Theresia Töglhofer

Unendliche Angst



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Seit Papa nicht mehr lebt, ist die Welt aus den Fugen geraten. Als hätte er alles zusammengehalten.

 

Mitten in der Nacht wache ich im Bus auf. Den Bus hat die Katholische Männerbewegung angemietet, wir fahren mit einem Dutzend anderer Familien nach Griechenland. Ich muss fünf Jahre alt sein. Ich darf nach vorne zu Papa gehen, er ist der Reiseleiter. Er nimmt mich auf seinen Schoß. Da sind Hochhäuser zu beiden Seiten der Autobahn, gelbe, warme Lichter verschwimmen mir vor den Augen. Die Stadt heißt Belgrad.

Jeden Abend kurz vor halb acht schaltet Papa den Fernseher ein. Meine Brüder und ich spielen Werbung raten. Wer am schnellsten herausruft, um welche Marke es sich handelt, gewinnt. Dann erhebt sich unter den ersten Takten des Donauwalzers die gleißende Weltkugel der Zeit im Bild. Papa, die Füße auf dem Couchtisch, kommentiert kopfschüttelnd die Innenpolitik (Der spinnt, der Haider!) und das Weltgeschehen (Die spinnen, die Serben!). Auf die ZiB folgen die Spendenaufrufe für Nachbar in Not. Manchmal, wenn einer von uns Angst kriegt, sagt Papa, dass der Krieg sicher nicht zu uns kommt.

 

Mama sagt zu einer Freundin am Telefon: Für uns hat eine neue Zeitrechnung begonnen.

Im Jahr 0 nach Papa machen sich hunderttausende Menschen auf den Weg nach Europa. Angela Merkel sagt, wir schaffen das. Unser Kanzler will die Balkanroute schließen. Das alles rauscht an mir vorbei wie die Lichter von Belgrad, ohne Konturen anzunehmen. Mit Papa ist die Welt verschwunden, wie ich sie kenne. In der Gemeinde gibt es andere, die die Geflüchteten aufnehmen. Die die Unterkünfte organisieren, die Winterjacken und die Behördenhilfe, die Sprachkurse, die Kochabende und die interreligiösen Begegnungen.

 

Wir können nicht mehr mit dem Bus nach Griechenland. Deshalb fliegen wir mit Olympic Airways. Als Winkler Hannes, der semmelblonde Sohn einer befreundeten Familie, kurz von seinem Gameboy aufsieht und erfährt, dass wir gerade über Jugoslawien fliegen, schmeißt er die Nerven weg: Die schießen uns ab, die Serben, die schießen uns ab! Niemand schießt uns ab, beruhigen ihn die Erwachsenen. Und Winkler Hannes holt sich auf der Peloponnes einen ordentlichen Sonnenbrand.

 

Papa friert. Er verflucht die Pellets-Heizung. Alle paar Tage kommt ein Techniker ins Haus, aber Papa wird nicht warm. Er wünscht sich die alte Ölheizung zurück.

 

Mama nimmt eine Ukrainerin und ihre zwei Kinder ins Haus. Wir sitzen beim Kaffee, suchen nach Anknüpfungspunkten. Mein Bruder sagt, unser Opa war auch in der Ukraine. Ich beiße mir stellvertretend für ihn auf die Zunge.

Ich stehe in Unterhosen vor dem Orthopäden. Es ist zum ersten Mal seit zwanzig Jahren, dass ich zum Orthopäden gehe. Jetzt weiß ich wieder, warum ich zwanzig Jahre lang nicht hingegangen bin. Mein Physiotherapeut sagt, da könne man viel mit Atmen machen. Vielleicht sei es auch ein Trauma, das zwei oder drei Generationen zurückliegt. Der Orthopäde sagt: Torsionsskoliose M41.89G, Kyphosewinkel: 48, Lordosewinkel: 40, BLD re -0,3 cm. Unerbittlich diktiert er meine Deformitäten in sein Aufnahmegerät. Ich frage, was ich tun kann. Er sagt, eigentlich nichts. Der Orthopäde stellt sich hinter mich, reißt mir den Kopf herum. Ich muss mich auf den Bauch legen. Ruckartig drückt er auf meinen Brustkorb. Meine Stimme gibt Laute von sich, die ich nicht kontrollieren kann. Ich muss mich auf die Seite drehen, das untere Bein gestreckt, das obere angewinkelt. Er zieht an meinem Arm, verrenkt meinen Oberkörper, es tut weh. Weiter kommen Sie nicht?, fragt er. Er reißt daran, es knackt, er ist zufrieden.

 

Papa macht sich Sorgen, dass der Schnee das Dach eindrückt. Er sagt, wir sollen nicht zu lange duschen, weil sonst die Pellets ausgehen. Dann ist das Haus kalt! Wir sagen, es sind genug da, um über den Winter zu kommen. Außerdem können wir jederzeit nachbestellen. Er sieht uns an, als hätten wir nichts begriffen.

 

In der Klasse spielen wir Die Russen kommen! Wenn einer ruft: Die Russen kommen!, lassen wir uns von den Sesseln fallen und gehen unter unseren Pulten in Deckung. Es ist nicht unsere Angst. Es ist die Angst unserer Eltern- und Großeltern-Generation.

Opa ist auf der Krim verwundet worden, ein Durchschuss am Oberarm. Das ist sein Glück gewesen, so heißt es in unserer Familiengeschichte, sonst hätte er es wohl nicht lebend nach Hause geschafft. Im Frühjahr 1945 ist wieder ein Einberufungsbefehl gekommen, doch Opa hat sich gedacht: Da geh‘ ich nicht mehr hin. Als die Rote Armee über die Fischbacher Alpen vorgerückt und Opa aus dem Wald zurückgekehrt ist, haben sie ihn und einige andere Männer aus der Umgebung mitgenommen. Ihr Lager haben sie bei einem nahegelegenen Bauernhof aufgeschlagen. In der Nacht haben sich die Russen besoffen. Da hat Opa beschlossen heimzugehen.

Ich muss früher von der Schule zu Hause gewesen sein. Papa wirft die Wohnungstür hinter sich zu und eilt zum Fernseher. In Amerika hat’s tuscht, sagt er ungläubig. Die Zeit im Bild-Sondersendung läuft schon. In Zeitlupe sehen wir das erste Flugzeug in einen Turm des World Trade Center krachen, dann das zweite in den anderen, dann wieder das erste. Ich weiß jetzt, dass Dinge passieren können, die man sich gar nicht vorstellen kann. Aber sie sind weit weg, in Amerika, in Afghanistan und im Irak.

 

Ich sitze am Küchentisch. Papa stellt sich hinter mich und knetet meine Schultern, viel zu fest. Ich schreie auf. Er fragt, wie es mir mit meinem Rücken geht. Das hat ihn früher nie interessiert. Ich hatte mir immer Mitgefühl gewünscht. Jetzt will ich nur, dass er sich keine Sorgen macht.

 

Dass Haider tot ist, erfahre ich von Sandra in der Umkleidekabine des Hotel Hyatt. Mein Praktikum ist nicht bezahlt, dafür lädt sie mich samstags zum Schwimmen ein. Am Abend gehen wir in einen Jazzclub, der sich im letzten Stock eines leerstehenden Hochhauses eingerichtet hat. Weil der Lift nicht funktioniert, müssen wir die Stiegen nehmen. Wir atmen schwer. Belgrad bei Nacht ist immer noch schön.

Als sie die MH 17 abschießen, muss ich an Winkler Hannes denken.

 

Ich schaue die ZiB-Sondersendung. Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten heißt Donald Trump. Ich frage mich, was Papa dazu sagen würde. Der gesunde: Die spinnen, die Amis! Dem kranken bleibt die Stimme weg.

Ich mache Turnübungen. Ich atme in die engen Stellen.

Ich schaue jetzt wieder abends die Zeit im Bild, nicht erst zum Frühstück in der Mediathek. Falls Trump den Knopf gedrückt hat, möchte ich es zumindest gleich erfahren. Mama schaut gar keine Nachrichten mehr. Sie sagt, sonst gibt es eh Zivilschutzalarm.

 

Wir sagen, wir haben genug Zeit, aber Papa drängt zum Aufbruch. Wenn auf dem Alpl Schnee liegt, wenn da ein umgestürzter Baum die Straße blockiert, dann versäumst du deinen Flug. Dann nehm‘ ich den nächsten, sagt mein Bruder. Ja, aber das ist doch scheiße!, ruft er. Wir kommen rechtzeitig am Flughafen an. In der Abflughalle mache ich ein Foto von den beiden.

***

Ich zögere, das Foto meinem Bruder zu schicken. Dann schicke ich es ihm. Es ist das letzte von den beiden. Sie haben sich den Arm um die Schultern gelegt. Im Hintergrund spannt sich ein riesiges Banner der Kronen Zeitung durch die Abflughalle.

Ein Mann betritt ein Konsulat durch den Vordereingang und verlässt es zerstückelt durch den Hintereingang. Bolsonaro ausverkauft den Regenwald. Australien brennt. Indes tun wir noch immer so, als ob wir eine Insel der Seligen wären. Wir lachen, wenn ein Diktator Diktatur sagt, und knicksen vor ihm im Dirndl ein.

Karim erzählt von der Überfahrt mit dem Schlauchboot wie unsere Familiengeschichte aus dem Krieg. Der Himmel ist sternenklar gewesen, das Meer ruhig. Als der Motor ausgefallen ist, war die Küste schon zu sehen. Ich habe gewusst, notfalls kann ich schwimmen.  

Corona ist die erste Krise, die wir wirklich zu spüren bekommen. Auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen. Austrian Airlines fliegt noch immer munter die Strecke Peking – Wien. Und selbst als das Virus schon in Südtirol ist, besteht kein Grund zur Unruhe. Wenn unser Kanzler die Balkanroute schließen kann, dann doch wohl auch den Brenner.

In den Nachrichten gibt es nur mehr ein Thema. Das ZiB-Studio ist jetzt eine Isolationszone. Die Moderatoren übernachten in Büros und Künstlergarderoben, um die Berichterstattung sicherzustellen. Zum ersten Mal denke ich: Gut, dass Papa das nicht mehr erleben muss. Er, der kranke, hätte nur unendliche Angst.

Ich wache von der Durchsage des Busfahrers auf und erschrecke. Ich bin von Wolkenkratzern umzingelt. Sie sind höher als die Häuser an der Autobahn, die Fassaden aus Glas, nicht aus Beton. Auch der Busbahnhof wird bald weichen müssen, für Belgrade Waterfront, gebaut mit Geld vom Golf, durch Arbeiter aus Indien und der Türkei, von denen manche abstürzen und sterben, was fast niemanden interessiert.

Ich lese Papas alte Schultheaterstücke. Sie sind lustig, manchmal sexistisch (aber damals hätten wir es nicht so genannt). Es macht mich traurig, dass Papa nie ein alter, weißer Mann geworden ist.

Da ist das Polizistenknie auf George Floyds Hals, da sind Lukaschenkos Kastenwagen. Da sind Menschen, die aus dem Himmel fallen, zurück auf die Startbahn des Kabuler Flughafens. Ich denke an Papa, die Füße auf dem Couchtisch, im Winter mit Socken, im Sommer barfuß. Die Bilder gehen nicht zusammen. Sie sind wie aus einer anderen Welt.

Vom UN-Klimagipfel in Glasgow twittert Greta Thunberg: Blah, blah, blah.

***

Wir schreiben das Jahr 7 nach Papa (Der spinnt, der Putin!). In der Zeit im Bild müssen die Virologen den Verteidigungsexperten weichen. Mama sagt: Ich bin alt. Aber für euch tut es mir leid.

Das Leben ist eine gefragte Währung. Putin zahlt großzügig, mit jenem der anderen. Ich sehe ihn an seinem langen Tisch und denke zum ersten Mal: Warum lebt er und du bist tot?

Die Welt hat zu viele Orthopäden, die versuchen, sie herumzureißen. Die es knacken hören wollen. Die sagen, da ist ohnehin nichts zu machen.

Wir wollten nie ein Haus, aber jetzt, wo wir uns keins leisten können, spielen wir doch mit dem Gedanken. Einen Bauernhof, sagt Karim, irgendwo, wo es noch Wasser geben wird. Um sich selbst zu versorgen, gibt mein Bruder zu bedenken, braucht man mindestens 160 Quadratmeter pro Person.

Während Mama auf Urlaub ist, werden die Pellets geliefert. Ich schaue dem Lastwagenfahrer zu, wie er den langen Schlauch am Speicher anschraubt, wie die Pellets durch ihn hindurchfließen. Ich versuche, es interessant zu finden.

Spanien brennt, Rumänien brennt, Portugal, Frankreich, Slowenien brennt. Und Österreich, sagen sie in der ZiB, hat kein Wolfsmanagement.

Schau, Papa, die ZiB hat jetzt ein neues Erscheinungsbild. Im Studio wird mit Roboterkameras gefilmt.

Alice Schwarzer und der Papst predigen den Frieden.

Als du gesagt hast, dass der Krieg nicht zu uns kommt: Woher nahmst du die Sicherheit? Kannst du dir eine Welt ohne Paris vorstellen? Ist es ein terroristischer Akt, sich auf einer Straße festzukleben? Sie sagen, wir brauchen Zeit. Nur was, wenn wir die nicht haben? Was, wenn das erst der Anfang ist?

Aber Papa schweigt. Er versteht die Welt nicht mehr.

M41.89G klingt wie ein Maschinengewehr.

Ich atme in die engen Stellen.

Ich will dich noch immer nicht verlieren.