Theresia Enzensberger

Auf dem Berg des magischen Denkens

 

Um zum Geburtsort des modernen Neoliberalismus zu gelangen, muss ich ein Flugzeug, zwei Züge und eine Standseilbahn nehmen, an grasenden Rehen, Schweizer Flaggen und dem „Zentrum für höhere tibetische Studien“ vorbei, in dessen Garten ein älterer, buddhistischer Mönch in oranger Kleidung den Garten bestellt. Und dann stehe ich dort. Vor mir erhebt sich ein drohender Klotz, die Fassade grau und beige, wolkig wie der bewegte Himmel überm Genfer See. „Pèlerin Palace“ steht in großen Lettern über dem Eingangstor.
Die drei Türme des Gebäudes ragen hoch über dem Tal auf, Vevey und Montreux liegen ausgebreitet dort unten, auf der anderen Seite des Sees  stechen die französischen Alpen durch den Nebel.

Im ehemaligen „Hôtel du Parc“ trafen in der Osterwoche 1947 neununddreißig Wirtschaftswissenschaftler, Journalisten, Historiker und Philosophen zusammen. Die Einladung hatte Friedrich von Hayek ausgesprochen, der schon seit einigen Jahre mit dem Projekt beschäftigt war, einen neuen Liberalismus zu schaffen: 1938 nahm er am „Colloque Lippmann“ teil, bei dem man sich auf den Begriff „Neoliberalismus“ einigte. 1944 veröffentlichte er sein Buch Der Weg zur Knechtschaft, in dem er vor dem Autoritarismus warnte, den er in der zentralen, nationalen Planung der Wirtschaft zu erkennen meinte, die sich unter den Zwängen der Kriegswirtschaft auch in den westlichen Demokratien ausgebreitet hatte. Für ebenso autoritär hielt er die Art von Sozialliberalismus, für die John Maynard Keynes und seine Anhänger eintraten.

Hayek war der Meinung, Kapital, Güter und Löhne sollten vor staatlichem Zugriff geschützt werden. Konkret bedeutete das den Abbau der Sozialsysteme, die Privatisierung von staatlichen Einrichtungen, Steuersenkungen und Marktöffnung. Der neue Liberalismus, der ihm vorschwebte, grenzte sich vom klassischen Diktum des „Laissez Faire“ aber insofern ab, als dass er staatliche Eingriffe befürwortete, die den freien Markt aktiv stützten. Für diese Unternehmung brauchte er Mitstreiter.

Und so saß man also zusammen, in diesem Gebäude der Belle Époque, zwischen bunt gemusterten Tapeten und Blick auf den Genfer See; zwischen dem bislang kältesten Winter und dem heißesten Sommer seit Beginn der Temperaturmessungen. Gedanklich befand man sich zwischen den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und den Schrecken, die man kommen sah, nämlich die des Kollektivismus und der sozialliberalen Wirtschaftspolitik.
Es war ein kosmopolitisches Tagungsvolk, einige waren aus Amerika angereist, einige aus Österreich, aus England, Frankreich, Italien; mit Walter     Eucken gab es sogar einen Teilnehmer, der den Krieg in Deutschland verbracht hatte. Milton Friedman war dabei, ebenso wie Karl Popper, Wilhelm Röpke und Ludwig von Mises. Als einzige Frau war die Historikerin Victoria Wedgwood geladen.

Ob der bizarre Kontrast zwischen den Katastrophen, die an besagtem Osterwochenende 1947 besprochen wurden, und den eleganten, holzvertäfelten Räumlichkeiten, in denen man diskutierte, einem der Tagungsteilnehmer auffiel, ist fraglich. Jedenfalls wurde am Ende der Konferenz der Grundstein für eine Organisation gelegt, die bis heute als zentraler Knotenpunkt neoliberaler Netzwerke fungiert. Seit ihrer Gründung hat die „Mont Pèlerin Society“ fünf Regierungschefs und etliche Finanz- und Wirtschaftsminister zu ihren Mitgliedern gezählt, hat sich in der Politikberatung mit der strategischen Vernetzung internationaler Think Tanks einen Platz verschafft und hat an der Schaffung des „Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften“ mitgewirkt. So konnte sichergestellt werden, dass acht Mitglieder der Organisation einen Nobelpreis erhielten, obwohl der Wirtschaftsnobelpreis nur dem Namen nach einer ist. Die „Mont Pèlerin Society“ hat über die letzten Jahrzehnte rund um den Globus die Politik mitgestaltet, hat den Zeitgeist entscheidend geprägt und überall dort Einfluss genommen, wo sich eine Gelegenheit bot, neoliberale Wirtschaftspolitik umzusetzen – in Chile, im England der 70er-Jahre, im Amerika der 80er- und 90er-Jahre und, nicht zuletzt, nach dem Fall der Sowjetunion.

Auch der Ort, an dem der Grundstein für diese einflussreiche Gesellschaft gelegt wurde, ist mit der Zeit gegangen; drei Zimmer in zwei Appartements werden inzwischen als „Luxus-AirBnbs“ vermietet. Das Zimmer kostet angeblich 160 Euro die Nacht, mit Service- und Reinigungsgebühren und einer obligatorischen Buchung für zwei Nächte landet man dann aber schnell bei fast fünfhundert Euro für einen Aufenthalt. Jean, mein „Host“, wie es im AirBnb-Jargon heißt, kommt mir in kurzen Hosen und Sandalen entgegen. Er ist Franzose, hat eine gegelte Fußballerfrisur, ich schätze ihn auf Mitte dreißig. In der Lobby schallt uns laute Popmusik entgegen, eine haarsträubende Mischung aus golden angemalten Louis-quatorze-Sesseln, silbernen Ottomanen und glitzernden Kronleuchtern bevölkert den Raum. Ansonsten ist es  gespenstisch leer. In der Wohnung im ersten Stock, in der ich die nächsten zwei Tagen residieren werde, zeigt mir Jean nicht ohne Stolz die technolo-gische Ausstattung: ein smarter Herd; ein Elektrokamin, der mittels Wasserdampf die Illusion von Flammen erzeugt; eine Armatur mit unendlich vielen Knöpfen, mit denen man, wenn man Glück hat, die Gardinen öffnen oder das Licht dimmen kann. Im Spabereich gibt es eine Sauna, die über ein digitales Feld bedient, aber nicht geöffnet werden kann. Vor einer Wand aus grauem, glitzerndem Backstein stehen zwei abstrus hässliche Ledersessel, deren dramatisch zerknautschte Oberflächen an die Gesichter von Bulldoggen erinnern. Auf der Terrasse stehen zwischen riesigen silbernen Töpfen abweisend ein paar Gartenmöbel.

In diesem Haus stört nichts Altes, nichts tatsächlich Historisches. In den 2010er Jahren wurde das Gebäude komplett entkernt und saniert. Hier herrscht der internationale Oligarchenstil, ein Stil, nach dem überall dort gebaut wird, wo Investoren glauben, damit amerikanische, chinesische und russische Millionäre anlocken zu können. Ich werde mich in diesen Tagen oft verirren – an keiner der unzähligen Türen steht angeschrieben, ob sich dahinter nun der Weinkeller, der Konferenzraum oder das Heimkino verbirgt –, und genauso oft werden hinter einer der Türen Bauschutt, kahle Wände, oder eine monströse Krake aus Kabeln zutage treten. Der Ort ist einer Vorstellung von Luxus und Modernität verpflichtet, die kalt und bombastisch zugleich wirkt, und die mit dem Versuch zusammenhängt, die Kosteneinsparungen der Bauherren durch spiegelnde Oberflächen zu kaschieren.

An der Fassade jedenfalls hat die Denkmalpflege keine Änderungen zugelassen, sie wurde komplett rekonstruiert. Die Imitation erkennt man trotzdem, man hat das Gefühl, man blickt auf eine Simulation. Aber natürlich war auch das Original in gewissem Sinne schon eine Nachahmung: Die Hotelgroßbauten der Belle Époque, von denen das „Hôtel du Parc“ mit dem Baujahr 1906 ein spätes Exemplar war, orientierten sich an den Wohnstätten des Adels.

Ich versuche mir vorzustellen, wie Hayek hier, in diesem „Schloss des Großbürgertums“, am ersten Tag der Konferenz über den Zigarrenrauch hinweg die Teilnehmer begrüßte. An der Schreibmaschine saß die neunzehnjährige Dorothy Hahn, eine Studentin an der London School of Economics, und schrieb mit. Ihre Protokolle sind kurze Zusammenfassungen, die heute im  Archiv des Hoover Instituts zu finden sind. Es war Hayek, der am selben Nachmittag den ersten Vortrag hielt. In Bezug auf seinen Titel, „‘Freie‘ Wirtschaft und Wettbewerbsordnung“, sagte er: „Die zwei Begriffe bezeichnen nicht notwendigerweise dasselbe System, und es ist das System, das von letzterem beschrieben wird, das wir wollen.“ Es war ein Angriff auf den   „Laissez Faire“-Liberalismus, dem Anwesende wie Ludwig von Mises und Henry Hazlitt anhingen.

Hayek zufolge sollte Liberalismus nicht die völlige Abwesenheit des Staates bedeuten, sondern: „eine Strategie, welche den Wettbewerb, den Markt und die Preise bewusst als Ordnungsprinzipien anwendet und den gesetzlichen Rahmen, der vom Staat durchgesetzt wird, nutzt, um den Wettbewerb so effektiv und vorteilhaft wie möglich zu gestalten – und ihn nur dort ergänzt, wo er nicht effektiv gestaltet werden kann.“ Wie diese Gestaltung aussehen sollte, das war eine der Hauptfragen, mit der sich die Konferenzteilnehmer in den nächsten Tagen auseinandersetzen sollten. Worin hingegen Einigkeit bestand, war die Sorge über die „extremen egalitären Ziele“ zeitgenössischer Gesellschaften, von denen Hayek sprach, und die sich in Steuerpolitik und der „Macht“ der Gewerkschaften ausdrückten. Hayek befand: „Die Frage, wie die Macht von Gewerkschaften angemessen eingeschränkt werden kann, sowohl rechtlich als auch tatsächlich, ist eine der wichtigsten Fragen, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken können.“

Die Anwesenden mögen es als Provokation empfunden haben, dass Hayek in seinem Vortrag ausgerechnet Keynes’ berühmte Sätze von der Macht der Ideen in voller Länge zitierte. In der „Allgemeinen Theorie“ heißt es: „Praktische Männer, die sich von intellektuellen Einflüssen verschont halten, sind üblicherweise Sklaven eines toten Ökonomen. An der Macht befindliche Verrückte, die Stimmen in der Luft hören, leiten ihren Irrsinn von einem wenige Jahre alten akademischen Geschreibsel ab. Ich bin sicher, dass die Macht von Partikularinteressen im Vergleich zum allmählichen Vordringen von Ideen grob überschätzt wird.“ Die Ökonomen, Historiker, Journalisten und Philosophen, die in den dunklen Sälen des „Hôtel du Parc“ zusammengekommen waren, glaubten an den Einfluss, den ihre Gedanken graduell entfalten würden.

Auch deshalb hatte die „Mont Pèlerin Society“ von Anfang an einen klaren Auftrag: Die Ideen des Neoliberalismus in die Welt zu tragen und an möglichst vielen Stellen zu implementieren. Was ein solches Vorgehen notwendigerweise mit sich bringt, ist die unterschiedlichste Auslegung und Umsetzung dieser Ideen. Es ist ein beliebter Allgemeinplatz, zu behaupten, der Begriff des Neoliberalismus sei heutzutage aufgeweicht und diffus; niemand wisse mehr genau, was eigentlich damit gemeint ist. Dabei sind die Kämpfe um  Definition und Erbe der Ideen der „Genfer Schule“, wie es Quinn Slobodian nennt, schon in der Gründungsphase angelegt. Wer durch möglichst breite Streuung von Ideen auf Politik und Geisteswissenschaften einwirken will, muss damit rechnen, dass Marktfundamentalisten wie Reagan, Thatcher, Trump, ja sogar Politiker des „dritten Weges“ wie Schröder und Blair sich diese Ideen aneignen und zu ihren Zwecken umformen.

Wie Ola Innset in seinem Buch Reinventing Liberalism beschreibt, erinnert sich Dorothy Hahn, die junge Studentin aus dem ausgebombten London, noch heute daran, dass es beim Mittagessen Orangen gab. Sie hatte in ihrem Leben noch keine Orange gegessen und wusste nicht, wie man sie schält. Hayek kam ihr zu Hilfe, was Hahn als große Peinlichkeit empfand. Diese Anekdote sagt viel darüber aus, wie sehr die Tage am Mont Pèlerin von den Realitäten der Nachkriegszeit geprägt waren. Das „Dazwischen“ bestimmte die Atmosphäre. Was sich hier, in frühesten Tagen des Neoliberalismus, schon andeutet, ist das Gewicht, das diesem „Dazwischen“ in den folgenden Jahrzehnten zukommen wird. Wirtschaftspolitik wird für die Bevölkerung immer dann am stärksten spürbar, wenn gerade eine Krise oder ein Umbruch stattgefunden hat, dann nämlich, wenn der Staat reagieren muss. Auf die Wirtschaftskrise 1929 reagierte der Staat mit sozialliberalen Methoden, die sich in den folgenden Jahren als Konsens verfestigten. Hayek und seine Anhänger fanden diesen Konsens gefährlich. Auch daher kam die Dringlichkeit, mit der die Diskussionen geführt wurden. Denn eine Krise, sei es eine Wirtschaftskrise, eine Naturkatastrophe, ein politischer Umbruch oder auch eine Pandemie, ist immer auch eine Chance auf Transformation. Das Chaos, das auf eine solche Krise folgt, ist die perfekte Gelegenheit, um neoliberale Ideen in der Politik zu verankern, wie Naomi Klein in ihrem Buch Die Schock-Strategie argumentiert.

Krisen scheinen im „Pèlerin Palace“ nicht zu existieren. Als ich mit Maske zur Tür hereinkomme, winkt Jean ab. Das hier sei „Private Property“, sagt er, als würde das etwas erklären. Ich behalte meine Maske auf und frage ihn, wem dieses Gebäude heute gehört. Er sei der Besitzer, erklärt er mir und überblickt stolz die vollgestellte Lobby, schon seit 2008 wohne er hier. Später, am Pool, der gekippt ist und dunkelgrün, sagt er etwas von einem Neuanfang und davon, dass es mit seinen ehemaligen Geschäftspartnern Probleme gegeben habe. Seine Bulldogge, die er „Nala“ getauft hat, pinkelt ins Gras.

Ein Blick ins Handelsregister und eine kurze Google-Recherche später weiß ich, dass es sich bei Jeans ehemaligem Geschäftspartner um Ilyas Khrapunov handelt. Langsam bekomme ich eine Vorstellung davon, was Jean gemeint haben könnte, als er von „Problemen“ sprach. Ilyas Khrapunov ist der Sohn von Viktor Khrapunov, dem ehemaligen Bürgermeister von Almaty. 2008 floh Viktor Khrapunov mit seiner Frau Leila in die Schweiz – angeblich mit einem Jet voller Kunst, Antiquitäten und anderer Wertgegenstände. Ihr Sohn Ilyas war bereits vor Ort, er hatte dort die Universität besucht. „Es ist gut, Schweizerisch zu sein!“ lautete der Slogan der Firma, die von den Khrapunovs in Genf als Zentrum ihrer finanziellen Aktivitäten etabliert wurde: die „Swiss Development Group“ (SDG). Seit 2012 klagt die Stadt von Almaty in mehreren Ländern gegen die Khrapunovs, der Vorwurf: Sie sollen mehr als 300 Millionen Dollar veruntreut und durch Immobiliengeschäfte in die Schweiz geschleust haben. Außerdem, so ist es in Gerichtsakten des „United States District Court“ in New York zu lesen, sollen sie in den USA zusammen mit Mukhtar Ablyazov investiert haben, dem ehemaligen Energieminister Kasachstans. Bis 2009 war dieser Vorsitzender der BTA Bank, von der er mehr als 10 Milliarden Dollar gestohlen haben soll. Ablyazov, der sich auch in den „Paradise Papers“ die Ehre gibt, ist Ilyas Khrapunovs Schwiegervater.

Die „Swiss Development Group“ jedenfalls fängt 2008 an, in der Schweiz zu investieren. Neben einem Einkaufszentrum, einem Beach Resort und mehreren anderen Luxusimmobilien kauft die Firma auch das „Hôtel du Parc“. Fortan soll es „Pèlerin Palace Private Residencies“ heißen und von der  Kempinski Group verwaltet werden. Die Hoffnungen, die die Khrapunovs in ihr Prestigeprojekt setzen, sind groß. 2013 jubelt die NZZ, hier werde die „teuerste Wohnung“ der Schweiz verkauft. Der Basketballspieler Tony Parker lässt sich auf die Liste der Interessenten setzen, Claudia Schiffer wirbt als „Botschafterin des Hauses“ für die Appartements. Allein, drei Jahre später, im Januar 2016, ist das Gebäude immer noch eine Baustelle. Der Schweizer Sender „RTS“ berichtet, dass rund fünfzehn am Bau beteiligte Unternehmen die „Swiss Development Group“ wegen unbezahlter Rechnungen in Höhe von 2,5 Millionen Franken verklagen.
Angesichts der Schwierigkeiten, in denen sich die Khrapunovs zu diesem Zeitpunkt schon befinden, ist ihre Abwesenheit nicht weiter verwunderlich. Viktor Khrapunov gilt 2012 als von Interpol gesucht, in England und den USA laufen Gerichtsverfahren, und auch die Schweizer Staatsanwaltschaft eröffnet ein Strafverfahren gegen die Familie. Im selben Jahr übergibt Ilyas   Khrapunov den Firmenvorsitz der „Swiss Development Group“ an den Schweizer Geschäftsmann und früheren Genfer CVP-Präsidenten Philippe Glatz, der allerdings laut der New Yorker Anklageschrift lediglich als Strohmann der Khrapunovs agiert haben soll.

2016 berichtet die Financial Times über eine weitere Verbindung der Khrapunovs in die Schattenwelt der internationalen Finanzwirtschaft: Die Familie soll Wohnungen im „Trump Soho“ gekauft und mit Felix Sater von der „Bayrock Group“ zusammengearbeitet haben. Sater, der sich 1998 schuldig bekannte, an einem 40 Millionen Dollar schweren Börsenbetrug der russischen Mafia beteiligt gewesen zu sein, und der 2006 noch als einer der engsten Berater von Donald Trump galt, geriet 2019 in das Visier der Mueller Investigation. Tatsächlich steht in einer alten Marketingbroschüre der „Bayrock Group“ unter „Internationale Projekte“: „Die ‚Bayrock Group‘ und ein Partner sind im Begriff, das ‚Hôtel du Parc‘ zu akquirieren.“ Auf der letzten Seite des Hefts lächelt von einem verpixelten Schwarzweißfoto Donald Trump herunter. Er steht neben Tevfik Arif, dem Gründer der „Bayrock Group“, und vor einer Wand von Fotos mit weiteren lächelnden Donald Trumps.

In der Schweiz ist man gespalten darüber, was man von der kasachischen Familie halten soll. Die Khrapunovs behaupten, sie seien Opfer einer politisch motivierten Kampagne des kasachischen Präsidenten Nursulatan     Nasarbayev geworden. Und natürlich war sich der Diktator bisweilen auch für zwielichtige Methoden, der Khrapunovs habhaft zu werden, nicht zu schade. 2015 stand Christa Markwalder von der Freisinnig-Demokratischen Partei in der Kritik, sich von einer Lobbyorganisation der kasachischen Regierung für eine Anfrage über die Schweizer Beziehungen zu Kasachstan instrumentalisiert haben zu lassen. Ob es an der sogenannten „Kasachstan-Affäre“ lag oder an mangelnden Beweisen, jedenfalls ließ die Schweizer Staatsanwaltschaft die Anklage 2019 fallen und im Januar dieses Jahres erhielten die Khrapunovs sogar Asyl in der Schweiz.

Woher aber kommt dieses ganze Geld, dass die Khrapunovs angeblich in der Schweiz reinwaschen wollten? 2018 beschrieb Sergey Perov, der Chef der Anti-Korruptionsbehörde in Kasachstan, dem „Diplomat“ das angebliche System der Hinterziehung so: „Bürgermeister Khrapunov wies seine Untergebenen an, ein fiktives Verkaufsangebot an eine Firma zu machen, die letztendlich seiner Frau Leila gehörte. Danach verkauften die Khrapunovs das Objekt zum Realwert an eine dritte Partei. Ein Grundstück aus Staatseigentum wurde zum Beispiel gekauft und einen Tag später für das Fünfundvierzigfache weiterverkauft. Er ist kein tugendhafter Mann; er hat sogar einen Kindergarten und ein Krankenhaus für Kriegsveteranen privatisiert.“

Ob das alles so stimmt, müssen die Gerichte entscheiden. Außer Frage steht allerdings, dass die rasante Privatisierungskampagne, die nach dem Fall der Sowjetunion vom IWF und anderen Organisationen vorangetrieben wurde, vielen Akteuren die Gelegenheit gab, sich zu bereichern. 2003, zehn Jahre nach Boris Jelzins Triumph in der Duma, bemerkte Joseph Stieglitz: „Während der Jahre der IWF-Programme bot die Marktwirtschaft – mit hohen Zinsen, illegitimen Privatisierungen, schlechter Unternehmensführung und Finanzmarktliberalisierung – lediglich Anreize für die Zerschlagung und Ausschlachtung von Unternehmen.“ Das vielbeschworene „Window of Opportunity“ bekommt im Nachhinein einen ganz anderen Klang. Darüber, ob Jeffrey Sachs, einer der prominentesten Architekten der Schocktherapie, Hayek gelesen hat, brauchen wir nicht spekulieren: 1992, in dem Jahr, in dem Friedrich von Hayek starb und zu einem der „toten Ökonomen“ wurde, über die Keynes damals sprach, hielt Sachs die erste „Hayek Lecture“ am Institute of Economic Affairs. Die kasachische Bevölkerung hat das „allmähliche Vordringen von Ideen“, das Hayek damals beschwor, auch wegen Leuten wie Sachs am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Jean, der mit Nachnamen Lecler heißt und der in keinem der Dokumente zur „Swiss Development Group“ auftaucht, kennt Hayek jedenfalls nicht. Auch über seine ehemaligen Geschäftspartner will er, wenig überraschend, nicht sprechen. Was er mir allerdings verrät, ist der Name seiner Firma, der das Gebäude heute angeblich gehört: Sie heißt „Nala International Invest Bank“; er hat sie nach seiner französischen Bulldogge benannt. Die Webseite der Bank ist selbst ein Kunstwerk. Ein ornamentales Design rankt sich um die Buchstaben „NIIB“. Im Hintergrund spielt ein kitschiger Film, der die Skyline von Dubai zeigt, die Wüste, einen majestätischen Falken, glänzende Hochhäuser, arabische Männer mit Ghuttras und einen westlich aussehenden Geschäftsmann, der dynamisch die Zeitung aufschlägt. Es ist das geballte Pathos der Leute, die gern das Wort „Fortschritt“ verwenden.

Unter dem Film findet sich der „CEO“ der Firma: Sabah Ben Rachid Al Abdessalem. Daneben ein Foto von einem Mann, der bestimmt und tatkräftig in die Kamera schaut. Al Abdessalem ist schwer zu googeln, weder in arabischer noch in lateinischer Schrift taucht sein Name irgendwo auf. Einer Ahnung folgend starte ich eine umgekehrte Bildersuche, und siehe da: Es ist ein Stockfoto. Ansonsten gibt es kaum Informationen auf der Webseite, vier     Adressen stehen da, in Brüssel, New York, Zürich und Dubai, allesamt mit Postleitzahlen in französischem Format. An drei der vier Adressen befindet sich nichts, was auf die „Nala International Invest Bank“ hinweist, kein Briefkasten, kein Schild, niemand hat je etwas von dieser Firma gehört. Nur in Dubai habe ich keine Gelegenheit nachzusehen, auch hat der „Goldcrest Executive Tower“, wo sich die Firma angeblich befindet, keine Telefonnummer, die man anrufen könnte. Ich sehe in französischen, belgischen, schweizerischen, amerikanischen Handelsregistern nach: Nichts. Auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten ist die Firma nicht registriert, zumindest nicht offiziell – es gibt dort 47 Sonderwirtschaftszonen, deren Register man nicht einsehen kann.

Ein etwas undurchsichtiger „Host“, der ein Luxus-AirBnb führt. Sonderwirtschaftszonen, die es unmöglich machen, Finanzflüsse nachzuvollziehen. Eine kasachische Oligarchenfamilie, die der Geldwäsche bezichtigt wird.   Der ehemalige Bürgermeister von Almaty, der sich während der rapiden Privatisierung postsowjetischer Staaten bereichert haben soll. Ein russischer Mobster, der mit Donald Trump Immobiliengeschäfte macht. Ein Belle-Époque-Hotel, das entkernt wird und als Kopie seiner selbst im Plattformkapitalismus wiederaufersteht. Sind das nun die logischen Konsequenzen einer Geschichte, die 1947 ins Rollen gebracht wurde? Schließt sich hier, auf dem Mont Pèlerin, der Kreis? Vielleicht geht das zu weit. Eines jedenfalls ist sicher: „An der Macht befindliche Verrückte“ nehmen keine Rücksicht auf die Feinheiten akademischer Differenzierung. Das gedankliche Erbe ist unkontrollierbar. Selbst die ernsthaften, zigarrerauchenden Begründer der Mont Pèlerin Society waren dazu nicht in der Lage. Denn die Macht der Ideen liegt ja gerade in ihrer Veränderlichkeit. Eine Idee ist kein Fixpunkt, sie existiert nicht im luftleeren Raum, sie ist angewiesen auf Auslegung und Interpretation. Und so spiegeln sich die Ideen des Neoliberalismus in allen glänzenden Oberflächen des „Pèlerin Palace“.

Dieser Text erschien im Oktober 2021 in leicht veränderter Fassung im Schweizer Online-Magazin Republik.

 

Ein Programm der Crespo Foundation Logo Crespo Foundation