trotz deren Rumgehuste und bessere Konditionen als im Stall, hatte nämlich nur noch mit Josch zu tun. Wir hatten uns gut aneinander gewöhnt, Josch und ich, wer wo war und was gemacht hat, wer wo wann, was um einen herum passierte, alles gewöhnt, alles normal, alles wie immer, zumindest für eine Seite, für die Oberseite. Manchmal, wenn er Lust hatte, konnte ich bei ihm im Wagen sein; er hat mir dann dünne, kleine Zweige für meine Sammlung geschenkt und ich hab von dort – sein Anhänger stand am Camprand, am Feld hinter dem Loch, was mal der Badeteich gewesen sein muss, unter zwei vertrockneten Fichten links und rechts – die anderen beobachtet. Es gab nämlich außer dem Brudervater und der Oma noch mehr Campbetreiber, ungefähr 19 Personen oder 36, ich hab sie gezählt, ne Menge Kinder, Nackte, Ampus, Suffis und alle sehr fröhlich drauf in einem mit kniehohem Jägerzaun abgetrennten Oval im Zentrum der Anlage, wo sie ihre zerbrochenen Plastikstühle auf einer kleinen Holzterrasse unter zwei Magnum-Sonnenschirmen – Mann, jetzt ein Eis – um einen großen Plastikcampingtisch drapiert hatten, auf dem Tisch Gläser mit Schnaps oder Bier oder Gülle, vollgestopfte Aschenbecher, Pommesschalen und verschiedene Eierspeisen, Kuchen eben, aber vor allem der Tisch mit Decke, das war mir gleich aufgefallen. Weil wer hat denn heute noch nen Tisch und wenn: Wer hat denn heute noch Tischdecken? Das war so eine mit Coffeetime-Schriftzug, Kaffeebohnen und Kaffeemühlen bedruckte Wachstuchtischdecke, die man an der Tischkante festclipst. Junge Junge, gut habt ihrs hier, sag ich. Ja, oder? antwortet Josch und dann haben wir rumgemacht, mehr war nicht mit Sprechen. Ging aber auch nicht darum.

Meine Hände, mein Haus, forme mit meinen Händen ein
Haus, forme Wände, Fenster, Dach, schaue zwischen den
Händen durch unter dem Dach, schaue aus dem Haus, aus
dem Fenster, aus innen, aus Blitz, aus Wärme, sehe

Abends musste ich zurück in die Baracke. Ich sollte wieder unter meinen Tisch und ja die Augen zu, bevor die Lieferanten kommen, bzw. in eben der Zeit, io itzo sagen die Milben, nicht zum Fenster rausschauen, sicherheitshalber. Josch hat mir irgendwann sogar eins von den Family-Nokias geschenkt, Casa Nostra quasi, um mich zu warnen, falls die Lieferanten kommen und mich mitnehmen wollen würden, weil ich wäre wohl besonders high für die. Weiß nicht, was er damit meinte. Mittlerweile weiß ich, das Handy war nur für seine Schmutzieh-Nachrichten an mich gedacht. Hab es weggeworfen. Die Lieferboys wollten jedenfalls nichts von mir, sondern brachten nur alle paar Tage ein, zwei neue Milben, also Campinggäste, wenn welche weggestorben waren, und die Gäste zahlten wiederum an die Campbetreiberfamily, die Casa, (wahrscheinlich mit Wasserflaschen – light, medium, stark) und die Boys bekamen im Gegenzug drei Federhaarersatzteile als Schutz gegen die Sonne pro geliefertem Gast und die Gäste wurden vorn ans Wasser auf klapprige Stühle gesetzt oder wo angeschraubt, bis sie starben und immer so weiter, immer im Kreis. Konnte man alles vom Fenster aus sehen.
Meine kindlichen Freunde, mit denen ich das Dextro längst aufgeteilt hatte und die, wenn wir nicht arbeiteten, neben mir in der Baracke schnarchten, grunzten, sich krümmten oder leise wimmerten, hat das alles nicht so interessiert. Manchmal hab ich ihnen Märchen erzählt vom Platz, wo Tiere aus einem großen Fluss trinken und daneben noch ein Fluss, oder vom Licht, das aus der Wand kommt, oder Menschen, die umherfliegen – soll früher angeblich so gewesen sein –, oder ihnen das Messer, das ich Josch gezockt hatte, unter die Nase gehalten, richtig mit Glanz, und manchmal hab ich wieder einem die Stirn gestreichelt, wenn er gerade im Sterben lag, was eigentlich nicht meine Art ist, aber naja. Der Brudervater kam dann die Wie-Toten, die, die nicht mehr arbeiten konnten, am nächsten Morgen abholen, immer einen Bogen um mich herum, immer murmelnd: Feuer oder so. Er hat sie dann drüben in der Flussbrühe entsorgt.

was weit weg, was weit von nah, von Körper, innen von
warm, von meinen Armen, von Haut, vom Haus aus eigener
Haut, vom Fenster aus warme Sonne, kommt

Ich glaube, es war gestern oder noch vor gestern, als Josch abends von draußen gerufen hat: Komm raus fi fa fuck jetzo und dann, weil ich keine Lust hatte, zu uns in die Baracke gestürmt ist. Gleich Riesenrabatz wie im Hühnerstall, hat alle aufgescheucht, mich am Zopf gepackt, selbst schuld, das macht keiner mit mir. Ich hab ihm mit meiner Nadel direkt ins Auge gestochen, meiner Federhaarschopfnadel, die eigentlich für’s Arbeiten, naja. Er gleich aufgeheult, Hände vors Gesicht und geschrien: Was du getan fi fack? Aber meine Freunde, die wie Kinder sind, haben mir geholfen, ihn ruhig zu machen. Und auch die Milben waren still, als wir kurz darauf an ihnen vorbeimussten, um Josch in den Fluss zu werfen. Er ist dann dort liegen geblieben, weil der Fluss war jetzt ganz weg, und als wir zurück sind, hat mich plötzlich einer von den Gästen am Arm gepackt, war ich ganz schön erschrocken, dachte, die wäre tot, hat sich auch nicht weiter bewegt oder so, nur das mit dem Arm und Emma geflüstert, Emma.
Man muss das verstehen, die Milben waren früher reiche Leute, Professor und Firmenchefin, Anwältin für Verwaltungsrecht, Inhouse-Webdesigner, Finance Consultants, Leute mit richtigen Berufen eben, mit richtigen Scheißberufen, durch die sie sich auch nach fubar den schönen Lebensabend hier leisten konnten, und sicher hatten ihre mittlerweile zu Staub zerrieselten Kinder hübsche Kleider an, Ohrringe und Flechtezöpfe und so Namen wie Emma gehabt, bis fu, das Feuer, naja. Is gut, sag ich. Bin gleich wieder da, Mama, und streichle der Frau über die runzlige Hand. Die Haut sah fast aus wie Glas, Milchglas oder so, und um ihre Augen, Augenringe, waren plötzlich Falten, noch mehr als vorher, eben Lachfalten.

wie Sturm kommt, wie ein Turm, wie Mücken blitzen, wie
Hände auseinander, wie was weit außen nah ist, wie weit
außen von kalt, von weit weg warm und weit nah, kommt

Als sie mich losgelassen hat, sind wir zurück, schlafen, sag ich zu denen, die wie Kinder sind, Augen zu! Bin aber selbst wach geblieben und später zum Stall, um die Hühnchen freizulassen, manche wollten nicht, die hab ich dann ein bisschen getreten, bis alle weg waren.
Jetzt ist es stockdunkel. Habe alle meine Zweige, alles Gesammelte auf einen Haufen gestapelt und den Haufen neben den Stall. Nehme eins von den Streichhölzern. Ich muss fast gar nicht pusten, es ist sehr trocken. Warte kurz, bis es richtig brennt. Muss schön leise sein, um mich, schön das Messer in der Hand, hinter die Schranke, hinter das Schrankenhäuschen zu schleichen, wo sicherlich immer noch Joschs Oma sitzt, die auf die Lieferjungs wartet, die ich, wenn sie ankommen, aus ihrer Mühle aussteigen, einen nach dem anderen abmurkse, um dann mit deren Auto die Oma umzufahren und ihre 39 im Gras, um den Tisch herum schlafenden Familienmitglieder und ganz am Ende den Brudervater, der seit ewig versucht, während alles um ihn herum wegbrennt, die Hühner wieder einzufangen, was nicht klappt, weil Feuer eben und weil ich ja über ihn drüberfahre, schön gefühlvoll am Gaspedal, leise, damit die, die wie Kinder aussehen, nicht aufwachen und auch die Milben am Fluss ihre letzte Ruhe haben und auch wegen mir, damit keiner später sagen kann, ich wäre Wutausbruch, wäre fubar, damit ich vor mir ein ruhiges Gewissen habe, wenn ich nach Süden fahre zu den zwei Flüssen, die es richtig gibt, richtig groß, etwa hundert Kilometer, Zweistromland eben, wo richtige Leute wohnen, richtige Dings, Haustüren, meine ich, und Tische, wo es richtig klappt, wo sie einen noch aufnehmen und liebhaben, deswegen mach ich das doch, damit für mich alles gut wird, in Zukunft ist alles gut.

 

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