Samuel J. Kramer

Nichts an einem Waldbrand ist unsichtbar

 

Liebe Menschen,

Nichts an einem Waldbrand ist unsichtbar, wenn man davorsteht. Es ist unmöglich, die Hitze nicht zu bemerken, den vom Rauch verfinsterten Himmel, den Geruch und den Geschmack. Wir sehen die Tiere flüchten.

Nichts an einem umgestürzten Baum ist unsichtbar, selbst wenn glückseidank niemand im Wagen saß, den er unter sich begraben hat. Das Licht wird noch von den feinsten Rissen der eingedrückten Windschutzscheibe anders passiert als im intakten Zustand. Wir sehen den Schaden. Wir blättern den roten Lack vom Finger.

Nichts an einem Erdrutsch ist unsichtbar.

Nichts an einem Tornado.

Sogar der Tod einer einzelnen kleinen Süßwasserschnecke ist sichtbar, wenn man genau hinschaut.

Auch die Zusammenhänge zwischen diesen Ereignissen sind sichtbar, sie strahlen vom Himmel, sie stehen in Millionen Notizbüchern. Sie schreien entziffert aus den gefrorenen Bohrkernen, Regale über Regale voller Samenkörner und Gesteinsproben und Wassertropfen erzählen davon.

Ich habe noch nie einen Waldbrand mit eigenen Augen gesehen. Keinen Erdrutsch, keinen Taifun. Ich habe Fotos gesehen von unter Bäumen begrabenen Autos, unter Schlamm begrabenen Hütten, von schwarzen Feldern bis zum Horizont. Ich habe die zerstörten tschechischen Dörfer gesehen.  

Ich bezweifele diese Ereignisse nicht, weil sie mich nicht verletzt haben, das wäre unmoralisch.

Ich verkenne die Gefahr nicht, weil sie mich noch nicht spürbar bedroht, das wäre unklug.

Ich wohne in einer Dachwohnung. Es ist an manchen Tagen so heiß, dass ich mich im Arbeitszimmer nicht konzentrieren kann. Ich kann den Schweiß auf meiner Haut sehen. Ich kann sehen, wo die Laptopkamera überbelichtet, weil die Nachmittagssonne durch jeden Spalt der Jalousie ins Arbeitszimmer dringt. Ich sehe das Wasser verschwinden, aus meinem Glas, von meinen blassen dünnen Unterarmen.           Ich spüre diese Hitze als eine doppelte, als Hitze im Moment und als schweißtreibende Vorahnung einer größeren systematischen Hitze.

Wenn ich nicht schreiben kann, dann liegt es an der doppelten Hitze. Dann liegt es daran, dass ich nicht den einzelnen heißen Tag spüre, sondern darin das Versprechen unzähliger weiterer, noch heißerer Tage. Wenn ich jetzt schon Schwierigkeiten habe, die Sätze auf dem Bildschirm zu Ende zu bringen, wie wird es nächstes Jahr sein? Ich spüre hinter der Macht eines einzelnen heißen Sommers im Jahr 2021 die Hitze der Jahre 2019, 2016, 2015, auf die noch heißere Jahre mit noch heißeren Sommern folgen werden, das weiß ich. Ich sehe das Rot auf den Temperaturkarten.

Während ich mir im Badezimmer mit Verdunstungskälte behelfe, denke ich daran, dass wir Trinkwasser rationieren werden. Dass immer mehr, vor allem alte Menschen sterben werden an der Hitze, wie sie schon gestorben sind, zu Tausenden in den abnorm heißen Sommern dieses Jahrtausends. Ich lese ein Interview mit einem verzweifelten Landwirt, den die Trockenheit um die Ernte bringt, dann eins mit einem Winzer, der sich über die vielen Sonnentage freut.

Es gibt eine bestimmte Art von Bild, das immer wieder verwendet wird, wenn es in  einer Nachricht um Dürre geht: ein Bild von rissiger Erde. Von der aufgeplatzten Haut des Bodens, der jeder Feuchtigkeit entbehrt. Ich habe eine Überlagerung aller dieser Fotografien vor meinem inneren Auge, der Riss darin hat ein Zentrum, von dem aus sich immer feiner werdende Risse verzweigen. Eine Zeichnung der Sonne, ein Abdruck.

Es sind nicht die Folgen des Klimawandels, die schwer zu visualisieren sind. Es ist die kollektive Natur des Problems. Ich scheitere nicht daran, mir einen Waldbrand vorzustellen oder eine Dürre. Ich scheitere oft daran, mir die globale kapitalistische Gesellschaft vorzustellen und zu verstehen, welche Rolle ich und mein winziger Alltag darin spielen.

Wenn ich einen Ventilator anschalte, denke ich manchmal daran, dass mir ein Babysitter als Kind erzählt hat, dass Ventilatoren die Temperatur im Raum eigentlich erhöhen. Es komme einem durch den Luftzug nur so vor, als würde es kühler. Ich weiß bis heute nicht, ob das wirklich stimmt. Es ergibt für mich als thermodynamischen Laien erst einmal Sinn. Bewegung erzeugt Reibung erzeugt Wärme. Auch ein Kühlschrank erzeugt schließlich keine Kühle, sondern leitet Wärme ab. Und der Strom, mit dem der Ventilator betrieben wird, ist zwar öko, aber auch Teil des unermüdlich wachsenden Verbrauchs.

Wenn ich über Konsum-Verantwortung nachdenke, muss ich an Garrett Hardin und seine Schafe denken. Hardin, ein US-amerikanischer Ökologe, hat die Idee von der „Tragödie der Allmende-Güter“ geprägt. Wir sollten uns eine Weide vorstellen, auf der Schafe grasen, die unterschiedlichen Menschen gehören. Jede:r Einzelne hat ein Interesse daran, dass die Allmende-Weide nicht abgegrast wird, dass die Böden nicht austrocknen und absacken, dass auch nächstes Jahr noch fruchtbarer Boden die gemeinsame Nahrung hervorbringt.

Aber wenn alle anderen ihre Schafe zu oft auf die Weide schicken, wird sie zerstört, ganz gleich, was ich tue und was meine Schafe tun. Und wenn alle anderen Zurückhaltung üben, kann ich meine Schafherde freigiebig grasen lassen – und trotzdem bleibt die Weide erhalten. Weil sich die Situation für jede:n Einzelnen so darstellt, wird das gemeinsame Gut, die Allmende, notwendigerweise zerstört. Alle sehen es, alle wissen es, es passiert trotzdem. Eine Tragödie eben.

Dass diese Erzählung löchrig ist, hat besonders prominent Elinor Ostrom gezeigt, die überall auf der Welt Gemeinschaften untersucht hat, die solche Allmende-Problematiken bereits gelöst haben und lösen. Ich denke, der größte Fehler von Hardins Erzählung ist, dass sie so tut, als ob Menschen nicht miteinander reden könnten. Sie zwingt uns dazu, Menschen als isolierte Individuen zu verstehen, gefangen in einer stummen, zum Egoismus zwingenden Einsamkeit, gefangen in einer gefährlichen spieltheoretischen Vereinfachung. Tatsächlich können Menschen aber hervorragend miteinander reden. Schon kleine Kinder schaffen es (mit ein bisschen Trial and Error), faire Spielregeln festzulegen, die dafür sorgen, dass alle einmal drankommen und dass genug für alle da ist.

Und dennoch wird immer wieder Hardins Erzählung bemüht, um über kollektive Aktionsprobleme zu reden. Ein weiteres furchtbares politisches Bild, das Hardin mitgeprägt hat, ist das des übervollen Rettungsboots. Um die Gemeinschaft zu retten, sei es, kurz gesagt, moralisch geboten, die Schwächsten vom Boot zu stoßen, argumentierte er 1974 in "Lifeboat Ethics: the Case Against Helping the Poor". Auch weil   Hardin zahlreiche weitere rassistische, nationalistische und proto-faschistische Ideen propagierte, gehört seine Art, menschliches Handeln zu erzählen, aussortiert.

Das Problem ist nicht, dass die gesellschaftliche Seite unserer globalen Probleme nicht sichtbar gemacht werden kann. Das Problem ist, dass wir problematische Bilder benutzen, um die Zusammenhänge sichtbar zu machen. Die Idee des isolierten Individuums als Träger der politischen Verantwortung produziert erst die Tragödie, die sie prophezeit. Ödipus lässt grüßen. Ob dessen tragisches Schicksal irgendeinem pubertären Gott in die Hände gespielt hat, tut hier nichts zur Sache. Was das sich immer weiter erhitzende System Erde anbelangt, gibt es aber durchaus mächtige Interessen an gewissen Erzählungen. Dass wir über das Treibhausproblem mithilfe     falscher Bilder nachdenken, ist zumindest teilweise kalkuliert.

Die Popularität der Idee vom individuellen CO2-Fußabdruck, ursprünglich entwickelt als bloßes Messinstrument, wurde unter anderem durch vom Öl-Konzern BP finanziertes Marketing befördert. Wenn der globale Ausstoß an Treibhausgasen in Milliarden kleiner Teile zerteilt wird, verschwindet hinter diesem Bild die Verantwortung von multinationalen Unternehmen und Regierungen, die über CO2-Kontingente im Gigatonnenbereich entscheiden. 2019 waren 20 Unternehmen, viele davon im Besitz von Staaten, für mehr als ein Drittel aller weltweiten Emissionen verantwortlich. Diese Player lieben es, wenn wir uns in Konsumdiskussionen über Mallorcaflüge – oder darüber, was auf den Grill kommt – zerfleischen. Darüber vergessen wir, dass es seit Jahrzehnten in der Macht weniger, absurd reicher Menschen liegt, nachhaltige     Entscheidungen zu treffen. Haben sie aber nicht gemacht.

Und das ist nicht mal eine Verschwörung. Das ist keine Propaganda, das ist bloß Marketing.

Das ist der Kapitalismus, der sich selbst erzählt. Wiederholung gewinnt.

Unsichtbarkeit bedeutet im Informationszeitalter nichts anderes, als übersehen zu werden.

Die Probleme sind nicht unsichtbar, sie werden nur von vielen nicht gesehen und von einigen ignoriert.

Die Zusammenhänge sind nicht unsichtbar, sie werden nur von vielen nicht gesehen und von einigen verschleiert.

Unsichtbarkeit bedeutet, nicht lang genug gesehen zu werden, um Teil einer größeren Geschichte zu werden.

Wenn ich den konzentrationsnotwendigen Ventilator anschalte – und mir gegen jeden Verzichtsimpuls erlaube, auf Stufe 2 oder sogar Stufe 3 zu schalten – dann versuche ich, im kühlen Luftstrom an Schafe zu denken, die zwischen Solarpanels grasen, deren zuständige Menschen sich auf sinnvolle Regeln geeinigt haben.  

Ich stelle mir vor, wie Menschen durch Alleen voll schattenspendender Bäume zur Arbeit laufen, in die kostenfreie Magnetschwebebahn einsteigen und über die zahlreichen kleinen Bäche hinweggleiten. Ich kann nicht immer sehen, wie viele Vögel in den Bäumen sitzen und wie heiß es ist.

Ich denke an die unfassbare Verwandlung unserer Lebenswelt durch jede auch nur annähernd faire Verteilung ihrer begrenzten Güter. Ich denke an die sichtbaren Effekte einer Viertagewoche mit Fünfstundentagen. An riesige Plätze voller Leben, an blühende Viertel, weil die Menschen endlich genug Zeit haben, füreinander da zu sein, anstatt in zerstörerischen Jobs zerstörerische Dinge zu produzieren. Endlich genug Zeit haben, um zu heilen. Um Dämme zu bauen und Gemüse anzupflanzen in den Dachgärten.

Ich versuche mir vorzustellen, wie die zahlreichen Gesichter der Menschen und Tiere aussähen, die für gemeinsame Ziele arbeiten.

Ich kenne niemanden, der oder die nicht mitmachen würde, wenn das möglich wäre.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es unmöglich ist. Es ist nur noch nicht vollständig sichtbar.

Wenn ich nachts das Fenster öffne, um abgekühlte Luft hereinzulassen, dann versuche ich, die Potenziale zu sehen.

Diese Bilder werden leicht davongeweht.

Müdigkeit und Alltag sind nicht auseinanderzuhalten.

Aber ein Bild bleibt immer sichtbar. Das liegt daran, dass es keine bloße Hoffnung ist, sondern auch eine Erinnerung:

Ich sehe zahlreiche Menschen, die auf die Straßen strömen.

Sie und ihre Transparente sind bunt bemalt. Nichts an ihnen ist unsichtbar.

 

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