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Übergesetzung

 

Das Wort ‚Tagebau‘ lässt sich im Italienischen mit dem Wort cava (Plural, cave) übersetzen. Das Substantiv kommt von dem Verb cavare, ‚herausholen‘. Als ich Kind war, gab es die cave schon. Ich habe sie mir als Höhlen oder Löcher vorgestellt: Eine Maschine würde in die Berge eindringen und eine Höhle freilegen, bis Menschen hineinkommen, nach Kohle suchen und sie heraustransportieren. Kleine Menschen, die aus Süditalien oder anderswo kommen, würden Tag und Nacht darin arbeiten und vielleicht auch schlafen. Mir tat es leid für diese Menschen und ich fragte meine Mutter, ob ich helfen könnte. Sie sagte, dass ich noch zu klein dafür sei.

 

 

In einer Welt, in der du mich richtig fickst, würden die cave nicht existieren.

 

 

Die Türen des Flugzeugs schließen sich, während ich mich in den schmalen Sitz setze und seufze. Es ist das erste Mal, dass ich in meine Heimatstadt zurückkomme. Ich habe den Wecker nicht gehört und bin zum Flughafen gehetzt. In ein paar Stunden beginnt die Hochzeit meines Bruders und ich bin immer noch in Deutschland, aber ich werde es schaffen. Ich schaffe es immer irgendwie. Ich denke, Manuel hätte kein Flugticket gebucht, er wäre getrampt. Er sagte stets, es sei doch nicht so weit weg. Ich lache kurz und schließe meine Augen. Das Flugzeug rollt los, eine Stimme erklärt, wo die Exitstreifen sind. Ich schließe meine

Augen fester, spüre den Schweiß auf meiner Haut,

denke an dein Lachen letzte Nacht, deine Hände, deine Stimme, die sagt,

du kannst nicht hoch singen wie ich, an deine Lippen, wie sie sich bewegten, als du es sagtest.

Ich spüre die Räder des Flugzeugs, wie sie den Kontakt zum Erdboden verlieren.

Dann schlafe ich ein.

 

In einer Welt, in der du mich richtig fickst, bin ich nie aus meiner Heimatstadt weggegangen. Ich wohne in einem kleinen gelben Haus mit Freund:innen und jeden Morgen sehen die Berge mich, wenn ich die Fenster öffne. An dem Tag, an dem ich dich treffe, stehe ich morgens früh auf und schiebe das Fenster meines Schlafzimmers auf. Es ist der Anfang des Sommers und ich stelle mir vor, dass einer der Berge mich fragt, ob ich wandern will. Ich bereite mich vor.

 

 

Die Kirche in der Nähe vom Haus meiner Eltern ist genauso geblieben. Sie ist hässlich, aber klein und man kann die Berge dahinter sehen. Die Stadt, in der ich jetzt wohne, hat keine Berge. Ich finde, dass irgendetwas fehlt, wenn man aus dem Fenster guckt. Manchmal, wenn es regnet, denke ich, die Wolken seien die Berge, aber sie sind es nicht.
Als wir Teenager waren, saß ich mit Manuel nachts auf der Treppe dieser Kirche. Oft sagte er, er wolle nach 20 Jahren zurückkommen und sehen, wie die Stadt sich verändert habe.

 

In einer Welt, in der du mich richtig fickst, treffen wir uns zufällig in den Bergen. Du machst da Urlaub, allein, weg von deiner Stadt. Du sprichst kein Italienisch und ich spreche kein Deutsch. Du kannst aber Spanisch und fragst mich, wohin du gehen musst, denn du hast dich verirrt. Ich kann es dir nicht genau erklären, weil ich nur Italienisch spreche. Wir steigen den Berg zusammen hoch.

 

 

Seit Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt sich die Industrie Norditaliens exponentiell. In den Bergen meiner Heimatstadt wurden während der 1970er Jahre große Kalksteinvorkommen entdeckt und verschiedene cave angelegt. Der Kalk wurde dann in Kalköfen raffiniert, die tag- und nachtsüber am Rande der Stadt liefen. Die Einwohner:innen erzählten von schwarzem Staub, den sie ständig von den Fenstern wegputzen mussten.

 

 

Bei der Hochzeit sitzen wir alle an einem Tisch in einem Restaurant, das sich fern von der Stadt und auf einer Anhöhe befindet. Von dort oben kann man die Berge und den See sehen. Es ist eine Hochzeit zwischen Musiker:innen, mein Bruder spielt Gitarre und seine Frau singt. Es ist heiß. Wir sind hoch in den Bergen und ich frage mich die ganze Zeit, wann ist es hier so warm geworden. Ich schaue die Berge an, ihre Spiegelungen, durch ihre Wärme fallen mir alle ihre Geheimnisse wieder ein. In der Spiegelung eines der Berge befindet sich das Geheimnis, dass Manuel Drogen nimmt. Dass ich sehr betrunken vom schlechten Rotwein war, und müde, weil wir uns in den Bergen nachts verlaufen hatten. Er erzählte mir davon und ich dachte, dass ich zu jung sei, um von so etwas zu wissen. Ein Freund meines Bruders kommt zu mir und sagt, er müsse jetzt leider los, er sagt, aber du kommst bald wieder, oder? Ich nicke.

 

In einer Welt, in der du mich richtig fickst, sitzen wir auf der Spitze des Bergs und schauen hinunter. Ich spüre keine Nostalgie, kein Fernweh und kein Verlangen. Ich schaue nach unten und sehe keinen Tagebau, ich sehe nur einen trostlosen See und Berge, die sich darin spiegeln. Ich frage mich, wer denn schon von hier weggehen wollen würde. Ich lächle, schaue dich an und denke, „no nostalgia“.

 

 

Mein Bruder kommt zu mir und entschuldigt sich, dass er noch keine Zeit für mich hatte. Ach, so viele Menschen. Ich lächle unsicher und erinnere mich an unser letztes Gespräch. Mein Bruder schrieb mir vor einem Jahr eine Nachricht. Ein Unglück!!! Manuel hat sich umgebracht. Ich starrte auf mein Telefon und rief ihn zurück. Soll ich kommen? Mein Bruder seufzte und sagte: Mach was du willst, das musst du wissen. Ich legte auf und setzte mich auf dem Boden meines Zimmers. „Es ist warm, stadt-warm“, dachte ich, „es ist ganz normal, dass es hier warm ist.“ Mein Bruder legt seine Hand auf meine Schulter und fragt stirnrunzelnd, ob es mir gut ginge. Ja, natürlich, sage ich, ich habe einfach nicht erwartet, dass es hier so warm ist.

 

In einer Welt, in der du mich richtig fickst, fangen wir zufällig an, uns zu berühren, während wir auf dieser Spitze des Berges sitzen. Du hast nichts zu essen und zu trinken dabei und ich frage dich, ob du irgendetwas essen willst. Du verstehst nicht, was ich sage, und ich drehe mich um, um meinen Rucksack zu finden. In der Bewegung verliere ich das Gleichgewicht. Du fängst mich auf mit deinem Arm und ich lege versehentlich meine Hand an deinen Hals. Wir verharren einige Sekunden lang so, dann fahre ich mit meiner Hand unter dein Kinn. Ich presse meinen Daumen auf deine Lippe und du atmest schneller.

 

 

2015 wird ein neuer Stollenplan vorgestellt. Die cave sollen erweitert werden und auch Landstücke von einem Privatmann abgekauft werden. Bei einem öffentlichen Treffen wird der Plan erst einmal verabschiedet und der Privatmann gezwungen, sein Landstück abzugeben. Eine Gruppe von Menschen meiner Heimatstadt stimmt jedoch gegen die endgültige Verabschiedung des Plans. Sie fangen an, zu den Umweltauswirkungen zu recherchieren und nennen sich nocave.

 

 

Anna setzt sich neben mich an den Tisch. Ich weiß, dass sie mit mir über Manuel reden will. Sie will schon lange über ihn reden, weil wir nie über ihn geredet haben. Sie denkt, er wäre länger geblieben, wenn ich nicht weggegangen wäre. Oder vielleicht denke ich das. Sie zeigt mir Videos auf ihrem Handy, die sie mit der nocave-Gruppe gedreht hat. Sie will mir zeigen, wie sich der Staub nach den Explosionen in den Stollen in der Luft verteilt, wie das Wasser der Bäche, die nach dem Regen überfluten und zum See hinabstürzen, von den Resten der cave verschmutzt wird. Siehst du das? fragt sie. Sie zerstören die Berge, den See, und wofür?Siehst du das? Ich nicke, aber ich sehe eigentlich nichts. Sie tippt weiter auf ihrem Handy herum und ohne aufzuschauen fragt sie, was war das Problem, warum bist du denn weggegangen? Ich will antworten: „Ich habe Sehnsucht nach etwas, was nicht existiert. Und zwar immer. Deswegen bin ich weggegangen.“ Ich zucke aber mit den Schultern. Sie schaut mich kurz an und dann wieder auf ihr Handy. Verstehe, sagt sie.

 

In einer Welt, in der du mich richtig fickst, hören wir keine Explosionen, wir hören unseren Atem. Ich spüre, wie dein Herz schlägt, wenn ich mit meiner Hand unter deinen Brustwarzen streiche, spüre wie du meine Hand nimmst, ich schaue hinunter und versuche dir nicht in die Augen zu sehen, weil ich mich in dich verlieben könnte, wenn ich dir in die Augen blicken würde. Du sagst leise, es ist kein Problem, was ist denn das Problem.

 

Ich entferne mich von der Hochzeitgesellschaft. Ich schaue hinab zum See und erinnere mich, wie ich Drogen am See an einem kalten sonnigen Wintertag eingeatmet habe. An diesem Tag sah ich, wie die Berge sich im Wasser spiegeln. Der Rauch schmeckte bitter und gefährlich. Ich dachte darüber nach, was die Berge mit der Spiegelung im Wasser machen, wie kommen sie zusammen, was ist ihre Beziehung. Ich hielt den Rauch ein und dachte, ob das Wasser, das ich sehe, auch an den Stränden, von denen meine Familie herkommt, gewesen ist. Ich fragte mich, ob Wasser überhaupt gewesen sein kann oder einfach überall schon ist, ich fragte mich, wo Wasser endet, und atmete aus, es war aber kein Rauch zu sehen. Meine Freund:innen lachten mich aus und sagten, ich hätte nicht mal richtig gezogen.

 

In einer Welt, in der du mich richtig fickst, glaube ich nicht an Penetration. Du fickst mich mit deinem unsichtbaren Penis und ich stöhne immer lauter, während du mir in die Augen schaust. Deine Augen, blau, deine fein zerfallenden Haare und dein Bart. Du beugst dich tiefer in meinen Hals und flüsterst du Loch in mein Ohr. Ich fange an zu heulen. Du hörst auf und entschuldigst dich. Ich sage, dass ich nicht weiß, was los ist. Ich sage dir, ich glaube, ich habe dich einfach lange gesucht.

 

 

Abends auf der Terrasse redet Anna über das Haus, das sie sich gekauft hat. Über die Festanstellung, die sie jetzt hat. Ich höre nicht mehr wirklich zu und schaue auf die Berge. Ich frage mich, warum meine Eltern mir nicht die Namen der Berge beigebracht haben. Manuel kannte sie alle. Vielleicht wussten sie sie selber nicht, weil sie aus Süditalien kommen. Vielleicht dachten sie nicht, dass wir in dieser Stadt bleiben würden. Die Namen der Berge zu lernen, wäre eine Zeitverschwendung gewesen. Aber für alle anderen Kinder war es wichtig. Anna merkt, dass ich ihr nicht mehr zuhöre, sie schweigt kurz und atmet den Rauch aus. Ich entschuldige mich, weil ich unaufmerksam war. Sie lächelt und sagt: Und, wann kommst du denn zurück? Ich nicke und denke, dass es nie so warm gewesen ist.

 

In einer Welt, in der du mich richtig fickst, erzählen wir uns Geheimnisse. Ich erzähle dir, dass meine größte Angst ist, dass sich alles verändert, dass die Stadt sich verändern wird, die Berge, ich würde es nicht erklären können, aber ich würde dir sagen, dass ich es ungerecht finde.

 

Teo sagt, die Löcher des Bergbaus ließen den Berg selbst wie eine Kulisse wirken. Die Arbeiten würden 560 Meter über dem Meeresspiegel anfangen und immer tiefer gehen, jetzt seien sie schon bei 300 Metern. Das Loch wird immer tiefer in den Berg hineingebaggert. Und die Berge lassen es nicht sehen. Keiner sieht es und deswegen interessiert es keinen. „Mich interessiert es auch nicht“, will ich Teo anschreien, „ich will nur weg aus diesem scheiß Loch von einer Stadt, ich will einfach nur hier weg“, will ich schreien. Seit wann ist es so warm? frage ich Teo. Teo guckt auf seine Zigarette und ascht in den Aschenbecher. Es zuckt in seinem Gesicht. Tja, sagt er. Ich muss zum See, vielleicht ist es da kühler.

 

In der Welt, in der du mich richtig fickst, sehen wir uns danach nicht mehr. Wir sind zwei Menschen in ihren Zwanzigern, die noch nicht richtig wissen, worauf sie hinauswollen. Die kein Bedürfnis haben, sich zu weiteren Treffen zu verabreden. Die noch nicht finden wollen, was sie lange gesucht haben.

 

Ich laufe den Berg hinunter, als ob ich zu spät dran wäre. Ich

renne und atme sehr schnell und laut. Ich komme an am See

und setze mich auf den Boden. Ich schaue dem See in die Augen und denke:

Übergesetzung, das ist, was ich tue.

Die Berge,

die sich verkehrt herum in dem See spiegeln.

Die Fehler in meinen Übersetzungen sind die Wellen,

die die Spiegelung brechen. Meine gebrochene Sprache soll das Bild

von meiner Heimatstadt zerschneiden. Aber

welche Berge soll ich übergesetzen,

wenn sie zu einer Kulisse geworden sind?

 

 

Im Mai 2021 wurde das Projekt der Erweiterung der cave endgültig verabschiedet.
Die cave werden erweitert werden und werden sich vermehren.
Es wird immer wärmer werden.

 

 

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