Liv Thastum
Abzulegen das Blau
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Der Rock, den ich mir in Friedland gekauft habe.
Die Schuhe, die Bluse ablegen:
Die Schürze, das Polnisch, das Blau
abzulegen.
Nie ojcze, nie wsiądziemy z tobą do wozu.
Nein Vater, wir werden nicht mit dir in den Waggon steigen.
Wysiądziemy po drodze!
Wir werden unterwegs. Unterwegs werden wir aussteigen.
Hier bleiben. Wir werden aussteigen. Unterwegs.
Wollten wir.
Wir sind hergekommen.
Wir haben kein Wort verstanden. Zwar haben wir dort.
Der Vater. Der hat uns Bücher. Aber wir haben immer nur.
Nur Polnisch.
Bei der Ankunft haben wir es abgelegt.
Um in Neuburg zu leben, hast du es abgelegt, Babcia.
-
Seit Jahrzehnten wohnst du an einem Ort, an dem man dein Polnisch nicht gerne hört. An
dem man nichts gerne hört, was anders klingt als das, was man kennt. Als das, was schon
immer da war. Oder das, von dem man denkt, es sei schon immer da gewesen. Als wäre
all das, die Häuser, die Vorgärten, die Straßen, die sich durch die Vorgärten schlagen, nicht
das Ergebnis von jahrtausend alten Verschiebungen. Alles, was sie sehen, wenn sie aus
dem Fenster schauen, sind in Wahrheit nur temporäre Verbindungen. Das Fenster mit dem
Haus, das Haus mit der Straße, die Straße entlang der Donau.
Von dort, wo du herkommst, erzählst du erst, seit ich mich traue zu fragen und immer nur
dann, wenn ich dich besuche. Je mehr du erzählst von Schlesien, vom Haus in Gleiwitz,
wie ihr geflüchtet, weil deine Eltern deutsch... umso sichtbarer werden die Leerstellen in
deiner Erzählung. Dinge, die du zum ersten Mal erzählst. Dinge, an die du dich nicht
mehr erinnerst. Die Menschen, die du nie mehr gesehen hast. Die Wörter, die du nicht
mehr sprichst.
Dein Deutsch, Babcia, hat sich auf alle Überreste von polnischen Klängen gelegt. Du hast
das Bayrisch so lange geübt, die Zeitformen, die Fälle, das rollende R, bis kein Polnisch
mehr übrig war.
Vorgarten
Vorgarten
Vorgarten
Vorgarten
Vorgarten
Vorgarten
Vorgarten
Der Stoff.
Den dunkelblau glänzende Stoff der Schürzen.
Zur Schule.
Jeden Tag.
Die dunkelblau glänzende Schürze auszutauschen mit:
Der Rock, den du dir in Friedland gekauft hast.
Wenn du erzählst, gibt es Bilder, die wieder und wieder an die Oberfläche brechen.
Vielleicht merkst du gar nicht, was sich wiederholt, aber deine Wiederholungen sind ein
Rhythmus, Babcia. Ein Element im Rhythmus Anwesenheit-Abwesenheit-Anwesenheit,
Ton-Pause-Ton, betont-unbetont-betont. Und dein Polnisch, Babcia, liegt in dieser
Abwesenheit. In den Pausen zwischen deinen Wörtern.
Du sagst:
Wir haben kein Wort verstanden.
Und ich denke:
Du hast kein Wort behalten. Kein einziges.
Aber ich höre dein Polnisch in den Leerstellen deiner Erzählung. Immer. In der Pause
zwischen zwei Wörtern.
-
Du sitzt am Tisch mit der bayrischen Familie. Der Familie, die nichts hören mag, was
anders klingt als das, von dem sie denken, dass es schon immer da gewesen ist. Sie sitzen
und sitzen, während sich draußen vor dem Fenster die Donau vorbeizieht und vor ihnen
auf den Tellern die Donauwelle oder Schwarzwälder Kirschtorten. Wenn sie sich auslassen
über die „faulen Ausländer“, bleibst du meistens still. Aber du widersprichst nie. Du
denkst, Söder wäre ein guter Kanzler. Zusammen mit den bayrischen Wörtern hast du
auch die Haltungen um dich herum angenommen. Aber etwas bleibt anders. Ich sehe den
Zwischenraum, in dem du stehst, Babcia. Was dich unterscheidet von den anderen, liegt in
den Pausen zwischen deinen Wörtern. Du hast noch Platz, um zuzuhören. Und du hörst
mir zu, wenn ich erzähle von Freunden aus Syrien oder den mehrsprachigen Texten, die
ich schreibe. Und du nickst und ich nicke und ich habe das Gefühl, dass du doch
eigentlich gar nicht so anders denkst als ich. Aber all das bleibt in einem Raum, den du
nur betrittst, wenn ich zu Besuch da bin.
Ich würde dich gerne öfter besuchen.
Aber die Menschen um dich herum, Babcia, ich halte sie nicht aus.
An deinem 85. Geburtstag höre ich deinen Cousin sagen:
Ich war auch Flüchtling. Aber wir, wir haben uns ja angepasst.
Ansonsten weiß ich nichts über ihn.
-
Die Häuser, die aneinandergrenzen, dazwischen ein
Vorgarten
neben einem Vorgarten
neben einem Vorgarten.
Vorgarten
als Schibboleth.
Hör Babcia, ich habe ein Wort gelernt. Es heißt Schibboleth.
Dieses Wort gibt es im Hebräischen, Phönizischen, im Jüdisch-Aramäischen, imSyrischen
und es zieht sich als Strom, als Fluss durch Geschichten von (sprachlicher) Verdrängung.
Schibboleth als Losungswort, als Sprachtest, um festzustellen, ob jemand dazugehört. Nur
wer das Wort fehlerfrei aussprechen kann, hat ein Recht, hier zu sein. Wenn die Zunge
falsch ausschlägt, sich anders krümmt, hat man sich entblößt. Es klingt ganz anders,
fremd. Nein. So klingt es falsch. Es darf nur so klingen, wie es immer geklungen hat. Wie
wir denken, dass es immer geklungen hat.
Im Alten Testament heißt es, dass an der Grenze des Jordan tausende geflüchtete
Ephraimiter Zuflucht suchen wollten, auf der anderen Seite des Flusses. Dafür verlangte
man von ihnen, das Wort Schibboleth (also Fluss) auszusprechen. Da das Sch für die
Menschen aus Ephraim unaussprechbar war, sagten sie stattdessen Sibboleth. Durch diese
andere Aussprache wurden sie als Ephraimiter erkannt und getötet.*
In Polen wurde im 14. Jahrhundert nach dem erfolglosen Aufstand eines deutschen Vogtes
die Loyalität der Krakauer Bürger durch ein Schibboleth überprüft.
Wer die Worte soczewica, koło, miele, młyn (Linse, Rad, mahlen, Mühle)
nicht fehlerfrei aussprechen konnte, galt als deutsch und wurde vertrieben oder
unterdrückt.
Die wiederholte Aufteilung in Freund und Feind auf Grundlage einer einzigen
Zungenbewegung, als hätte jedes Wort nicht tausend mögliche Aussprachen.
Linse, Rad, mahlen, Mühle.
Ich weiß nicht, wie dein Polnisch klingt, Babcia.
Wie deine Zunge ausschlägt, ob es Bewegungen in dein Gesicht zeichnen kann, die ich
nicht kenne. Ob es Gesten in deine Hände ruft, die du abgelegt hast. Aber vielleicht könnte
es die Leerstellen füllen, die dich umgeben.
Vorgarten
Vorgarten
Und du mit deinem
Vorgarten, Babcia.
War Vorgarten
dein auferlegtes Schibboleth?
(Wär ich wie du. Wärst du wie ich. / Standen wir nicht / unter einem Passat? /
Wir sind Fremde.)**
Ich bin hier gewesen. Ich habe jedes Wort verstanden.
Meine Mor hat mir Bücher auf Dänisch
und mein Vater die deutschen.
In einem Zwischenraum habe ich Sprechen gelernt.
Nur von deinem Polnisch, Babcia, hat niemand gesprochen.
Wir sitzen in deinem Wohnzimmer, das mit den großen Fenstern, und ich frage mich, ob
du dich noch erinnerst an die polnischen Wörter. Ob du sie noch sprechen könntest, ob du
dich erinnerst an das Nicht-Verstehen, damals, als du nach Bayern kamst.
Und ich sage:
Wir haben drei Sprachen.
Lass uns üben Babcia.
okno fenster vindue
nazwy namen navne
niebieski blau blå
nieblå
es nieblåt
Es nieblåt vor deinem Fenster, Babcia. Und in den Häusern, die an deines angrenzen,
sitzen Menschen vor ihren Fenstern und haben Angst, so große Angst, vor allem, was sie
nicht verstehen. Als könnte allein der Klang des Wortes „nieblå” ihnen etwas antun. Und
während sie sitzen, dort in ihrem Vorgarten, mit der Angst auf ihrem Schoß, der Angst vor
dem Wort nieblå, die in Wahrheit eine andere Angst ist, nämlich die, das zu verlieren, was
sie kennen, das, was schon immer da ist, von dem sie denken, dass es schon immer da war,
während sie dort sitzen, mit ihrer Angst, vergessen sie, dass alles verschwindet mit der
Zeit. Der Vorgarten, die Fenster, die Straße, die Stadt – werden verschwinden, während sie
dort sitzen, an einem ganz normalen Tag, an dem sie wie gewöhnlich vergessen haben,
dass auch sie irgendwann verschwinden werden. Verschwinden müssen. Dass alles
forsvinder. Dass...
alt, mistes forsvinder, umuligt at huske
at flokke der hist og her findes af rodløse
mennesker, husdyr og hunde forsvinder***
haben sie vergessen oder nie gelernt, einfach nur einem Klang zuzuhören. Dem einfachen
Klang des Wortes „nieblå” zuzuhören, einem anderen Alphabet zuzuhören. Wie zum
Beispiel dem von Inger Christensen, die in ihrem Schreiben Abschied nimmt von all den
Dingen, die wir zerstören, die wir durch unsere bloße Anwesenheit auf dieser Welt
zerstören. Und während alles verschwindet, sitzen die Menschen in ihren Häusern mit
ihrer kleinen Angst, dass ein einfaches Wort wie nieblå ihren Vorgarten verändern könnte,
und sehen nicht oder wollen nicht sehen, dass draußen schon lange nichts mehr übrig ist
von dem, was angeblich immer da war.
Aber abrikostræerne findes, abrikostræerne findes!
Und nieblå und okno und Gleiwitz gibt es. Und die Felder hinter deinem Haus. Gibt es.
Und Babcia, die Namen, die Namen gibt es. Den Trost, die Dinge beim Namen zu nennen.
Und die Dinge haben mehr als einen Namen.
niebieski blau blå
gibt es. Navnene gibt es. At ingenting kaldes ved navn, dass die Namenlosigkeit beim
Namen genannt wird. Dass alles neu benamt, benomt werden kann. Die Felder hinter
deinem Haus, das visken der Felder, wenn das Korn vom vind aneinandergerieben wird.
Im Gegendvind unter dem wir stehen, der uns tåre in die Augen treibt, weil uns das
Geräusch erinnert an den Namen von jemandem, der einmal hier neben uns stand, aber
jetzt nicht mehr da ist. Vielleicht der Seitenarm eines Fluss, der sich hier slyngend durch
die Landschaft trieb. Der Fluss, der schon längst nicht mehr da ist. An dessen
ausgetørrtem Ufer stehen wir und blicken hoch in den milchigen Himmel, der von
Winden getragen den Saharasand als Mahnmal an unseren Himmel malt.
-
Wir brauchen eine andere Figur, tausend Namen für etwas anderes, um aus dem Anthropozän in
eine andere Erzählung, die gerade groß genug ist, zu entkommen.****
schreibt Donna Haraway.
Ich glaube, mein Schreiben ist eine Suche nach diesen Namen. Ich kann namen auf
Deutsch und Dänisch und in meiner Språche dazwischen. Ich habe Abschied genommen
von der Einsprachigkeit. Ich stehe schon immer in den Zwischenräumen. Ich mit meiner Språche
und du mit deinem niebieski, Babcia. Du brauchst keine Angst zu haben vor den
Leerstellen. Ich will sie hören, deine polnischen Wörter. In meiner Språche ist noch Platz
für sie. Komm, gib mir en, to, tre paar wørter, die ich syngen kann. Ich habe keine Angst
vor falscher Aussprache. Mein Schibboleth heißt Fehler sprechen. Lass uns syngen, Babcia.
Wusstest du noch nicht, dass wo immer Menschen Fehler machen, sich versprechen oder
verlesen, Wörter verdrehen, ob in ihrer Eigen oder Fremdsprache, eine zweite Sprache in der
Sprache auftaucht?***** Eine Sprache, die neue Namen kennt. Namen wie nieblå. Namen, die
leere Flächen benamen, benomen können.
Das Haus in Neuburg, in dem du wohnst, ist groß. Wahrscheinlich viel größer, als das in
Gleiwitz war. Seit ein paar Jahren vermietest du die Zimmer im Untergeschoss an
Menschen, die zum Arbeiten nach Deutschland kommen.
Der Familie gefällt nicht, dass sie in deinem Haus wohnen. Aber sie zahlen Miete, und das
gefällt ihnen, also dürfen sie bei dir wohnen.
Und sie bringen dir Wörter, Babcia, von denen du dachtest, dass du sie vergessen hättest.
Und mit ihnen probierst du - ganz vorsichtig - die Klänge, von denen du dich
verabschiedet hattest.
Ich wünschte, du würdest lesen, was ich schreibe, Babcia.
Nur einen Text. Aber du liest nicht. Wie du die Wörter fallen lässt.
Würdest du sie lesen, vielleicht würdest du merken, dass das, was ich schreibe, von
kleinen Abschieden an dich durchsetzt ist.
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* Jacques Derrida: Schibboleth.
** Paul Celan: Sprachgitter.
*** Inger Christensten: Alfabet.
**** Donna Haraway: Unruhig bleiben.
***** Uljana Wolf: Etymologischer Gossip.