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Puszta

 

° Landschaften sind Ausdruck von mehr-als-menschlichen Dramen und stellen somit ein radikales Instrument zur Relativierung menschlicher Hybris dar. °[i]

Drama, denke ich. Und Instrument. Und weiß plötzlich nicht mehr, ob ich im Schreiben am richtigen Ort bin. 

 

Ich bekomme Dutzende Pfirsichbäume mit Trockenschäden von einem Züchter in der Region geschenkt.

Wir graben Löcher in den trockenen, sandigen Boden für die vertrockneten Bäume.

Und sagen: Mal sehen.

 

Am Fuße des Salzbergs stehen jetzt Weingartenpfirsiche im Garten zwischen den Reben.

 

Der Opa sagt mir, er hat die Bäume gespritzt. Pfirsichbäume, das geht nicht ohne Kupfer.

Ich sage: Wie bitte?

Und schlucke meinen Ärger von der Zunge.

 

° meine gedanken sind schon weit weg

  wo es weder hass noch vergebung gibt

  sondern einfach nur

  wald °[ii]

 

Bei uns gibt es keinen Wald,

es gibt nur Reben, Gräser und ein Wäldchen.

 

Das gehört genau genommen auch schon zum nächsten Dorf.

 

Als ich ein Kind war, dachte ich, dass die Puszta so heißt, weil der Wind so stark pustet.

Der Wind, der durch die Steppe fegt,

kein Wald, der ihn aufhält.

 

Der Begriff Puszta leitet sich vom altslawischen Wort pustь ab, das mit öde, wüst, leer, verlassen übersetzt werden kann. Wie passend, denke ich, dass der Begriff mit einem Zeichen endet, das überhaupt nicht betont wird. Das Wort mit einer Leere zurücklässt, verlässt. 

Die ins Ungarische entlehnte feminine Ableitung Puszta bedeutet also so viel wie Einöde, Wüste, unfruchtbares, brachliegendes, verlassenes oder unbebautes Land.

Der Begriff steht außerdem für landwirtschaftlich extensiv und intensiv genutzte Gebiete wie Heiden, Weideländer, Grassteppen, aber meint auch große Landgüter und Meierhöfe.

 

Die Puszta besteht aus baumarmer Steppe mit stark kontinentalem Klima. Sie entstand als Waldsteppe vor über 35.000 Jahren, verwandelte sich in eine Grassteppe vor 8000 Jahren, breitete sich in den letzten 3000 Jahren durch menschliche Einwirkung als Kultursteppe beziehungsweise Sekundärsteppe schrittweise aus.

Vom 14. bis zum 18. Jahrhundert wurden viele Äcker und Waldinseln zerstört. Kriege, die Senkung des Grundwasserspiegels durch Regulation der Flüsse und Bewässerung, die Etablierung invasiver langer Steppengräser und die Überweidung durch Nutztiere führten zu einer sekundären Ausbreitung. Auch die mit dem 20. Jahrhundert einsetzende intensive Landwirtschaft hat weiter zur Versteppung beigetragen.

 

Ich rede mit einem Kollegen im Dorf, der seine Mandelbäume nicht spritzt. Man braucht Geduld, sagt er. Nach einigen Jahren wären die Bäume kräftig genug, die Schädlinge weniger.

Und eigentlich, sagt er, möchte er die Läuse und andere Insekten eigentlich gar nicht als Schädlinge betrachten, sondern als Marker für Mängel innerhalb des Systems, die den Landwirt*innen helfen, die Bedürfnisse der Kultur zu verstehen.

Mit Kultur meint er die Mandelbäume. Ich frage mich, ob man das nicht weiter fassen könnte.

 

˚ Nirgendwo in der Natur existiert ein Organismus isoliert für sich allein. Alle leben in Lebensräumen, die entweder ihr Leben ermöglichen oder ihre Vitalität bedrohen. Viele Organismen reagieren empfindlich auf subtile Veränderungen des Klimas, der chemischen Zusammensetzung oder der Ökologie, die ihren Lebensraum ausmachen. Frösche und andere Amphibien zum Beispiel reagieren überempfindlich auf jede Art von Veränderung – von Temperaturschwankungen bis hin zu solchen, die mit dem Vorhandensein von Giftstoffen zusammenhängen. [...] Der Mensch ist eine generalistische Spezies, die in fast allen Lebensräumen überleben kann und in sehr vielen gedeiht. Aber gerade diese Unempfindlichkeit gegenüber Veränderungen in unserer Umwelt kann zum Untergang unserer Spezies führen. [...] wir könnten lernen, sensibler für die Veränderungen zu sein, die wir in unseren wirtschaftlichen und ökologischen Lebensräumen verursachen, und unsere Gewohnheiten entsprechend anpassen. ˚[iii]

 

In meinem Garten blüht überall Klatschmohn.

Zeigerpflanze, sagt die Mama.

Zeigerpflanzen, auch Indikatorpflanzen, geben Auskunft über Bodenbeschaffenheit und eventuelle Schadstoffe.

Sandiger oder kalkreicher Boden, sagt Google. 

 

Tsing schreibt, wenn wir uns für Lebensqualität, Unbeständigkeit und Emergenz interessieren, dann sollten wir die Geschehnisse in Landschaftsgefügen beobachten. Gefüge wachsen zusammen, wandeln sich und lösen sich auf.[iv]  

 

Die Pfirsichbäume zwischen den Reben sind massiv von Läusen befallen.

Ich sage: Mal schauen.

Und schaue den Marienkäfern dabei zu, wie sie sich vermehren.

 

Der Kollege, mit dem ich gesprochen habe, orientiert sich an regenerativen, agroforstwirtschaftlichen Methoden.

Agroforst ist ein (mehrstöckiges) landwirtschaftliches Produktionssystem, das Bäume oder Sträucher, Feldfrüchte oder Nutztiere auf derselben landwirtschaftlichen Nutzfläche kombiniert.

Zentral für alle Formen der Agroforstwirtschaft sind bewusst genutzte Wechselwirkungen, sodass im Idealfall sämtliche Nutzungspartner von den vielfältigen Wechselbeziehungen dieser Gemeinschaft profitieren.

 

Mykorrhiza, sagt der Papa. Und Wechselbeziehungen. Und redet von der Rebe.

Ich sage: Waldgarten.

Mein Bruder sagt: Wald und Weinbau.

Die Oma sagt: Jessas. 

 

Bei uns gibt es keinen Wald, sagen die Menschen hier. Was willst du mit Forstwirtschaft? Alley Cropping, Forest Farming, Waldgarten, was soll das sein? Sagen der Nachbar, die Oma, die Tante, der Cousin, der Bruder, die Ärztin, die Buchhändlerin.

Der Wirtshausbesitzer sagt: Cool, ich kauf dir was ab. 

Der Windschutzgürtel oben, sage ich zum Nachbar, zur Oma, zur Tante, zum Cousin, zum Bruder, zur Ärztin, zur Buchhändlerin, auch das ist Agroforst.

Ah, das ist ja dann schon immer da, was willst dann Neues machen, sagen der Nachbar, die Oma, die Tante, der Cousin, der Bruder, die Ärztin, die Buchhändlerin.

Oder die Streuobstwiesen, sage ich

 

und pflanze alte Obstsorte um alte Obstsorte auf schmalen Streifen zwischen den Reben.

 

Aus wirtschaftlichen Gründen ist die Bedeutung von Streuobstwiesen in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen. Bei Streuobstwiesen dient die Fläche unter den Bäumen als Wiese oder Weide. Der Ertrag kann nicht mit den Erträgen von Plantagen mithalten.

Strukturwandel, Flurbereinigungen und die zunehmende Mechanisierung und Intensivierung der Landwirtschaft haben traditionelle Agroforstsysteme stark zurückgedrängt und teilweise ganz zum Verschwinden gebracht.

 

Wenn ich spaziere, sehe ich Baumleichen am Boden liegen, uralte Kirschbäume, die für eine leichtere maschinelle Bearbeitung im Weingarten gefällt wurden. Da stand mal ein Walnussbaum, denke ich, da war eine Mandel, ein Pfirsich, ein Feigenbaum.

 

Dazwischen komme ich aber auch an unseren neu gesetzten Bäumen vorbei, die schmal und dünn im Wind zittern, in den zu heißen, trockenen Sommern noch auf Bewässerung angewiesen.

Hainbuche

Feldulme

Linde

Esche

Bergahorn

Walnuss

Mandel

Apfelbäume

Marillenbäume

Birnbäume

Zwetschgenbäume

Kirschbäume

Mirabellenbäume (hier: Kriecherl)

 

Es wird dauern, bis sie Schatten spenden.

 

Manche der Weingartenpfirsiche kommen nicht durch, manche werden über den Sommer kräftiger. Die Paradeiser zwischen den jungen Bäumen gedeihen prächtig, die Artischocken werden größer, die Schwarzwurzeln verschwinden im Unkraut, die Okra bildet wegen dem Wassermangel zu wenig Früchte, die Stangenbohnen ranken nicht an den Maispflanzen, die Maiskolben haben trockene harte Körner, sind ungenießbar und die Zeisel und Mäuse fressen die Kürbisse.

Während ich gieße, mache ich Instagram-Stories von den Schmetterlingen auf den Sonnenblumen, den Marienkäfern auf den Pfirsichbäumen, den kleinen Käfern auf dem Wilden Salbei, den Malven, von den Eidechsen unter den Hackschnitzeln, von dem Licht am Fuße des Salzbergs am Abend.

 

° Landschaften sind keine Kulissen für historisches Handeln: Sie selbst handeln. Beobachtet man die Formierung von Landschaften, sieht man, wie Menschen sich mit anderen Lebewesen verbinden, um Welten zu gestalten. °[v]

Landschaften, könnte das nicht ein Verb sein, frage ich mich. Sie landschaftet, wir landschaften.

 

Für Tsing sind Landschaften Ergebnisse einer unbeabsichtigten Gestaltung, die aus den sich überlagernden welterzeugenden Tätigkeiten zahlreicher menschlicher wie nichtmenschlicher Akteure entstehen. Die Gestaltung zeige sich klar im Ökosystem einer Landschaft, auch wenn niemand diese Wirkung geplant hat.[vi]

 

Agroforstsysteme wirken sich in vielfältiger Weise positiv auf Umwelt und Ökosysteme aus.

Tiefwurzelnde Gehölze wie Bäume und Sträucher können Wasser aus tieferen Erdschichten aufnehmen und dann über Verdunstung durch die Blätter an die umgebenden und weniger tief wurzelnden Pflanzen abgeben. 

Herabfallendes Laub wirkt wie eine Mulchschicht und hält die Feuchtigkeit im Boden. Wenn das Laub mit der Zeit von Mikroorganismen zersetzt wird, wird dabei der Boden mit wichtigen Nährstoffen wie Kalium, Magnesium und Phosphor versorgt.

Die Bäume und Sträucher in einem Agroforstsystem schützen außerdem vor Verunreinigung der Gewässer. Indem sie Schadstoffe speichern, verhindern sie, dass sie ins Grundwasser gelangen. Außerdem werden im Holz von Bäumen und Sträuchern erhebliche Mengen an CO2 gebunden.

Agroforstsysteme bieten vielfältigen Tierarten Lebensraum und Nahrung und können damit zum Erhalt der Artenvielfalt beitragen. Nistplätze in Bäumen und Sträuchern, geschützte Überwinterungsmöglichkeiten für Insekten. Mehr natürliche Fressfeinde im Umkehrschluss führen zu einer geringeren Ausbreitung von (zumindest aus der Perspektive von Landwirt*innen so genannten) Schädlingen.   

 

Wasser kann man pflanzen, sagt der Bauer Ernst Götsch, der sich seit Jahrzehnten für syntropische Landwirtschaft einsetzt. Eine besonders intensive Form der Agroforstwirtschaft, bei der der Aufbau eines optimalen natürlichen Ökosystems wie das der natürlichen Urwälder nachgeahmt wird. Die Methode erfordert ein tiefes Verständnis für die komplexen Vorgehensweisen der Natur sowie Grundlagen von Pflanzensoziologie, Bodenbiologie und unterstützenden Faktoren wie Mykorrhiza und anderen Biostimulanzien.

 

° Vermutlich hören wir alle täglich, es sei ein Ausdruck für den Zustand des Erdballs, wie die Regenwälder leben und atmen. Aber warum sollte es nicht, auf dieselbe Weise, ein Ausdruck für den Zustand des Erdballs sein, wenn wir als Menschen leben und atmen und uns ausdrücken, z. B. über den Zustand der Regenwälder. Wir müssen wissen, dass wir nicht hinauskommen können. Wir können so tun, als ob. Aber dies, dass wir tun können, als ob, ist immer noch ein Teil davon, dass wir nicht hinauskommen können. °[vii]

 

Um Geschichten von Landschaften erzählen zu können, muss man ihre menschlichen und nichtmenschlichen Bewohner kennen[viii], schreibt Tsing und ich denke über die Böden hinter unserem Haus nach, auf die ich meine Füße setze, in denen ich mit dem Spaten grabe: Ton, Schluff, Kalk, Sand, Schotter. Und ich denke an die Risse im Boden. Ich kann nicht mehr an den Boden denken, ohne an seine Auskunft über den fehlenden Regen, die Dürre zu denken.

 

˚ Gibt es ein Denken der Erde, eine überliefernde Form, eine Sprache der Erde, ein Selbstbewusstsein? Kann die Erde etwa mittels eines kleines Hammers eine aufgefangene Schwingung übertragen oder verlauten lassen oder aussprechen? Gibt es große Küstenworte, Bergworte, gibt es Blattflüstern, Landerzählungen? Ist die Welt ein Stimmenplanet? Knetet dieser Planet etwas Unverlöschbares, Magmatisches? Paste, Teig, Brei, Erdbrei? Erdbeere? ˚[ix]

                           

Ich überlege, ob Tsing nicht vielleicht meinen könnte: Damit Landschaften Geschichten erzählen können, muss man ihre menschlichen und nichtmenschlichen Bewohner*innen kennen.

 

Ich gehe mit einem Kindheitsfreund am Salzberg spazieren. Dort, wo wir früher, als es in den Wintern noch ausreichend Schnee gab, immer rodeln waren.

Der Freund zeigt mir einen Weg zwischen den Weingärten, den ich seit bestimmt zwanzig Jahren nicht betreten habe. Ein dicht bewachsener Streifen, der nicht bewirtschaftet wird. Wir ducken uns und biegen Äste aus dem Weg.

Hier links irgendwo, zeigt er mit einer Handbewegung, verschwindet im Dickicht, das sind Zwergmandeln. Die gibt es hier nicht mehr oft. Und überhaupt gibt es sie nur hier im pannonischen Osten. Sie werden in der österreichischen Roten Liste als stark gefährdet geführt.

Hier rechts, er taucht wieder auf, ein Feldhase erschrickt und hoppelt davon, das ist eine Wildbirne. Am Rückweg pflücke ich Kerbel, der den Boden dicht bedeckt, für die Suppe. Wir reden über Agroforst, Marktgärtnereien und Foodcoops. Edaphon, sagt der Freund. Was, frage ich. Ich habe Megafon verstanden. Bodenorganismen und Bodenmikroorganismen, sagt er.

 

Die Welt könne vielleicht sowohl lesen als auch gelesen werden kann, schreibt Inger Christensen.

° Dass Eindrücke geerntet werden können, so wie Trauben geerntet werden. Dass Zeichen gesammelt werden können, so wie Nahrung gesammelt wird. Dass wir Menschen eine Vielfalt von Zeichen lesen können, von den Bewegungen von Sternen und Wolken über Vogel- und Fischschwärme bis hin zu Ameisensprache […]. Aber auch die Ameisen lesen. Auch die Bäume lesen und wissen auf die Sekunde genau, wann sie die Blätter hängen lassen müssen, wenn ihre Blüte in Gefahr ist. °[x]

 

 

Im Amazonasgebiet befindet sich etwa zwanzig Meter im Inneren des Regenwalds eine Baumart, die eigentlich ansonsten in der Savanne zu finden ist. Bruno Latour stellt sich die Frage: Dringt der Wald in die Savanne vor oder ist es umgekehrt? Latour beobachtet Wissenschaftler*innen, die einen kleinen Streifen Land untersuchen, eine Linie, entlang derer die Savanne in den Urwald übergeht. Die Forscher*innen entnehmen Bodenproben und vergleichen die Bodenbeschaffenheit. Es stellt sich heraus, dass die Bodenbeschaffenheit zwischen Urwald und Savanne sich nicht genau entlang der Vegetationsgrenze verändert, sondern mit einer Verschiebung von ungefähr zwanzig Metern. Der Boden unter den savannentypischen Bäumen im Wald ist tonhaltiger als jener in der Savanne, allerdings weniger tonhaltig als für den Wald typisch.[xi]

Regenwürmer haben sich aus Menschen unbekannten Gründen am Rand des Regenwaldes angesiedelt und dort große Mengen Aluminium produziert. Das Aluminium hat die Kieselerde des sandigen Bodens in Lehm, der von Waldbäumen bevorzugt wird verwandelt. Latour kommt zu dem Ergebnis: Der Wald frisst sich in die Savanne.

 

Jane Bennett zeigt die Parallelen auf zwischen dem Handeln von Menschen, die ihren Besitz in neue Wohnungen transportieren, und Regenwürmern, die Laub zu ihren Erdlöchern tragen oder an die Grenze von Savanne und Wald migrieren.[xii] 

Während die Aktanten vielleicht nicht über dieselbe Handlungsmacht verfügen, lässt sich doch nicht abschließend klären: Weshalb sind die Würmer an den Waldrand gezogen? Gab es einen Grund? Lag es an den menschlichen Bewohner*innen, die die Würmer dazu veranlasst haben, sich eine neue Siedlung zu suchen?

 

Jedenfalls eine Störung. Störungen, schreibt Anna Tsing, öffnen das Gelände für sich wechselseitig verändernde Begegnungen, die neue landschaftliche Gefüge möglich machen. Störungen sind nicht per se negativ – und auch nicht unbedingt menschlichen Ursprungs. Erst einmal sind Störungen nur das. Eine Störung folgt der anderen. Es gibt keinen harmonischen Zustand, der der Störung vorhergeht. Alle Landschaften sind gestört. Ob jedoch eine Störung verkraftbar ist oder nicht, zeigt sich an dem, was folgt: an der Art, wie sich Gefüge umgestalten.[xiii]

Das Interessante am Begriff der Störung ist die Perspektive:

° Was als Störung betrachtet wird, ist stets eine Sache von Perspektive. Aus Sicht des Menschen hat die Störung, die einen Ameisenhügel verwüstet, eine ganz andere Dimension als die, die eine Stadt auslöscht. Aus der Perspektive der Ameise sieht das völlig anders aus. °

Tsing fordert, den Beurteilungsverfahren Aufmerksamkeit zu schenken, die Störung überhaupt erst sichtbar machen. Störung führe zu Heterogenität, einem Schlüsselmoment bei der Beobachtung von Landschaften.[xiv]

 

Ich frage mich, welche Rolle die Lyrik, als Beurteilungsverfahren, um Störung sichtbar zu machen, haben könnte. 

 

So heißt es etwa bei Uljana Wolf nach A. Pieyre de Mandiargues: ° Die Eigenart des Waldes besteht darin, zu gleicher Zeit geschlossen und allseitig geöffnet zu sein. °

Sie fährt fort: ° Ich glaube, ein gutes Gedicht hat eben jenen Charakter. […] Aus dem Wortschatz wird ein Wohnschatz, das Gedicht ist bewohnbar, die Grundworte ruhen in sich und sprechen uns an. Und das Gedicht ist nach allen Seiten offen, ist zugig, unbewohnbar, wenn es über sich hinausweist, mit unerwartetem Bild, mit klarer Fügung einem den Stoß versetzt, der aus dem Vertrauten ins unvertraut Neue führt, das Unformulierbare hinter den Worten spürbar macht. °[xv]

 

Ich denke, ich weiß jetzt, dass ich im Schreiben am richtigen Ort bin. Einem gleichzeitig geschlossenen und allseitig geöffneten. Ein bewohnbarer und unbewohnbarer Ort.  

 

Bei Michel Serres lese ich: ° Wie der Bauer, so komponiert auch der Schriftsteller. Er wohnt lange auf der Seite oder dem Stück Land, ehrt das dortige Heiligtum, bearbeitet die Grenzen, die Mauer der Einfriedung, die es vom benachbarten Heiligtum trennt, und zuweilen meditiert er über die Landschaft: Im nächsten Jahr sollte man im oberen Teil des Tals, zwischen Friedhof und Teich, eine Pappel, eine Zeder, eine Eibe pflanzen, damit in dreißig Jahren ein Gran mehr Vollkommenheit den bezaubert, der gedankenlos vorübergeht oder über Wahrnehmung und Natur nachdenkt. °[xvi]

 

Vielleicht wäre dirigieren ein passenderes Wort als komponieren?

 

An einer anderen Stelle steht:

° Wer ein wenig zu schreiben versteht, der kann auch einen Garten entwerfen. °[xvii]

Ich schicke dem Papa ein Foto davon auf Whatsapp.

Na dann, schreibt er zurück und schickt mir ein Foto mit einem Zitat aus dem Standard:

° Die Eigenwilligkeit jedweder Poesie enthält einen stillen Einspruch, gegen die Plattitüde, gegen jedes banale, vorschnelle Verstehen. Als der ostdeutsche Poet Peter Huchel 1974 gefragt wurde, ob denn gerade eine gute Zeit für Lyrik sei, antwortete er sofort: Nein, keine gute Zeit für die Lyrik. Aber wann hätte es jemals eine gute Zeit für Lyrik gegeben. °

 

Etwas daran stört mich.

Ich pflanze einen Wald in die Brache,

Hoffe auf die Würmer,

Und denke: Jetzt ist eine gute Zeit für die Lyrik. 

 

° Wenn man Lyrik zu schreiben versucht, kann der Prozess oft in einer Meditation über die Bäume Sprache beginnen. °[xviii] Ich habe mich beim Abschreiben vertippt

 

und gehe die neu gepflanzten Bäume gießen.

 

 

 


[i] Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt.

[ii] Volha Hapeyeva – Mutantengarten.

[iii] JK Gibson-Graham: Take Back the Economy: An Ethical Guide for Transforming our Communities.

[iv] Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt.

[v] Ebd.

[vi] Ebd.

[vii] Inger Christensen: Der Geheimniszustand und Gedicht vom Tod.

[viii] Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt.

[ix] Peter Waterhouse: Im Genesisgelände.

[x] Inger Christensen: Der Geheimniszustand und Gedicht vom Tod.

[xi] Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft.

[xii] Jane Bennett: Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge.

[xiii] Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt.

[xiv] Ebd. 

[xv] Uljana Wolf: Etymologischer Gossip. Essays und Reden.

[xvi] Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische.

[xvii] Ebd.

[xviii] Inger Christensen: Der Geheimniszustand und Gedicht vom Tod.

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