Lisa Krusche

Fanta Finito

 

»ich hoffe dass diese scheissnacht irgendwann zu ende geht«
Ich liege mangels ausreichender Sitze hinten im Laderaum unseres Transporters, im Hundebett, schaue dem Abglanz der Straßenlaternen zu, die manchmal über die Innenwände des Autos huschen, auf den drei Sitzen vorne Joshua, mein kleiner Bruder, mein entzügiger Vater. Es ist 00:24, der 24. Mai, das werde ich später nicht erinnern können, wie ich viele Details nicht mehr erinnern kann, während andere sich mir wieder und wieder aufdrängen. Ich wünsche mir mich zusammenzurollen, wie der Hund es sonst bei Autofahrten tut, und nicht mehr aus dem Auto aussteigen zu müssen, ich schicke die Nachricht an eine gute Freundin, es ist eine Anrufung an ein Anderswo, eine Erinnerung an etwas, was auch ich bin und was mir zu entgleiten droht im Dunkel dieser Nacht. Die Ereignisse überschlagen sich und sie überschlagen mich. Ich will nicht hier sein und bin es doch so sehr, dass ein Morgen unerreichbar scheint.

Wir setzen meinen Bruder ab, an dem Haus, das bis vor einer Woche auch noch das Zuhause meines Vaters war, wenn man mit zuhause den Ort meint, an dem man lebt, und nicht einen sicheren emotionalen Aufenthaltsort, und das nie mein Zuhause war, Patchworkfamilienlogiken. Mein Bruder nimmt meinen Vater in den Arm, er ist mindestens einen Kopf größer, und es wirkt auch deswegen ein wenig ungelenk, weil das nichts ist, was er sonst macht, seinen Vater in den Arm nehmen. Ich nehme wiederum meinen Bruder in den Arm, das ist etwas, was ich durchaus mache, und jetzt besonders, er ist siebzehn, aber erscheint mir auf einmal so sehr wie ein Kind, noch mehr, als ich mir selbst in diesem Moment wie ein Kind vorkomme, ich verspreche, ihn auf dem Laufenden zu halten.

Es ist eine klirrend kalte Nacht. Aber das liegt auch an der Hitze, aus der wir kommen, der Wohnung, in der mein Vater die Thermostate gegen das existenzielle Frieren eines Körpers, dem es an allem fehlt, hochgedreht, die Heizungen gegen die Kälte des Sterbens in Stellung gebracht hat. Das Zittern meines Vaters, das nicht aufhört, trotz der Schichten an Pullovern, ein einziges Bibbern und Zähneklappern, „ein menschlicher Körper, der an den Rand seiner eigenen Vergiftung gebracht worden war.“[i]

Jetzt sitze ich vorne, in der Mitte der Sitzbank, zwischen Joshua, der fährt, und meinem Vater. Die Heizung im Auto ist auf der höchsten Stufe. Ich beschreibe Joshua den Weg, unterhalte mich mit meinem Vater über die vielen Baustellen, es ist diese Art dialogischer Entfremdung von der Situation, bei der man über Alltägliches, Nebensächliches redet, die einem einerseits unangebracht und andererseits absolut notwendig erscheint. Ich hoffe, dass sie uns nicht wegschicken. Ich habe keinen Plan B. Ich gebe mir die größte Mühe, Ruhe und Sicherheit auszustrahlen, obwohl ich ein flackerndes Knicklicht in der Gosse bin, tue gelassen, halte mich aufrecht.

Am Krankenhaus irren wir eine Zeit lang umher, der Haupteingang ist nicht mehr der Eingang, und es dauert, bis wir den Seiteneingang finden. Die Unsicherheit, die Ungewissheit, ich will nicht in dieses Krankenhaus, ich frage meinen Vater, ob lieber Joshua oder ich mit ihm gehen sollen, in der Hoffnung, er würde sich für ihn entscheiden, ich will um jeden Preis aus der Nummer aussteigen, ich will mich zusammenkauern in der Nacht und nur warten müssen, handeln traue ich mir nicht zu, was, wenn ich nicht souverän genug bin, nicht bestimmt genug auftrete, um trotz fehlender Krankenversicherung eine Behandlung für meinen Vater zu erwirken, was, wenn sie hier sind wie der Arzt des kassenärztlichen Bereitschaftsdienstes, noch einmal, ich weiß es, werde ich einer solchen Härte nichts entgegenzusetzen haben, ich habe mich bereits aufgebraucht.

Als ich diesen Text begann, fragte ich mich, ob ich ihn schreiben dürfe. Ich überlegte, meinem Vater eine Stimme zu geben. Ich hielt das für eine gute Idee, nur war es zu früh. Ich merkte: Ich muss erst selbst wieder den Raum des Schreibens betreten. In den letzten Wochen habe ich die Bücher von Édouard Louis gelesen und meine, eine schleifenförmige Bewegung seines Schreibens erkennen zu können: das Schreiben als Fluchtpraxis vor den Eltern, um dann in der Distanz die Kraft zu finden, sich im Schreiben wieder anzunähern, ein Annähern, was nur aus der vollzogenen Selbsterfindung heraus erfolgen kann. Auch ich muss erst aus der Einsamkeit meines Daseins herausschreiben, bevor ich im und mit dem Schreiben meine Stimme teilen kann, was nicht bedeutet, meinen Vater nicht mitzudenken (aber jemanden mitzudenken, bedeutet eben nicht, ihn selbst denken zu lassen). Deswegen beginnt meine Erzählung dieser Nacht, in der sich ihre Vergangenheit und ihre Zukunft treffen, die sich in alle Richtungen ausbuchstabiert, was ihr vorausgegangen ist, was ihr folgen, was ihr noch gefolgt sein wird, dort, wo sie für mich begonnen hat, und nicht, wo sie für meinen Vater den Anfang nahm. Wenn es denn einen Anfang gegeben hat. „Nicht immer lässt sich selbstzerstörerisches Verhalten zurückverfolgen bis zu einem sauber identifizierbaren psychologischen Ursprungsmythos.“[ii]

War es für mich von Bedeutung, warum mein Vater trinkt? Nicht wirklich. Was Ausschlag gab, war das Zittern seiner Hände am Fluss, seine Beine, die mir so dünn vorkamen in der abgewetzten Hose, die knubbligen Knie, das Gehetzte der Stimme, ihr Wegbrechen, die Not, die da war, und nicht ihr Ursprung.

An meinem 30. Geburtstag begannen die Telefonate. Mein Vater rief an und war ungewöhnlich redselig. Wir unterhielten uns sicher eine Stunde lang. Danach war ich seltsam aufgekratzt, beschwingt und irritiert gleichermaßen. Mein Kopf glühte. Über die folgenden Monate häuften und intensivierten sich die Anrufe, die für mich oft emotionale Schleudergänge waren, Mischungen aus hitziger politischer Diskussion, persönlichen Beichten meines Vaters, starken Gefühlsausschlägen von Weinen hin zu überdrehtem Lachen und zurück, ungewöhnlichen Liebesbekundungen seinerseits. Einmal, auf einem Feldweg im Februar, eine dünne Schicht Schnee auf den Erdklumpen, die matten Gräser, dunstige Luft, gleißender Himmel, wieder am Telefon, erinnerte ich ihn daran, wie er vor fünfzehn Jahren gesagt hatte, ich hätte sein Leben zerstört (weil ich geboren worden bin). Es war das erste Mal, dass ich mit ihm darüber sprach. Das habe er gesagt, fragte er, es klang, als würde ihm die Luft wegbleiben, er begann zu weinen, entschuldigte sich, und trotz der Anstrengung, die die Überspanntheit dieses Telefonats mit sich brachte, hob und lichtete sich etwas in mir. Trotz der langen Auseinandersetzung mit diesen Sätzen, obwohl ich gedacht hatte, so gut wie möglich meinen Frieden damit gemacht zu haben, spürte ich jetzt, dass dort ein Rest verblieben war, um den ich erleichtert wurde dadurch, dass mein Vater erkannte, was er mit zugefügt hatte, und sich dafür entschuldigte.

Je öfter wir telefonierten, umso mehr erzählte er über die Beziehung zu seiner Partnerin, mit der er zusammenlebte, über die Probleme, seine Einsamkeit, er sprach immer dezidierter davon, es zuhause nicht mehr auszuhalten. Zusehends wiederholten sich seine Einlassungen, er wirkte immer aufgewühlter, aufgepeitscht manchmal, er erschien mir fast wahnhaft, manisch. In „Nüchtern“ bezieht sich Daniel Schreiber auf Siri Hustvedt, die das grundlegende Problem von psychiatrischen und neurologischen Krankheiten, von denen Abhängigkeit eine sei, als Angriff auf den Ursprung dessen beschrieben habe, „was wir uns als das eigene Selbst vorstellen. […] Sie gehen mit einem massiven, scheinbar unaufhaltsamen Selbstverlust einher.“[iii] Diesen Selbstverlust erlebte ich aus der Perspektive des Gegenübers und am stärksten in dem Gefühl, gar nicht mehr zu meinem Vater durchdringen zu können, als bewegte er sich in einer anderen Wirklichkeit, unerreichbar für mich.

Wie lange ich es nicht kapiert hatte. Wie sich das Bild im Nachhinein betrachtet mit quälender Langsamkeit zusammensetze.

Immer mal wieder sprach er davon, dass er Fanta kaufen war oder sich jetzt mal ein Glas Fanta einschenkte, was eine halbbewusste Irritation in mir auslöste, weil ich ihn nie als Limonadentyp wahrgenommen hatte, im Gegenteil, jahrelang war er von den schlechten Auswirkungen von Zucker überzeugt. Auch später wird er immer, wenn ich ihn traf, Fantaflaschen dabeigehabt haben, sie werden in seiner neuen Wohnung stehen, neben dem Sofa, auf dem Fensterbrett, im Kühlschrank.

Als erstes ahnte es meine Psychologin, als ich ihr von den Anrufen meines Vaters erzählte. Ihrer ungewöhnlichen Häufigkeit und Länge und seiner Emotionalität. Ob mein Vater Alkoholiker sei? Nein, entgegnete ich, das könne ich mir nicht vorstellen, er trinke gar nicht viel, habe nie so viel getrunken. Etwas, dem er selbst später widersprechen wird, er habe immer viel getrunken, es habe zu allen möglichen Gelegenheiten dazugehört. So fremd ist er mir, so sehr will ich es oder kann ich es nicht sehen, so wenig weiß ich über Alkoholsucht und ihre Symptome.

7,9 Millionen Menschen der 18- bis 64-jährigen Bevölkerung in Deutschland konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form, ein problematischer Alkoholkonsum liegt bei etwa 9 Millionen Personen dieser Altersgruppe vor[iv], etwa 1,6 Millionen Menschen gelten als alkoholabhängig, jährlich sterben 20.000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholkonsums.[v] Dabei würden Alkoholprobleme auf einer kollektiven Ebene großflächig verleugnet, schreibt Daniel Schreiber, und in Deutschland tatsächlich noch mehr als anderswo.[vi] Das Trinken sei so tief in unseren sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Ritualen verankert, dass es für die meisten zu einem blinden Fleck wird. „Es ist immer und überall da und wird gerade deshalb nicht mehr wahrgenommen.“[vii]

Sorge, definieren Joan Tronto und Berenice Fisher sei alles, was wir tun, um ‚unsere Welt‘ zu erhalten, fortzusetzen und zu reparieren, damit wir so gut wie möglich darin leben könnten. Diese Welt schließe unsere Körper, uns selber und unsere Umwelt ein, alles, was wir in einem komplexen, lebenserhaltenden Netz zu verweben suchten. „In der Welt, wie wir sie kennen, handelt es sich dabei um Aufgaben, die das Leben in gegenseitiger Abhängigkeit besser machen, die aber oft als belanglos und unwichtig angesehen werden, wie wichtig auch immer sie für lebenswerte Beziehungen sind.“[viii] Sorge bedeutet, der großen Verlorenheit, in die wir alle verstrickt sind, ins Auge zu schauen, das Elend nicht auszublenden. Nichts kleinreden, nichts beschönigen. Fragen stellen: Wie geht es dir wirklich? Was braucht du? Wie kann ich dir helfen? Manchmal auch: Antworten auf diese Fragen zu finden, wenn es der oder die andere nicht mehr kann. Seiner Intuition zu vertrauen, sein Gegenüber wahrzunehmen. Sorge sowie auch Genesung haben Ehrlichkeit als Grundvoraussetzung. Sich selbst und anderen gegenüber. Im Falle der Alkoholabhängigkeit meines Vaters benötigte es die Ehrlichkeit des Betroffenen, der seine Alkoholsucht nicht länger verbirgt, der sie erst sich selbst eingesteht und dann den anderen, es benötigte die Ehrlichkeit der Angehörigen gegenüber sich selbst, um die Anzeichen richtig zu deuten, statt sie zu verdrängen und auch, um die Ehrlichkeit des Betroffenen annehmen zu können, und es benötigte Ehrlichkeit gegenüber dem Betroffenen. Ich lernte mit der Zeit und muss es noch heute üben, dass ich nur Sorge tragen kann, wenn ich aufhöre, alles Mögliche herunterzuschlucken, und anfange, ehrlich zu sein. Wenn ich meine Wahrnehmung und Meinungen und Bedürfnisse nicht verberge aus Angst, die anderen könnten nicht damit umgehen, seien damit überfordert. Wenn ich offen wiedergebe, was ich beobachtet habe. Wenn ich mich und meine Sicht den anderen zumute. Zu sagen: Ich liebe dich, und zu hoffen, dass der andere sich öffnet.[ix] Hilfe anzubieten und zu vertrauen, dass der andere sie annimmt.

Nach einem weiteren Telefonat, in dem mein Vater sagte, seine Partnerin rede seit Wochen nicht mehr mit ihm, er halte es zuhause nicht mehr aus, beschloss ich, ihm unter die Arme zu greifen. Es war ein Impuls, dem ich sofort nachgab, ich besprach mich mit meiner Mutter, wir fanden eine Sozialwohnung für ihn, besorgten die entsprechenden Antragsformulare für Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes, ich ließ sie mir erklären, rief meinen Vater an und fragte, wo er sei, ich werde jetzt kommen und mit ihm gemeinsam die Formulare ausfüllen. Er widersprach nicht, auch das war ein Zeichen. Ich dachte, ich müsste ihn überreden, aber er stimmte einfach nur zu. Er sei am Fluss anzutreffen. Dort verbrachte er seine Tage, im Park, am Wehr, neben dem gurgelnden Wasser des Flusses. Er sagte: mit den Jungs. Er meinte: anderen in einer ähnlichen Situation. Ich suchte ihn dort auf, in Begleitung eines Freundes, der Soziale Arbeit studiert hatte, seine Anwesenheit beruhigte mich, ich wusste, er hatte Übung darin, mit zwischenmenschlich herausfordernden Situationen umzugehen. Wir setzten uns zu meinem Vater ins Gras, er erzählte wieder seine Geschichten von früher, eine schwappte in die andere über, vergangene Beziehungen, Momente, Menschen, die ihm einmal wichtig waren. Wir hörten zu, unterhielten uns mit ihm, so gut das möglich war. Was dachte ich, was fühlte ich währenddessen? Ich erinnere mich kaum, nur an eine gewisse Anspannung, ein Aufgesetztsein auch, wie ein falsches Lächeln. Es war nicht so, dass ich genuin zugewandt war, mit all meinem Sein, was auch deutlich erschwert wurde durch den zerfurchten Zustand meines Vaters, ich hatte widerstreitende Gefühle, die Situation strengte mich an, meine tatsächliche Zuwendung setzte sich über meine innere Abwehrhaltung hinweg, sie nahm sie mit, handelte in ihrem Beisein. Irgendwann holte ich die Unterlagen heraus, fragte ein paar Informationen ab, trug sie ein. Wir verabschiedeten uns und ließen meinen Vater im Park zurück. Man müsse, sagte mein Freund, während wir nebeneinanderherliefen, das sei so sein Eindruck, mal den Alkoholkonsum meines Vaters im Auge behalten. Diese Bemerkungen, von ihm, von meiner Psychologin, leisteten einen nicht unwesentlichen Beitrag zu meinem Erkenntnisprozess, verhinderten, die Augen verschließen zu können.

Einige Tage später traf ich meinen Vater wieder dort. Ich hatte ihm vorgeschlagen, mir Vollmachten auszustellen, um in seinem Namen mit verschiedenen Institutionen kommunizieren und Verträge abschließen zu können. Es war ein kühler Morgen, wir saßen auf der Parkbank, ich reichte ihm die Papiere und er versuchte zu unterschreiben, es gelang ihm kaum. Das Zittern seiner Hände. Am Ende brachte er eine krakelige Unterschrift zu Stande, die weniger sein Einverständnis als vor allem seine Versehrtheit bezeugte. Wieder ließ ich ihn im Park zurück, begleitet von Schwermut und Besorgnis, es war schon bedrückend genug, dass überhaupt die Notwendigkeit dieser Vollmachten bestand, noch erschreckender aber war das Zittern. Ich erzählte meiner Mutter von dieser Beobachtung und sie sagte, es sei eben sehr kalt. Ich entgegnete ihr nichts, spürte aber, dass das nicht der Grund war. Ich begann zu verstehen.

Den Umzug machte ich mit der Unterstützung meiner Freund*innen. Wir nahmen alles in die Hand, besorgten Umzugskartons, packten die Sachen, putzten, trugen Kartons, bauten Möbel ab und Möbel auf. Das sei er also, sagte Niklas lakonisch im Chaos des kleinen Zimmers meines Vaters, der viel beschworene Generationenvertrag. Ich war froh über das Lachen, dort, wo es mir eigentlich im Halse stecken blieb. Ich war froh um meine Freund*innen, die Klamotten in Säcke stopften, Schubladen auswischten, meinem Vater aufmunternd auf die Schulter klopften, wenn er wieder zu weinen begann, und mir hin und wieder Blicke zuwarfen. Bist du ok? Oder: Wie wenig ok bist du? In der Kommode, zwischen den Unterhosen und Socken, fanden wir leere Wodkaflaschen, mein Vater flatterte um uns herum wie ein hyperaktiver Schmetterling, ich weiß nicht mehr, was er zu dem Fund sagte, aber ich weiß noch, dass er keine Ausreden zu finden versuchte, dass er nicht das ganze Ausmaß seiner Sucht offenlegte, aber sie auch nicht mehr verbarg. Diese Offenheit war gemeinsam mit seiner Entscheidung, nicht mehr trinken zu wollen, die Grundlage für seine Rettung. Die Sucht, das habe ich in anderen Beziehungen erfahren, lässt sich nur mit dem Süchtigen besiegen, niemals gegen ihn, und ich wäre auch nicht bereit gewesen, diesen zermürbenden, aussichtlosen Kampf zu führen.

Immer noch konnte ich die Fantaflaschen nicht verstehen, selbst als mir klar geworden war, dass mein Vater trank, immer noch dauerte es, bis mir aufging, dass er morgens, mittags, abends nicht Fanta, sondern Fantawodka trank und erst im Krankenhaus, als er es den Krankenpfleger*innen sagte, in dieser Nacht, erfuhr ich: eine Flasche Wodka am Tag, seit über einem Jahr.

Die Sucht meines Vaters wirkte sich auf mich als Kontrollverlust aus, sie tat das ab dem Moment, in dem er begann, mich anzurufen, und ich abnahm, aber insbesondere ab dem Augenblick, in dem ich beschloss, mich zu kümmern, was seltsam anmuten mag, weil es auch eine Übernahme von Kontrolle war, aber daraus ergab sich dieser aufreibende Sog an Verantwortlichkeiten, Aufgaben, Herausforderungen und Tiefpunkten. Mein Vater hatte gar nichts: keine Krankenversicherung, keinen Sozialversicherungsausweis, kein Konto, kein gesundes Wohnumfeld, kein Geld. Jedes To-do zog weitere nach sich, ein bürokratischer Hürdenlauf, für dessen Bewältigung es eigentlich eine Vollzeitstelle gebraucht hätte.

Das Schlimmste, das Grausamste waren die menschlichen Widerstände, auf die ich traf. Die harschen Tonfälle, die suggerierten, ich sei freundliche Zugewandtheit nicht wert, nicht mal basalste Höflichkeit, dass jede Zuwendung, jede Information, selbst meine Rechte und die meines Vaters, eine Gnade von oben seien. Das Abgebügeltwerden, die Fehlinformationen, die Weigerung, mir überhaupt Auskunft zu geben, die verzögerte Bearbeitung von Anträgen. Und dabei hatten wir noch Glück, weil sich meine Identität als Tochter als Filter zwischen meinen Vater und die Behörden und Körperschaften legte, ich als Schutzschicht fungierte. Es schien diesen Menschen leichter, mir gegenüber empathisch zu sein als jemandem, der selbst in der Notlage war. Ich merkte es am Wechsel ihrer Tonlagen, wenn klar wurde, dass ich nicht für mich selbst anrief. Wie sie freundlicher und zugewandter wurden. Manchmal versuchte ich, mir das zu Nutze zu machen. Die Klaviatur ihres Mitleids anzuspielen. Ich dachte mir: Na gut, wenn das nötig ist, um euch milde zu stimmen, hier meine Tränen, ihr Pisser. Es stellte keine sonderliche Schwierigkeit dar, meine Emotionen zu veräußern, so präsent, wie sie waren, knapp unter der Oberfläche. Manipulationsversuche, die mir auch heute nicht schäbig vorkommen, weil das, was sie nötig machte, schäbig ist. Ich bin dankbar, dass es ein Sozial- und Gesundheitssystem gibt, von dem Unterstützung kam, aber wie rudimentär diese Hilfe ist, wie schwer teilweise zu bekommen und wie sehr man auf die Unterstützung nichtstaatlicher, freiwilliger, teils ehrenamtlicher Angebote angewiesen ist, hat mich mit Hoffnungslosigkeit zurückgelassen und mit größter Sorge um alle, die darauf angewiesen sind. Dass das politisch gewollte Verhältnisse sind, ist erschreckend. Noch erschreckender erschien es mir, wie bereitwillig die Menschen sich darin einrichteten. Denn trotz gewisser Vorgaben bleibt immer ein Handlungsspielraum der Menschlichkeit.

Es ist leicht, Härte zu zeigen. Es ist leicht, abfällig zu sein. Es ist leicht, die Lebensentscheidungen, Verhaltensweisen, Versäumnisse anderer zu verurteilen. Daraus kann dann schnell ein Geschieht ihm recht oder Das musste ja so kommen werden. Und wenn man also so die Verantwortung auf das Individuum abgeschoben hat und sich selbst die ontologische Verletzlichkeit, die wir alle teilen, vergessen macht, kann man sich selbstzufrieden abwenden.

„Heißt Milde, dass wir helfen wollen – oder dass wir nicht wollen, aber es trotzdem tun? Die Definition von Milde ist, dass sie nicht verdient ist. Wir müssen nicht ausgeschlafen haben, um Milde zu zeigen, wir brauchen keine weiße Weste, um mit Milde behandelt zu werden. Milde braucht keine besondere Geschichte. […] Es macht dich nicht zu einem besseren oder schlechteren Menschen. Es verändert dich gar nicht, bis auf die Millisekunde, in der du dir vorstellst, dass du eines Tages der Mensch bist, der Hilfe braucht.“[x]

Umso mehr braucht Fürsorge Netze. Wir sind auf einander angewiesen, um sie leisten zu können. Meinem Vater hätte nicht so geholfen werden können, wie es geschehen ist, ohne das Netz aus Freund*innen, Familie, Büchern, Websites, kostenlosen Angeboten wie dem Sozialpsychiatrischen Dienst oder der Suchtberatung der Caritas. Die Bedeutung dieser Güte, denkt man, lässt sich schwer in Worte fassen und dann doch ganz einfach: Sie macht einen Unterschied ums Ganze. Sie rettet Leben.

Wie mein Vater später in seinem neuen Schlafzimmer auf dem Bett saß, im Halbdunkel, der Rollladen hing schief und verkantet draußen vor dem Fenster, den Kopf in seinen Händen, ich sah ihn durch die halboffene Tür. Dieser Anblick wird mich Tage, Wochen, Monate begleiten. Einen Teil der Belastung werde ich erst ein ganzes Jahr später verstehen, als ich mich frei von bestimmten Ängsten erlebe, deren bedrückende Anwesenheit mir erst in ihrer Abwesenheit so richtig klar wird.

Ich notierte: Jetzt kehrt alles wieder zurück. Die Schwere. Jetzt ist die Dunkelheit wieder da. Ich denke über das Pathos dieser Sätze nach, den sie vor allem haben, wenn man sie aufschreibt, und der im Gegensatz zu dem steht, wie man sie denkt: feststellend, abgeklärt.
Ich notierte: Man arbeitet. Dann weint man.
Ich notierte: Scheiße. In welche Verantwortung habe ich mich da begeben und wie sieht ihr Rattenschwanz aus?
Ich notierte: Wie viel ist zu viel? Das ist andauernd meine Frage. Gibt es dieses Zuviel, was von so Abgrenzungstheorien auf dubiosen Sharepics behauptet wird, überhaupt?
Ich notierte: Manchmal formiert sich so eine Härte in mir und ich habe einfach keine Lust mehr. Ich bin ehrlich genervt und möchte einfach nur meine Sachen machen. Ich bin nicht die Notfallseelsorge, nicht die Telefondienststelle, nicht der Mülleimer für den Irrsinn. Ich nehme trotzdem ab, ich höre trotzdem zu, ich organisiere trotzdem Dinge.
Ich notierte: Ich habe keinen Bock, denke ich. Dann denke ich, dass es darum nicht geht. Sich zusammentackern, denke ich. Und: Schreib das auf, die Worte sind die Tackernadeln. Was einen an sich selbst erinnert.

Eine Woche später, an Pfingsten, fuhren Joshua und ich nach Nürnberg, seine Familie besuchen. Am Samstagnachmittag rief mein Vater an, er sagte: „Ich schaffe das nicht mehr lange. Körperlich und psychisch.“ Diese Sätze erschütterten mich. Der Schmerz meiner Eltern ist immer schlimmer als meiner, das habe ich vor Jahren einmal geschrieben, ich komme nicht an ihn heran und trotzdem umgibt er mich. Diese Sätze holten mich jetzt ein oder wahrscheinlich hatten sie mich nie ganz verlassen. Es war ein Untergehen, eine Verlängerung des Gefühls, nicht gut genug zu sein, um den Schmerz meiner Eltern zu tilgen. Eine Destruktion, ein Zusammenschrumpfen: Erwachsen sein, aber wie ein Kind von unten nach oben in die Welt gucken, mit leeren Händen. Die Ungeheuerlichkeit der Verhältnisse, die Schrankenlosigkeit meines Inneren. Sich innerlich abzugrenzen, bleibt ein lebenslanges Üben, insbesondere in dieser Situation, ähnliche Überforderung und Versagensängste werden mich noch länger begleiten, die Angst, dass etwas falsch zu machen bedeuteten könnte, dass er rückfällig wird, sich Verantwortung zuzuschreiben, die eigentlich einem anderen obliegt.

„Abhängigkeit ist eine heimtückische Krankheit. Sie unterläuft nicht nur jedes Vertrauen, zerstört Beziehungen und reißt Familien auseinander. Sie ist auch etwas, über das der Kranke keine Kontrolle hat, ganz egal, wie sehr er sich vormacht, dass genau das der Fall sei, ganz egal, ob er denkt, mit seinem Problem leben und die Verluste im Innern noch ertragen zu können. Der Abgängige weiß nicht, dass er eine irreversible, chronische Gehirnkrankheit hat, eine Krankheit, die ihn glauben lässt, dass der sie verursachende Stoff auch gleichzeitig ihr Heilmittel ist.“[xi] Im Kontext der Sucht erschien es mir besonders schwierig, auf die Verantwortung des anderen für sich selbst zu vertrauen, sich daran zu erinnern, dass der andere immer noch ein anderer ist, dass man das Leben nicht für ihn leben, die Rettung nicht für ihn übernehmen kann, nur Hilfestellung leisten und Vertrauen haben und dann dabei auch zu lernen, verzeihlich und verständnisvoll sich selbst gegenüber zu sein.

Ich wusste nicht, was zu tun war. Andauernd ist man dermaßen planlos und macht trotzdem einfach weiter. Am Sonntagmorgen rief ich ihn zurück, ich sagte: „Wenn du willst, bringen wir dich in die Klinik. Wir müssen nicht auf eine Antwort von der Krankenkasse warten. Wir kriegen das auch so hin.“ Irgendwie, ich wusste nicht wie, egal, es musste.

„Überleg es dir“, sagte ich.

Am Nachmittag, wir waren auf der Autobahn, auf dem Weg nach Hause, meldete er sich wieder: „Ich habe es mir überlegt, ich will in die Klinik.“ Er hätte, sagte er, bereits seit dem Morgen nichts mehr getrunken. Wir machten aus, ihn am Dienstag in die Klinik zu bringen. Es waren Feiertage, ein Klinikplatz schwerer zu bekommen und er wollte sich noch auf den Aufenthalt vorbereiten. Ich hatte kein gutes Gefühl. Im Nachhinein kommt einem das so dumm vor, so fahrlässig, nur so zu ahnen, nicht zu wissen, wie gefährlich so ein kalter Entzug sein kann. Ich rief bei Kliniken an, ob sie spontan ein Bett freihätten. Wir fuhren von der Autobahn ab, hielten kurz an, zwischen den Feldern, ich stieg aus, ging über den Kies, Autos fuhren vorbei, die Sonne, der Himmel, die Halme, die Tröstlichkeit der Welt manchmal, die so unbeirrt ist von dem eigenen inneren Zustand. Ich holte bei einer Hausärztin telefonischen Rat ein, fragte, wie gefährlich Entzugserscheinungen sein können. Sie sagte, ich solle den kassenärztlichen Bereitschaftsdienst anrufen, 116 117, die könnten ihm ein Valium geben, damit er die Nacht übersteht. Jede Stunde nüchtern zähle, sagte sie.

Fahrlässig, wie mir später klar werden wird, weil die Antwort auf meine Frage eigentlich gewesen wäre, dass unbehandelte Entzugssyndrome ein großes gesundheitliches Risiko darstellen, mitunter lebensgefährlich sein können, dass ein Entzug ohne ärztliche Aufsicht nicht zu empfehlen ist. Ich entschied, dass wir zu meinem Vater fahren müssen. Mein Bauchgefühl ließ nichts anderes gelten. Meinem kleinen Bruder, der zu diesem Zeitpunkt bei ihm war, trug ich auf, zu bleiben, bis wir kämen.

Die irre Hitze der Wohnung, es war so heiß und stickig da drin, es hatte fast etwas Absurdes. Mein Vater fror trotzdem. Er sah so elend aus, der Schweiß stand ihm auf der Stirn, er hatte seit Stunden nichts bei sich behalten können, musste sich immer wieder übergeben. Und mein tapferer kleiner Bruder. Ich ging nach draußen, um den kassenärztlichen Notdienst anzurufen, lief die Straße auf und ab, schilderte einer freundlichen Frau am Apparat die Lage. Das sei alles kein Problem, auch nicht, dass wir Selbstzahler sein, es werde nicht teuer werden, manche Ärzte würden in solchen Fällen gar nichts berechnen, es könne nur etwas dauern, bis jemand komme. Wir warteten im Dunkeln, nur angestrahlt vom Licht des Fernsehers, es lief ein Actionfilm, innerlich zuckte ich jedes Mal zusammen, wenn Alkohol zu sehen war. Wenn ich sprach, dann so, als sei alles ganz normal, meine Stimme kam mir vollkommen von mir selbst entfremdet vor. Mein Vater zusammengekauert auf dem Sofa, eingehüllt in Decken, während ich meinen Pullover ausgezogen hatte, die Hitze setzte mir zu, die Zeit verging so zäh, bis es endlich klingelte. Ich holte den Arzt von der Haustür und gleich rutschte mir das Herz in die Hose. (Was taugen solche Redewendungen, was kann die Sprache weitertragen von den Empfindungen dieser Nacht, die vor allem körperlich waren? Fast gar nichts, kaum etwas sagt sich darin über diesen Moment, in dem du erfasst, dass dieser Mensch, von dem es abhängt, euch nicht wohl gesonnen ist.

Es mit der Angst zu tun bekommen, die Hoffnung schwindet – so war es, aber so fühlte es sich nicht an, weil diese Wendungen aus der Distanz gesprochen werden. Währenddessen ist Herzrasen, feuchte Hände, Kurzatmigkeit, ist trotzdem lächeln, einen freundlichen Eindruck machen, ist bangen, ist der Versuch, ruhig zu sprechen, gegen die Atemlosigkeit der Nervosität an, ist Bestimmtheit an den Tag legen und gleichzeitig aufgeben, ist Ruhe bewahren und gleichzeitig toben wollen.) Der Arzt war von Anfang harsch und abweisend. Wie er sich den Stuhl nahm und sich möglichst weit weg von uns setzte, zurückgelehnt, wie sofort ein Machtgefälle entstand, durch seine spürbare Ablehnung und unsere Abhängigkeit. Ich erinnere mich, wie seine Präsenz meine Wahrnehmung des Raumes veränderte. Das geöffnete Fenster, aber immer noch diese stickige Wärme, die Tapete mit den vielen Macken und gelben Flecken, das Drahtseil, das mal der Befestigung von Gardinen gedient hatte und jetzt nur noch an einer Wand herunterhing, die nackte Glückbirne, der seltsame Geruch nach altem Rauch, der über die Jahre in die Wände gezogen war, und dem süßlichen Raumduft, den die Vermieterin dagegen versprüht hatte. Ob der Arzt seinen Umgang mit uns aus der Umgebung abgeleitet hat, ob er anders mit uns umgegangen wäre, hätte die Wohnung, hätten wir nach mehr Wohlstand ausgesehen?

„Forschung zu Diskriminierung im Gesundheitsbereich auf Basis des sozioökonomischen Status gibt es bisher kaum; Ungleichheiten im gesundheitlichen Zustand sind jedoch gut dokumentiert. Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status, also niedrigem Einkommen, Bildungsniveau und Berufsprestige, haben eine geringere Lebenserwartung, erleben häufiger körperliche und psychische Krankheiten und Beschwerden und schätzen ihre Gesundheit schlechter ein als Personen mit höherem sozioökonomischem Status (Lampert et al. 2016). […] Inwieweit dies auf Diskriminierung anhand des sozioökonomischen Status zurückzuführen ist, wurde in Deutschland bisher nicht erforscht. Hinweise darauf ergeben sich jedoch aus Studien in anderen Ländern. So zeigte eine experimentelle Studie aus Kanada (Olah et al. 2013), dass ein*e Anrufer*in mit hohem sozioökonomischen Status eher einen Termin angeboten bekam als jemand mit niedrigem sozioökonomischen Status. Eine Studie aus den USA ergab, dass der sozioökonomische Status die Patient*innenwahrnehmung beeinflusst (van Ryn und Burke 2000). Einer Metastudie zufolge wirkt dieser sich auch auf die Kommunikation der Ärzt*innen mit den Patient*innen aus, sodass Patient*innen mit einem geringeren sozioökonomischen Status weniger aktiv kommunizieren und von Ärzt*innen weniger Informationen erhalten (Willems et al. 2005).“[xii]

Und wenn mein Vater eine andere Krankheit gehabt hätte als die Sucht, wäre der Arzt uns dann anders begegnet?

Der Arzt riet meinem Vater weiterzutrinken, zwei Tage, bis Dienstag die Psychiatrie regulär Patienten aufnehme. Trinken Sie einfach weiter, sagte er. Und in der Härte der Aussage lag natürlich eine Wahrheit: Dass es mitunter sicherer ist, den Pegel aufrechtzuerhalten, bis man einen medizinisch begleiteten Entzug machen kann. Aber er fragte nicht nach den Symptomen meines Vaters. Und hier begann sein ärztliches Versagen, wurden seine Vorurteile, seine Arbeitsverweigerung, seine Unmenschlichkeit, seine Ablehnung, was auch immer es war, zur Lebensgefahr. Im Krankenhaus werden sie uns sagen, dass mein Vater zwei Tage später nicht mehr am Leben gewesen wäre.

„Nein, das will ich nicht“, sagte mein Vater, „ich werde auf keinen Fall wieder anfangen zu trinken.“ Er sagte es mit aller Kraft, die er noch aufbringen konnte, eingesunken in das Sofa, die Arme auf den Knien abgestützt. Mein bescheuerter, mein mutiger, starker Vater. „Gegen Ende, so Vaillant, wird Alkoholismus zu einer Krankheit mit klarer Ausprägung, zu einer Krankheit, die dem, der sie hat, nur noch eine Wahl lässt: Entweder man wird abstinent oder man stirbt.“[xiii] Mein Vater hatte eine Entscheidung getroffen. Ich selbst habe mich wie erstarrt in Erinnerung und dass es vor allem Joshuas Ruhe und Besonnenheit zu verdanken war, dass wir den Arzt dazu bekamen, uns eine Überweisung ins Krankenhaus zu schreiben, in der Notaufnahme anzurufen und unser Kommen anzukündigen.

Als es um die Abrechnung ging, war er pikiert, weil wir Selbstzahler waren. Wie so etwas überhaupt passieren könne, fragte er, dass jemand nicht krankenversichert sei.

Wie das überhaupt passieren kann?

Leben.

Diese Dinge geschehen.

Sie geschehen anderen.

Sie können auch uns geschehen.

Und ich möchte ihn heute immer noch fragen: Wie kann das, was du bist, passieren? Woher kommt diese Bitterkeit? Wie kann man, wenn es zum eigenen Beruf gehört, tagtäglich mit der Verletzlichkeit von Menschen konfrontiert zu werden, so sehr den Blick für den Menschen verlieren, dass man ihn in seinem Denken und Handeln so degradiert? Manchmal habe ich mich gefragt, was seine Perspektive auf diesen Abend gewesen sein mochte, unsicher, ob ich mich das überhaupt fragen wollte. Auch er hat eine Geschichte, aber es fällt mir schwer, darüber nachzudenken und noch schwerer, Verständnis aufzubringen, denn ist es nicht so, dass es unser aller Aufgabe ist, unsere Menschlichkeit nicht zu verraten, was auch immer uns widerfahren mag?

Immerhin: Er stellte die Überweisung aus. „Egal in welch noch so kleiner Dosis sie daherkommt: Die Gnade kommt auf heimlichen Sohlen und aus unerwarteten Ecken daher – und ist dabei unvollständig, alles andere als vollkommen, aber trotzdem von Bedeutung.“[xiv] Nur zum Schluss versuchte er noch uns abzuziehen (oder, wenn man es aus seiner Sicht sehen möchte, traute er uns wohl nicht über den Weg, eine Rechnung, die er uns schicken würde, auch zu bezahlen). Er wolle, sagte er, seine Leistungen in bar bezahlt haben. Wir mussten ihm zweihundert Euro aushändigen. Nur auf Drängen Joshuas stellte er uns eine Quittung darüber aus. Er schrieb uns eine Bestätigung auf einen Blankoüberweisungsschein: „200 Euro für Notfallbehandlung in bar erhalten. Nach Rechnungsstellung wird der Restbetrag zurückgezahlt.“ Er wird später eine Rechnung über hundertzweiundachtzig Euro schicken, unter anderem mit Posten wie „über das Normalmaß hinausgehende Patientenberatung“, und fünfzehn Euro Rückgeld mit dazulegen. Viel, viel später werde ich vom Deutschen Patientenverbund erfahren, dass das Verfahren des Arztes nicht rechtens gewesen sei, weil laut der Gebührenverordnung für Ärzte die Vergütung dann fällig werde, wenn dem Zahlungspflichtigen eine der Verordnung entsprechende Rechnung erteilt worden sei. Schon im Gehen sagte er noch, es sei gut, dass wir alle so an einem Strang zögen, Alkoholismus sei eine ernste Krankheit mit hoher Suizidrate, er habe einen Arzt gekannt, der sich deswegen Luft in die Adern gespritzt habe. Dann verschwand er und zurückblieb die Kälte seines Herzens, die uns in die Knochen gekrochen war und uns zittern ließ. Der sei eben von der alten Schule, wird die Hausärztin meines Vaters später sagen, aber ein guter Kollege. Wer muss man sein in dieser Welt, dass der eigenen Verachtung, Unmenschlichkeit und Härte mit einer solchen Nachsichtigkeit begegnet wird?

Auf dem Glas der automatischen Türen liegen die Schemen der Nacht. Mein Vater sagt, ich solle ihn in das Krankenhaus begleiten. Ich verabschiede mich von Joshua, es fühlt sich an, als wäre es für eine Ewigkeit. Jetzt liegt alle Verantwortung bei mir. Ich habe gedacht, ich sei am Boden angekommen, aber ich bin bodenloser, als ich geahnt habe. Wir gehen durch die Türen, einen hellweißen Gang entlang, am Anmeldetresen vorbei, auf die Türen der Notaufnahme zu. Sie müssen von innen geöffnet werden, rechts die Klingel, ich drücke darauf, neben mir mein kleiner Vater, wir warten. Und dann, das werde ich nie vergessen, denn nie in meinem Leben habe ich mehr Dankbarkeit empfunden, nie mehr Erleichterung verspürt, kommt eine junge Krankenpflegerin durch die Tür, und ich weiß es sofort, kann es ablesen an ihrer Mimik, Gestik, Haltung, Stimme: Sie ist uns zugewandt. Sie misst Fieber bei meinem Vater, sie spricht mit Mitgefühl und Bestimmtheit, sie sagt sehr verständnisvoll, dass das ja eine ganz schöne Scheiße sei. Wir sind nicht mehr allein. An der Anmeldung schickt sie meinen Vater schon mal in eins der Behandlungszimmer, kaum ist er außer Sicht, kommen mir die Tränen. Sie sagt, das habe sie sich gedacht, für die Angehörigen sei das sehr schwer.

Ich habe meinen Schmerz und meine Anstrengungen als Angehörige immer als nachgelagert empfunden, als schattenhafte Empfindungen, das verzerrte Echo dessen, was die Betroffenen selbst durchmachen und empfinden. In einem Gespräch mit einer Freundin, die ihren an ALS erkrankten Vater bis in den Tod begleitet und einen Partner mit Krebserkrankung hat, widerspricht sie dieser Sicht. Man steht daneben, sagt sie, und könne nur so wenig tun. Nichts sei so schlimm gewesen in ihrem Leben, wie ihrem Vater beim Verschwinden zuzusehen. Man ist auch betroffen, sagt sie. Sie hat recht, man ist betroffen, die Qualität der Betroffenheit ist nur eine andere.

Und in diesem kurzen Moment, unter den Neonröhren, auf der Schmutzfangmatte, bekommt meine Betroffenheit ihren Platz. Ich wische mir mit dem Ärmel über die Augen, unter der Nase entlang, bedanke mich, will am liebsten ganz loslassen und auseinanderfallen, aber es ist nicht die Zeit, noch nicht, es wird lange nicht die Zeit sein. Ich erkläre ihr die Situation mit der Krankenkasse, dass das Versicherungsprozess laufe, ein Antrag auf Hartz IV gestellt sei, dass ich aber auch für meinen Vater bürgen würde, gebe meine Adresse an. Nachts werde ich von nun an wachliegen und überlegen, was ein Krankenhausaufenthalt kosten kann. Bei jeder neuen Untersuchung, die anberaumt wird, denke ich mir Summen aus. Ich denke fünftausend, zehntausend, fünfzehntausend. Ich überlege, was ich noch zahlen könnte. Ich überlege, wie ich an Geld komme. Ich verfluche meine Berufswahl. Ich hoffe auf die Preise, für die mein Buch nominiert ist. Ich denke: Ich muss viel mehr arbeiten. Ich denke: Ich bin so müde. Ich überlege: Was könnte ich nicht mehr bezahlen? Ich frage mich: Was dann? Ich habe das Gefühl, meinen Vater zu verschulden. Ich denke: Aber es geht um sein Leben. Ich frage mich: Wäre er lieber tot, als Schulden zu haben? Jemand sagt: Einem nackten Mann kann man nicht in die Taschen greifen. Ich sage es mir wie ein Mantra: Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen. Ich denke: Diese Gesellschaft presst auch dem nacktesten Körper etwas ab.

Die Ruhe der Notaufnahme in dieser Nacht. Ein Mann, der sich in seinem Rollstuhl auszuschlafen scheint, nichts und niemand sonst. Unser Glück. Das kleine Behandlungszimmer, in der Mitte das Bett, links und rechts Tische, ein Stuhl, ein Waschbecken, die Decke mit ihren großen Quadraten und kleinen Löchern, die Lamellenvorhänge, der schlechte Handyempfang, es lassen sich kaum Nachrichten verschicken. Mein Vater auf dem Bett. Im Rückblick sind die Stunden, die wir dort verbringen, nur ein kurzer Moment, aber währenddessen ziehen sich die einzelnen Minuten. Eine andere Art der Ausdehnung der Zeit als zuvor in der Wohnung, eine schwebende Ruhe. Dieses viele Warten, das Teil des Kümmerns ist, warten auf Untersuchungen, auf Antworten, auf Bescheinigungen, auf Antragsstattgebung, auf Klinikplätze, auf Heilung, auf das bloße Vergehen der Zeit. Dieses seltsame Warten, das Zeitzonen schafft, in deren Dehnung ich mich nie ausstrecken, mich nicht hineinlegen kann, weil ich zu angespannt bin, zu aufgebracht, zu besorgt.

Ich sitze auf dem Stuhl neben dem Bett. Die Krankenpfleger*innen untersuchen meinen Vater, er weint, vor Schmerzen und vielleicht vor Erleichterung, weil ihm jetzt geholfen wird, er scherzt auch, ist nett und charmant. Sein Puls liege bei 220, sagen sie. Ob ihm deswegen die Brust so wehtue. Eine Krankenpflegerin lacht ein bisschen, ja, sein Körper fahre gerade richtig Formel 1. Er bekommt Schmerzmittel und etwas gegen die Übelkeit, aber es dauert, bis die Medikamente Wirkung zeigen. Immer wieder muss er würgen, sich übergeben, auf dem Bett sitzend, nach vorne gebeugt. Ich erinnere mich, wie er in einem der Telefonate erwähnt hatte, dass körperliche Nähe für ihn der größte Trost sei. Ich setze mich hinter ihn und nehme ihn den Arm. Fällt es mir schwer? Es ist jedenfalls keine gewöhnliche Handlung für mich, die Nähe nichts Selbstverständliches. Ich springe über meinen Schatten, den Schatten unserer Beziehungsgeschichte, über unseren unsteten Kontakt während meiner Kindheit, die guten Phasen, die Phasen, in denen er lange nichts von sich hören ließ, über die Zumutung, die seine Vorwürfe in meiner Jugend für mich bedeutet hatten, die Zeit, in der ich jeden Kontakt vermieden hatte, und die, in der ich entschied, ihm zu verzeihen, aber dennoch kein enges Verhältnis zu ihm aufbaute. Ich sehe uns von außen, es kommt mir fast wie eine ästhetische Entscheidung vor, die ich treffe, der kranke Vater, die zugewandte Tochter, eine innige Beziehung, was für ein rührendes Tableau. Und auf seltsame Weise ist das dann genau in diesem Augenblick auch wahr, ich mache es wahr durch die Handlungen, die ich vollziehe, ich entwerfe es im Tun, und meine Innerlichkeit spielt keine Rolle, die Vorbehalte und Distanzen sind nicht zu sehen, nur eine Tochter, die ihren Vater hält, während er sich in eine Plastiktüte erbricht, weint, sich erbricht. Ich trete vollständig hinter dieser Zuwendung zurück oder vielleicht auch anders, vielleicht trete ich durch sie hindurch, weil sich mit ihr eine Veränderung vollzieht, ich verändere mich, die Beziehung zu meinem Vater verändert sich, es ist ein Akt der Überschreitung und Überschreibung.

„Abhängig zu sein, bedeutet auch immer, nicht erwachsen sein zu können.“[xv] Man kann das alles als Umkehrung der Eltern-Kind-Rollen lesen, und ich denke, dass ein Teil des Schocks und der emotionalen Erschütterung, die von diesen Ereignissen ausging, auch genau darin lag. Wobei ich auch darüber nachdenken musste, wie sehr diese Reaktion mit den Rollenbildern verknüpft war, die ich hatte. Also, ob diese Situation, in der ich meinen entzügigen Vater in den Armen hielt, auch deswegen so schockierend war, weil es bestimmten, eng abgesteckten Vorstellungen von Vatersein, von Tochtersein zuwiderlief. (Ich schreibe auch, weil ein Teil des Schocks schlicht in der Tatsache des Leids lag, einem Leid, das der Tragik des Lebens entspringt, etwas, das unabhängig von der konkreten Beziehungskonstellation Gefühle evoziert.) Immer wieder beschäftigt mich die Frage, inwieweit mein Erleben und Fühlen daran gekoppelt sind, was ich zu fühlen gelernt habe und wie sehr meine Bewertung von Ereignissen mit der Erwartung zusammenhängt, mit der ich an sie herangetreten bin.

Lewis Hyde schrieb von der Wut eines Menschen, der einem Alkoholiker zu nahestand und nicht unbeschadet davongekommen sei.[xvi] Ich bin nicht wütend. Ich war es auch kaum. Ich erinnere mich an ein Mal, als ich im Auto nach Hause fuhr und dachte: Ich bringe ein Buch heraus, darauf habe ich so lange gehofft, warum kann mein Vater nicht einfach da sein und mich unterstützen, sich mit mir freuen und mit mir feiern? Die Wut wird nicht mal die Fahrt lang vorhalten. Ich hatte Erwartungen, die nicht erfüllt wurden, weil Menschen sind, wer sie sind, und ihren eigenen Schmerz haben. Es erschien mir verständlich und unverständlich, deswegen wütend zu sein. Verständlich, weil die Wut ein Kommunikator meiner Bedürfnisse war, sie erzählte von Hoffnungen und Enttäuschungen, sie war ein Teil der Trauerarbeit, die notwendig ist, um sich in der Realität einrichten zu können. Unverständlich, weil mein Vater ein eigner Mensch ist, nicht dafür da, um meinen Erwartungen zu entsprechen. Wütend sein auf jemanden, der am Ende ist? Sinnlos und unmenschlich. Wütend sein, weil es mir zustößt? Kam mir wie eine verhätschelte, irrationale Haltung vor, denn Krankheit, Schmerz, Verlust sind Teil des Lebens. Und letztlich hatte ich mich selbst entschieden, meinem Vater zu helfen, und aus dieser Entscheidung ergaben sich Konsequenzen. Es stieß mir zu, ich habe es aber auch angenommen.

Ist es möglich, sich selbst eine andere Perspektive auf solche Situationen zu eröffnen? Keine in diesem neoesoterischen, menschenverachtenden Alles-hat-sein-Gutes-Sinne, sondern eine, in der Krankheit, Verlust, Schmerz und ihre Begleitung eingebettet sind in das Leben, eine, in der man sie als unumgängliche und genuin menschliche Erfahrung akzeptiert und nicht als Extremsituationen, die einem auch noch Zeit stehlen, in der man etwas anderes machen könnte (oder müsste). Wenn man nicht durchdrehen will, während man solche Erfahrungen macht, das habe ich gelernt, braucht es einen anderen Zugriff, um, so banal es klingen mag, auch hin und wieder so etwas wie Frohmut zu empfinden, selbst mit einem kotzenden Vater im Arm. Nur, solange wir in einer Gesellschaft leben, in der der allergrößte Teil gesellschaftlicher Arbeit, familiärer Sorgearbeit, Freiwilligenarbeit, politischer Arbeit und die Sorge für sich selbst gegenüber der Erwerbsarbeit abgewertet und zusehends erschwert[xvii] werden, wird solch eine andere Perspektive nur unter größter Anstrengung herzustellen sein und stets rudimentär bleiben.

Die Wut, die bleibt, ist die auf den Teil der Welt, den wir jeden Tag mit unseren Entscheidungen erschaffen. Ich glaube, dass die Gründe meines Vaters, die zum Alkoholismus führten, hätten vermieden werden können. Dass man nach seiner persönlichen Verantwortung fragen muss, genauso wie nach der, die von den gesellschaftlichen Verhältnissen ausgeht. Dass psychische Probleme eben, wie Mark Fisher schreibt, nicht einfach privatisiert werden dürften und so jegliche Frage nach einer gesellschaftlichen und systemischen Ursache ausschlossen.[xviii] Vielleicht wäre er auch in einer anderen Welt, in der ein gutes Leben im umfassenden Sinn möglich wäre, zum Alkoholiker geworden. Vielleicht aber auch nicht. Und ganz sicher wäre der Genesungsprozess anders verlaufen und wir hätten uns nicht als derart verletzlich erleben müssen. Eine besondere, erhöhte Verletzlichkeit, die sich daraus ergab, dass wir auf Hilfe angewiesen waren in einem Gesundheitssystem, in dem man mitunter abhängig von Einzelpersonen ist, von der Güte anderer, von ihrem Einsatz trotz schlechter Arbeitsbedingungen, in dem man Glück haben und sehr hartnäckig sein muss, um einen Klinikplatz zu bekommen oder manchmal auch nur hilfreiche und richtige Informationen, in dem sich helfen zu lassen einen Angriff auf die eigene Würde bedeuten kann, in dem man sich klein machen muss, sich ducken unter den Angriffen der Ärzt*innen, des Personals, der Institutionen, damit es weitergeht, damit man eine Aussicht auf Heilung hat. Und diese Missstände anzusprechen, bedeutet nicht, nicht auch dankbar zu sein für die Unterstützung, die wir erfahren haben. Es bedeutet nicht, nicht zu sehen, was schon ist. Wie Menschen mit großem Einsatz für andere Menschen sorgen. Nur müsste es nicht so schwer sein, es sollte nicht so schwer sein. Und vor allem sollte es nicht noch schwerer werden.

Ich tippte Teile dieses Textes in einem Hotelzimmer, auf Lesereise, es war 01:05, ich schrieb: Du hast versucht zu schlafen, du kannst nicht schlafen, über deinem Kopf leuchtet eine rote Lampe wie ein Blutmond. Du konntest immer schlafen. Du hast das Schlafen verlernt. Deine Gedanken kreisen jetzt. Du denkst: Was ist das für ein Jahr? Was soll werden? Heute hast du gelesen, die Pflege sei verloren, du hast gelesen, die Krankenkassenbeiträge werden steigen, die Zuzahlungen werden zunehmen, du hast gelesen, dass es in absehbarer Zeit nicht mehr genug Pflegekräfte und Ärzt*innen geben wird, 30 Prozent der Intensivpfleger*innen wollen ihren Beruf verlassen, du denkst an Hebammen, an Altenpflege, daran, dass versehrten Menschen, hilfsbedürftigen Menschen immer weniger Hilfe zuteilwerden kann.

In einer solidarischen Gesellschaft, schreibt Gabriele Winker, sei es nicht mehr bedrohlich, aufeinander angewiesene, verletzliche Wesen zu sein, „sondern kann positiv erlebt werden. […] Ein solcher Umgang miteinander benötigt jedoch nicht nur einen anderen gesellschaftlichen Rahmen, sondern auch lange Prozesse des Lernens, die in den rudimentären Formen, die derzeit möglich sind, erprobt werden sollten. Auch deswegen ist es so wichtig, heute bereits eine sorgende Haltung gegenüber Menschen, aber auch gegenüber der nicht-menschlichen Welt einzunehmen und zu üben.“[xix]

Irgendwann kommt mein Vater zur Ruhe. Ich will mir einen Kaffee holen aus dem Automaten, der Automat steht in einem anderen Gang, den kenne ich schon, weil ich hier öfter mit Aaron auf Untersuchungen gewartet hatte, was mich auf verquere Weise tröstet, dieser Gang kennt mich aus und in einem anderen Kontext, einem, in dem ich mehr ich war als jetzt, weil Aaron mir näher ist als mein Vater. Der Kaffeeautomat funktioniert nicht, also nehme ich eine Cola, immerhin Koffein, wenn auch ohne die Wärme, um die ich gerne meine Hände gelegt hätte. Es heißt, sie werden ihn später in die Psychiatrie überweisen. Noch eine Fahrt durch die Nacht, die Odyssee fortsetzen, noch einmal die Ungewissheit, schon nicht zu wissen, wo genau die Patientenaufnahme ist, kommt mir maximal überfordernd vor, es ist drei Uhr, aber was bleibt mir übrig? Die Nacht teilt sich in tausend Ewigkeiten und sie will einfach nicht zu Ende gehen. Ich hake noch einmal nach wegen der Schmerzen im Bauch, eine diensthabende Ärztin macht einen Ultraschall und dann, als mein Vater schon angezogen ist, im Rollstuhl sitzt, die Überweisungsunterlagen in der Hand, kommt sie noch einmal wieder, sie sagt, sie habe etwas erahnen können, von dem möglicherweise geraten sei, es noch einmal mit einem besseren Bildgebungsverfahren zu untersuchen, weswegen zu entscheiden sei, ob mein Vater doch noch eine Nacht im Krankenhaus bleibt. Ich habe jetzt diese Entscheidungen zu treffen. Ich beschließe, dass er bleibt, (spreche ich mich mit ihm ab? Ist das überhaupt noch möglich? Ich erkläre es ihm zumindest), auch, weil ich erleichtert bin, nicht noch eine Fahrt antreten zu müssen. Ich umarme meinen Vater im Rollstuhl, die Sporttasche auf seinem Schoß, und verspreche, morgen wiederzukommen. Er wird weggefahren und ich beginne zu weinen. Ich spreche noch kurz mit der Krankenpflegerin, bedanke mich, sie sagt – es ist das Einzige, was ich behalten habe – , dass es gute Chancen gebe, weil mein Vater selbst den Entzug wolle. So wird es auch im Entlassungsbericht stehen: „Der Patient betonte im stationären Verlauf mehrfach, eine Entzugstherapie in einer psychiatrischen Klinik durchführen zu wollen. Hier konnte ein Platz im […] Klinikum […] organisiert werden. Nach Entlassung wird der Patient zunächst bis zum Beginn der stationären Therapie zu seiner Tochter ziehen.“

Joshua, der vor dem Krankenhaus auf mich wartet. In eine Umarmung hineinfallen, als könne so alles aufgehoben werden, nach Hause fahren, in die Morgendämmerung hinein, feststellen, dass jede Nacht, die wir überleben, eines Tages zu Ende geht.


[i] Jamison, Leslie: Die Klarheit. Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung. München 2018, S. 433

[ii] Ebd., S. 148

[iii] Schreiber, Daniel: Nüchtern. Über das Trinken und das Glück. München 2014, S. 33

[iv]

www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/a/alkohol.html (Letzter Aufruf: 26.09.2022, 19:18)

[v]

www.kenn-dein-limit.de/alkoholkonsum/alkoholkonsum-in-deutschland/

[vi] Schreiber, Daniel: Nüchtern. Über das Trinken und das Glück. München, S. 38

[vii] Ebd., S. 106

[viii] Tobias Bärtsch, Daniel Drognitz, Sarah Eschenmoser, Michael Grieder, Adrian Hanselmann, Alexander Kamber, Anna-Pia Rauch, Gerald Raunig, Pascale Schreibmüller, Nadine Schrick, Marilyn Umurungi, Jana Vanecek (Hg.): Ökologien der Sorge. Wien 2017, S. 164

[ix] In Anlehnung an die Ausführungen von Senthuran Varatharajah im Gegenwärts-Podcast: „Und ich denke, dass es eine Gnade des Vergessens gibt, genauso wie es eine Gnade der Liebe gibt. Nämlich zu sagen, und das ist ein Satz von Hermann Broch, in ‚Die unbekannte Größe‘ sagt er: Ich liebe dich, ist die Bitte, dass der andere sich öffnen möge.“

[x] Jamison, Leslie: Es muss schreien, es muss brennen. Berlin 2021, S. 79

[xi] Schreiber, Daniel: Nüchtern.Über das Trinken und das Glück. München 2014, S. 32

[xii]

www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Expertisen/diskrimrisiken_diskrimschutz_gesundheitswesen.pdf (Letzter Aufruf: 26.09.2022, 20:00)

[xiii] Schreiber, Daniel: Nüchtern. Über das Trinken und das Glück. München 2014, S. 32

[xiv] Jamison, Leslie: Die Klarheit. Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung. München 2018, S. 436

[xv] Schreiber, Daniel: Nüchtern. Über das Trinken und das Glück. München 2014, S. 24

[xvi] Vgl. hierzu Jamison, Leslie: Die Klarheit. Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung. München 2018, S. 168-169

[xvii] Winker, Gabriele: Solidarische Care Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima. Bielefeld 2021, S. 184

[xviii] Vgl. Fisher, Mark: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Hamburg 2020, S. 30

[xix] Winker, Gabriele: Solidarische Care Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima. Bielefeld 2021, S. 180

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