Shortlist des WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreises 2023

Die interdisziplinär besetzte Jury hat fünf Titel für die Shortlist des WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreises 2023 nominiert. Das ist ihre Begründung: "Weitermachen wie bisher? Dass das Engagement der Literatur in den letzten drei Jahren vor Herausforderungen gestanden hat, die man in den Jahrzehnten davor so nicht kannte, hat mit immer neuen Krisenherden zu tun. Schreibend auf die Kraft der Worte zu vertrauen, ist heute vielleicht wie das berühmte Pfeifen im Wald. Trotzdem oder gerade deshalb braucht es Texte, die sich mit der Weltlage auseinandersetzen. Die versuchen, zu verstehen. Die Jury des WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreises 2023 hat sich bei ihrer Shortlist für fünf Beiträge entschieden, die auf sehr besondere Art über gesellschaftliche und weltpolitische Spannungsfelder nachdenken.
Die Angst angesichts des Kriegs in der Ukraine ist in zwei Texten berührt, die die Frage des 'Warum?' noch einmal radikal subjektiv und zugleich analytisch stellen. Erfahrungen aus der Geschichte und persönliche Formen der Trauer hallen in diesen literarischen Echos nach. Die Fragmentierungen des Ichs spiegeln sich in einem sprachlich avancierten Text über Krankheit ebenso wie in einer empathisch erzählten Vater-Tochter-Geschichte über Alkoholismus. Ein Essay über die Alarmsysteme der Menschheit angesichts drohender Katastrophen führt auf präzise Art vor, wie sehr die Literatur selbst zu diesen Alarmsystemen gehört. Man sollte ihre eindringlichen Signale nicht überhören."

Am 9. Februar stellten die Autor:innen sich und ihre nominierten Texte im Literaturhaus Frankfurt vor. Das Publikum konnte sie in konzentrierten Einzelgesprächen, die von den Journalist:innen Anna Engel, Christoph Schröder, Shirin Sojitrawalla und Beate Tröger geführt wurden, kennenlernen sowie Ausschnitte aus ihren Texten hören. hr2-kultur sendete einen gekürzten Mitschnitt des Abends in der Sendung Literaturland Hessen. Hier finden Sie eine Aufzeichnung der Sendung zum Nachhören:

Der große Shortlist-Abend. Mitschnitt in "Literaturland Hessen" auf hr2-kultur, Sonntag, 12.02.23, 12:00 Uhr

Lisa Krusche

Fanta Finito

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Lisa Krusche lebt als freie Schriftstellerin in Braunschweig. 2021 erschienen ihre Romane Unsere anarchistischen Herzen bei S. Fischer und Das Universum ist verdammt groß und super mystisch bei Beltz & Gelberg. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet unter anderem mit dem Edit Radio Essaypreis, dem Deutschlandfunk-Preis bei den 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt sowie dem Kranichsteiner Kinderliteraturstipendium.

"Lisa Krusche lässt uns an einer dramatischen Nacht teilhaben, in der sie ihren schwer alkoholkranken Vater beim Entzug begleitet. Von der dichten Beschreibung eines verzweifelten Versuchs, Hilfe zu bekommen, greift der Text immer wieder in Reflexionen über das Gesundheitssystem aus, das oft abweist, statt zu helfen. Hinter Krusches mitreißender Erzählung von der emotionalen Achterbahnfahrt einer Tochter, die plötzlich gezwungen ist, für ihren Vater Verantwortung zu übernehmen, scheint die Kritik an einer Gesellschaft auf, die der Sorge für andere und der Verletzlichkeit zu wenig Raum gibt." (Begründung der Jury)

Olga Martynova

Der Krieg und die Trauer

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Olga Martynova, geboren 1962 in Sibirien, aufgewachsen in Leningrad, wo sie in den 1980ern die Dichtergruppe "Kamera Chranenia" mitbegründete. 1991 zog sie zusammen mit Oleg Jurjew (1959–2018) nach Deutschland. Seit 1999 schreibt sie literarische Texte nicht nur auf Russisch, sondern auch in deutscher Sprache, seit 2018 nur in deutscher Sprache. Zuletzt erschienen bei S. Fischer: Der Engelherd, Roman (2016), Über die Dummheit der Stunde, Essays (2018). Olga Martynova ist Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz). Sie erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis (2012) und den Berliner Literaturpreis (2015).

"Olga Martynova legt eine Fährte, die sich als eine Sackgasse erweist: es könne sich bei Der Krieg und die Trauer um eine Art Tagebuch von November 2018 bis Dezember 2020 handeln. Dazwischen ohne Datum – die Einträge „2022, der Krieg“ – insgesamt siebenmal; so endet auch der Essay. Unzählige Zahlen, Daten, Namen umfassen das geistige Universum der Autorin. Dieses Universum droht komplett vernichtet zu werden, die Daten bleiben als ein verzweifelter Ordnungsanker in einem Meer aus Trauer über einen sehr persönlichen, schier unfassbaren Verlust, überlagert vom ausbrechenden Krieg gegen die Ukraine. Die Vorahnung des Krieges, der Verlust des Anderen – verbunden mit Lévinas Gedanken zur Schuld des Hinterbliebenen – und der schließlich stattfindende Krieg sind die Denkachsen, um die sich der beeindruckende Text von Martynova dreht. Dazwischen: genaue Beobachtungen, Mikroerzählungen, Zitate, Telefonate, Gedankensplitter, Lektüreberichte, die aus der Perspektive einer inzwischen auf Deutsch schreibenden, in der russischen Sprache aufgewachsenen Autorin, die Katastrophe des Krieges in Worte zu fassen versucht." (Begründung der Jury)

 

Sasha Marianna Salzmann

Der große Hunger und das lange Schweigen

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Sasha Marianna Salzmann ist Dramatiker:in, Romanautor:in, Essayist:in und war Mitbegründer:in des Kultur- und Gesellschaftsmagazins freitext. Sasha Salzmanns Theaterarbeiten erhielten zahlreiche Preise und sind in über 20 Sprachen übersetzt. Von 2013 bis 2019 war Sasha Salzmann Hausautor:in des Maxim Gorki Theaters Berlin, an dem Salzmann das Studio Я leitete. 2017 erschien im Suhrkamp Verlag das Romandebüt Außer sich. Der Roman erhielt zahlreiche, auch internationale, Ehrungen und ist in 16 Sprachen übersetzt. 2020 wurde Salzmann mit dem Kunstpreis für Darstellende Kunst der Akademie der Künste Berlin sowie mit der Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt der Universität Braunschweig ausgezeichnet. 2021 erschien Salzmanns zweiter Roman Im Menschen muss alles herrlich sein, der 2022 mit dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Hermann-Hesse-Literaturpreis geehrt wurde.

"Fragend, tastend, abwägend und sich informierend versucht Sasha Marianna Salzmann mit sprachlicher Eleganz und Scharfsinn eine Annäherung an die ukrainische Geschichte und Gegenwart zu finden. Mit der Prämisse, dass Geschichte ein Nebeneinander von singulären Erzählungen ist, ist Salzmanns literarischer Dreischritt: dem Gesagten und auch dem Ungesagten zuhören, erinnern, durchdringen. Dabei lässt Salzmann das langjährige familiäre Schweigen genauso tönen wie Sprichwörter oder gar „sprachliche Ungeheuerlichkeiten“. Salzmanns Essay schmiegt sich an die singulären Geschichten der Anderen, ohne ihnen zu leicht auf den Leim zu gehen. Damit ist Der große Hunger und das lange Schweigen ein Paradebeispiel für einen packenden, erhellenden und sprachlich exzellent geschliffenen Essay." (Begründung der Jury)

Judith Schalansky

Judith Schalansky

Schwankende Kanarien

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Judith Schalansky, geboren 1980 in Greifswald, studierte Kommunikationsdesign und Kunst­geschichte und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Seit 2013 gibt Judith Schalansky die Reihe Naturkunden und seit 2022 die Bibliothek Wildes Wissen im Verlag Matthes & Seitz Berlin heraus. Ihre Bücher, darunter der Atlas der abgelegenen Inseln (2009), der Bildungsroman Der Hals der Giraffe (2011) sowie das Verzeichnis einiger Verluste (2018) sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt und wurden vielfach ausgezeichnet.

"Das Bild der Kanarien, der Singvögel, die im Dunkel des potentiell todbringenden Bergbauschachts als sogenannte „Wächtertiere“ verwendet werden und deren Tod die Bergleute vor dem eigenen drohenden Erstickungstod warnt, Singvögel die, von ihrer Aufgabe nichts wissend, dabei noch einen Überfluss an Schönheit produzieren, dieses Bild weist Schalanskys Text den Weg. Auf meisterhafte Weise mehrfach gebrochen und gerahmt wird hier die Dramaturgie einer möglichen Erzählung mit der Dramatik des möglichen Weltuntergangs, der desaströsen ökologischen „tipping points“, an denen sich alles entscheidet, verbunden. Schwanken tun nicht nur die Kanarienvögel bevor sie sterbend von der Stange fallen; zu schwanken beginnt auch das Bild vom Kanarienvogel als Warnsignal wenn man der Autorin in ihrer Erforschung der verästelt komplexen Durchdringung von Natur und Kultur folgt. Ein bedrückend kluger, ein poetisch kluger Text." (Begründung der Jury)

Kinga Tóth

Die Unsichtbaren

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Kinga Tóth, geboren 1983 in Ungarn, ist Sprachwissenschaftlerin, Visuell-Klang-Poetin, Illustratorin und Kulturmanagerin. Tóth schreibt auf Deutsch, Ungarisch und Englisch und stellt ihre Texte in Installationen und Performances dar. In Ungarn engagiert sie sich für Gleichgerechtigkeit und Frauenrepräsentation im Literaturbetrieb. Für ihre intermediale und internationale Arbeit bekam sie 2020 den Hugo-Ball-Förderpreis und den Bernard Heidsieck-Prix. 2021 war sie Gastkünstlerin in der Villa Waldberta. Ihre Text-Foto-Installationen sind in Tallin, ihre graphischen Gedichte im Centre Pompidou und ihre intermediale Installationsarbeit in der MODEM Galerie (Debrecen / Ungarn) ausgestellt. Kinga Tóth ist 2023 DAAD-Stipendiatin in Berlin. Zuletzt erschienen: Maislieder (2019, Thanhäuser), PARTY (2020, parasitenpresse), OFFSPRING (2020, YAMA), TRANSIT (2021, SUKULTUR), Mondgesichter (2022, Matthes & Seitz).

"Kinga Tóths Text Die Unsichtbaren ist ein Text der Verkehrung. Plastik wird Natur, Erniedrigung wird Erlösung, das Spital zum Labor einer neuen Körperlichkeit. Wo andere nur Schmerz und Wunden erkennen, da gleicht Tóths Erzählen dem eines táltos, einer Schamanin, die aus der Agonie menschlicher Qualen hinaufsteigt zum Plateau einer neuen, einer zukünftigen Gesellschaft. In dieser analytischen wie prophetischen Kraft sind Die Unsichtbaren einzigartig." (Begründung der Jury)

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