Jonë Zhitia

Nadryw | Sprache fühlen

 

 

Bilingual aufwachsen bedeutet nicht, zwei Sprachen zu können. Bilingual aufwachsen bedeutet stetiges Übersetzen, ein Ballspiel zwischen Sprachen, als ob man einen Gegenstand zwischen den Händen hin und her wirft, um ein Gefühl für ihn zu bekommen. Auf Wikipedia gibt es ein Zitat von Wolf Schmid: „Nadryv (von den Wörterbüchern erläutert als die ‚Verhebung', die Überanstrengung, der an Hysterie grenzende, überreizte Ausdruck eines Gefühls) ist eine psycho-ethische Grundsituation in der Welt Dostojevskis, eine überspannte sittliche Haltung, die einer eigentlichen Neigung widerspricht, eine Form pseudo-idealistischer Selbstverleugnung. An den meisten Stellen ist nadryv am besten mit Selbstvergewaltigung wiederzugeben.“

 

Die Tochter von Kriegsgeflüchteten zu sein, ist nicht leicht, aber es gibt Regeln, über die sich dein Aufwachsland und deine Eltern einig sind und die du zu befolgen hast:

1. Du darfst dich nicht beschweren, du musst dankbar sein.

2. Was dir passiert, kann nie wirklich schlimm sein.

3. Vergiss nicht: Du darfst hier leben, es ist keine Selbstverständlichkeit.

4. Da wo du aufgewachsen bist, gehörst du nicht hin. Du bist nicht zu Hause!

5. Du bist zu deutsch/albanisch, nicht albanisch/deutsch genug.

 

Wie sucht man Sprache? Ich war vielleicht acht, als meine Mutter über Danielle Steels Bücher gesprochen hat, aber eigentlich nie über die Bücher, sondern immer nur, wo sie selbst darin vorkam. So sehr hat sie sich gefunden, dass ich in diesem Alter glaube: Danielle Steel schreibt Bücher über meine Mutter. Ich bin nicht viel älter, als ich anfange jemanden zu suchen, der über mich schreibt. Dessen Worte Spiegel sind, dessen Gedanken mir helfen, die meinen zu ordnen. Dostojevski hat die Worte geschaffen, aus Buchstaben und vertrauten Klängen, als habe er eine Sandburg gebaut. „Nadryv ist ein so umfangreiches und verständliches Wort, dass selbst die Deutschen es für sich selbst wollten, es aber nicht übersetzen konnten. Also haben sie es liegen lassen. – Nadryw. Das ist verständlich, es ist unwahrscheinlich, dass ein Bayer aus den Alpen eine echte russische Nadryw erlebt. Es gibt keinen Grund.“ Die Selbstzerrissenheit, das Zerbrechen am Ideal. Der Kosovo zerbricht an der Erinnerung meiner Mutter, meine Mutter zerbricht an meinem Deutsch-Sein. Meine Freunde an meinem Albanisch-Sein. Mein Selbst wird zerrissen durch die Scherben des Ideals.

 

Ich bin nie ins Exil gegangen, ich bin ins Exil hineingeboren. Mein einziges Zuhause ist die Autobahn zwischen Deutschland und Kosovo. Dazwischen liegen Österreich, Kroatien, Serbien, Ungarn, Montenegro – je nachdem, welche Route man fährt. Keines dieser Länder bedeutet für mich Heimat, Heimat stoppt mit den Autoreifen. Wenn sie sich nicht mehr drehen, ist Heimat nur noch eine Erinnerung. Deniz Utlu schreibt dazu: „Heimat ist eine Funktion der Immobilienpreise.“

 

Im Haus von Kriegsgeflüchteten herrscht Krieg. Er beginnt an der Türschwelle, die Schüsse, die Bomben, das Weinen dröhnen jeden Tag aus dem Fernseher. Es gibt keine Altersfreigabe für die Nachrichten, es gibt keine naiven Kinder, nur dieselben abgestumpften Blicke von Augen, die seit Generationen weitergegeben werden. Ich bin noch im Kindergarten, als ich das erste Mal Leichen im Fernsehen sehe, ich bin zehn, als mein Vater den Fernseher abschaltet, weil American Beauty erst ab 12 ist. Der Krieg beginnt an der Türschwelle, er ist kein Ausnahmezustand, er ist das tägliche Brot, er erinnert uns an unsere Schuld und daran, niemals denen zu vergeben, die uns unser Zuhause nahmen. „Jedes Zuhause ist ein zufälliges“, laut Saša Stanišić, „dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will.“ Zuhause ist auch Heimat. Heimat braucht ein Heimatministerium, so die CDU. Heimat ist: der Ort an dem du geboren wurdest. Wenn deine Eltern Asylanten waren, illegale Einwanderer, Flüchtlinge, alles, dessen Leben du mit einer Obergrenze für nichtig erklären darfst, ist der Ort, an dem du geboren wurdest, die Erinnerung an die Nichtheimat. An die Nicht-Existenzberechtigung. An das Nicht-Mensch-genug-Sein. Es gibt Worte, die gehören uns nicht, die unsere Sprache nicht aussprechen kann. Wenn ich ein Wort nicht verstehe, übersetze ich es in andere Sprachen, ins Albanische, ins Englische, manchmal sogar ins Französische, obwohl mein Französisch gar nicht so gut ist. Ich übersetze es, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Sprache fühlt man. Fühlt man wie vibrierende Autositze, die einen in den Schlaf wiegen. Die Zugehörigkeit entspricht der Heimat. Die Zugehörigkeit widerspricht der Andersartigkeit. Andersartigkeit schreibt man sich nicht selbst zu. Andersartigkeit wird zugeschrieben. Im Kosovo nennt man uns „shaci“ vom deutschen Wort „Schatzi“. In der populären TV-Serie „Cafeneja jonë“ nannte eine ausgewanderte Person ihren albanischen Freund Schatzi. Shaci bezeichnet jetzt die Ausgewanderten und ihre Kinder. Die Albaner:innen der Diaspora. Die Albaner:innen der Diaspora sind in Deutschland Kanak:innen. Sind in Deutschland Nutznießer:innen. Sind illegale Einwanderer:innen. Sind Flüchtlinge. Sind Balkanhuren. Sind Autodiebe. Albanien hat die größte BMW-Dichte Europas.

 

Ich glaube, ich weiß, wie sich nadryw anfühlt, aber vielleicht versteht es die deutsche Sprache nicht.

 

Auf Russia Beyond steht:

„Die deutsche Wikipedia hat einen separaten Artikel über das Wort Nadryw: Nadryw ist ein Schlüsselbegriff für den russischen Schriftsteller Fjodor Dostojevski. Dieses Wort gilt als nicht übersetzbar. Ein Nadryw ist laut Dostojevski eine gequälte, hysterisch schmerzhafte Manifestation einer Art Gefühl. Dostojevskis Helden machen alles mit Angst: eine weit hergeholte und übertriebene Leidenschaft.“

 

Meine Geschwister und ich spielen auf dem Fußboden und mein Vater schreit uns an. Oder weint bloß. Ich weiß es nicht, ich habe keinerlei Erinnerung daran. Ich habe nur die Erzählungen. Er erträgt uns nicht. Wie wir da sitzen und spielen. Er fühlt sich schuldig. Seine Kinder sind in Sicherheit, während in seiner Heimat die Kinder reihenweise verhungern, erfrieren oder erschossen werden. Mein Vater vertritt bis heute die These: „Der größte Verrat unserer Generation war es, eigene Kinder zu haben und nicht alle unsere Ressourcen aufzubringen, um unser Land wieder aufzubauen.“

 

Mein Vater und die Deutschen haben uns gegenüber dieselbe Einstellung: Wir gehören hier nicht hin. Mein Vater und die Deutschen haben uns gegenüber dieselbe Einstellung: Wir kriegen zu viel in den Arsch geschoben. Mein Vater und die Deutschen haben uns gegenüber dieselbe Einstellung: Wir sind uns unserer Position nicht bewusst.

 

Ich weiß nicht, was es bedeutet, ins Exil zu gehen, ich bin nur in ihm aufgewachsen. Viele Albaner:innen entschieden sich damals, ihren Kindern deutsche Namen zu geben, um ihnen die Assimilation zu erleichtern. Meine Eltern hatten nie vor hier zu bleiben, aber dann sagten sie irgendwann: „Als wir die Trümmer sahen, wussten wir, dass unser Land sowieso nicht mehr existiert.“ In einem Brief 1867 schreibt Dostojevski: „(…) dennoch war es schlimm, klar und deutlich zu empfinden, dass es nun einerlei ist, wo ich lebe, in Dresden oder anderswo, überall ist fremdes Land, überall bin ich ein losgetrenntes Glied.“ Meine Eltern sind amputierte Gliedmaßen des Kosovo. Ihre Kinder sind Spenderorgane, die in das falsche Land transplantiert wurden.

 

„Jona, du bist mehr als nur eine Migrantin“, sagt Dalia.

„Dalia, ich sehe dich nicht als Migrantin, ich sehe dich als Mensch“, antworte ich.

Wir fangen beide an laut zu lachen.

„Ich brauche noch Wein.“

 

Wer Sprache findet, findet oft auch einen Sprachschlüssel. Wenn man etwas liest oder sich mit jemandem unterhält, und manchmal hat man mittendrin das Bedürfnis aufzustehen, um zu schreiben. Aber nicht, weil es am anderen liegt. Viel mehr dank dem anderen. Es ist, als ob die gehörten oder gelesenen Worte wie Schlüssel passen, und auf einmal öffnet sich einem diese Sprache, nach der man sich verzehrt, mit der man ausdrücken kann, was schon solange unausgesprochen ist, dass es Wurzeln um die Rippen geschlagen hat und seine Pollen die Bronchien verstopfen.

 

Meine Hände strecken sich nach den richtigen Worten aus. Dostojevski baut sie wie Sandburgen. Hält die Zerrüttung, den Moment kurz vorm Zerreißen fest. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Was sagt ein Wort, das ein Bild festhält? Einen Essay.

 

@nataliegolubenko schreibt auf Instagram über Nadryw:

„This word describes an uncontrollable emotional outburst, when a person releases intimate, deeply hidden feelings. Dostoevsky's nadryv implies a situation in which the protagonist indulges in the thought that he can find in his soul something that may not even exist. That's why the nadryv often expressed imaginary, excessively exaggerated and distorted feelings. “

 

Sprachschlüssel also. Sie entlocken uns Dankbarkeit. Die Liebe für sie transzendiert eros und philia und storge und selbst die agape. Sie sind die Liebe des Geistes, der seiner Befreierin, seiner Heldin treu ergeben ist, weil sie ihm den Zugang zur Sprache gewährt hat. Nicht den Zugang zu der Sprache oder die Sprache, sondern die eigene Sprache, die einem verwehrt ist, der Ausdruck des Selbst verschüttet, zugemauert, zugenäht, keine Isolation von den Anderen, die Isolation vom Selbst zum Selbst. In meiner Brust steht ein Turm, nadryv ist ein Fenster, das mich nach draußen sehen lässt.

 

Swetlana Geier, sie war die bekannteste Dostojevski-Übersetzerin in Deutschland, sie hat es einfach gelassen. Ich frage meine Familie nach einer albanischen Entsprechung. Mein Vater rät mir, in der Gruppe „Gjuha Shquipe“ zu fragen, einer Gruppe, in der es um albanische Philologie geht. Meine Schwester fragt in ihrem Buchclub. Swetlana Geier kannte die deutsche Sprache gut genug, um nicht nach etwas zu suchen, was es nicht gibt.

 

Bilingual aufwachsen bedeutet nicht, zweier Sprachen mächtig zu sein. Bilingual aufwachsen bedeutet, zwei Sprachen zu gehören. Es bedeutet ein stetiges Übersetzen, ein Ballspiel zwischen Sprachen. Als ob man einen Gegenstand zwischen den Händen hin und her wirft, um ein Gefühl für ihn zu bekommen.

 

Fyodor Stepun beschreibt „nadryw“ als „a permanent outcry of the soul“. Ich sympathisiere mit Dostojevski.
 

Mein Soziologieprofessor sagt mal zu mir:

„Wenn wir Sprache nicht beherrschen, wenn uns die Wörter nicht geläufig sind, wie können wir dann überhaupt richtig fühlen?“

 

Der Krieg beginnt an der Türschwelle, aber endet dort auch. Die erste Sprache, die Exilkinder lernen, ist das Schweigen. Sie hat ihre eigenen Vokabeln, die man nicht aufsagt, sondern zu verstummen übt. Eine Grammatik, die sich zäh über Wörter legt und ihren Nutzen in der Täuschung findet. Nur ihre Zeitlichkeit ist eine andere. Sie streckt sich und lässt verschwinden, statt Geschehenem seine Worte zuzuordnen. Es ist eine notwendige Sprache für das Überleben, weil niemand etwas von dem Krieg hinter der Türschwelle wissen darf, und im Krieg darf niemand etwas über den Frieden, den du auf der anderen Seite erlebst, erfahren. Schweigen ist das Erinnern an die Schuld zu leben. Das Schweigen ist essenziell, um die Norm nicht zu stören. Ich lese Odile Kennel: „Die Norm redet ununterbrochen von sich und tut so, als sei sie nicht der Rede wert.“ Odile Kennel hebt ihre Stimme vom Papier und fragt mich: „Wie kann das Gedicht die Norm zum Sprechen bringen?“

 

Ich bin aufgewachsen in einer Wohnung,

in der die Böden

scharlachrot waren.

Es klebte auf den Fliesen, dem Parkett,

benetzte die Wände,

verdunkelte die Fenster.

 

 

Scharlach strömte meinem Vater übers Gesicht,

als er nach einem Telefonat, den Hörer ablegte.

Ich weiß noch, wie er auf dem Badewannenrand saß,

und ich fragte, warum,

und er sagte nur, dass sein Lieblingsverein im Fußball verloren hatte,

er nahm mich in den Arm.

Seine nasse Wange an meiner.

Seitdem ist Scharlach die Farbe meiner Haut.

 

Scharlach war die Farbe,

die die Augen meiner Mutter tränkte,

wenn wieder der Fernseher lief

in einer Sprache, die ich damals schon angefangen hatte zu verlernen.

Scharlach sickerte durch die Glasscheibe

über den Tisch zu uns auf den Boden.

Er lief immerzu, der Fernseher.

 

Ich suchte Scharlach.

Ich suchte es zuerst bei den anderen.

Ich suchte es in ihren Häusern,

bei ihren Eltern.

Ich suchte in Büchern.

Ich suchte die scharlachfarbene Tinte auf scharlachfarbenem Papier.

Meistens suchte ich vergebens, aber

manchmal war es ähnlich,

aber irgendwie nie genau richtig.

Scharlach war die Sprache, die wir sprachen.

Es war die Sprache der Menschen, die

viel zu viele für unsere kleine Sozialwohnung,

die bei uns ein und aus waren.

Sie lachten viel und aßen und erzählten.

Doch ihre Münder spuckten immer nur

Scharlach

Scharlach

Scharlach.

 

 

„Ist es hier oder dort schöner?“

„Macht man das bei euch so?“

„Macht man das dort so?“

„Du bist zu laut“

„In Deutschland macht man das nicht so.“

„Bei euch ist das vielleicht normal, hier nicht.“

„Das ist schon typisch K——.“

„Ich weiß auch nicht, aber ich weiß nicht, ob ich das gut fände, wenn man da die Kulturen vermischt.“

„Ist das schlimm für deinen Vater? Dass du zur Uni gehen willst?“

„Das wäre mir schon zu anstrengend.“

„Ihr versteht das nicht, ihr seid dort aufgewachsen.“

 

„Ich glaube, dir fehlt da der Bezug, weil du nicht von hier bist.“

 

Wieso reduzierst du dich so darauf?

 

W.E.B. Du Bois schreibt über das „doppelte Bewusstsein“:
 

„(…) dieses Gefühl, sich selbst immer nur durch die Augen anderer wahrzunehmen, der eigenen Seele den Maßstab einer Welt anzulegen, die nur Spott und Mitleid für einen übrig hat.“

 

Eine der erschreckendsten Entdeckungen meines Lebens war, dass die Zeit nicht anhält, auch wenn ich nicht da bin. Der sechswöchige Sommer reicht nicht, um ein Jahr aufzuholen, egal wie verzweifelt meine Mutter es versucht hat. Brombeersträucher, Apfelbäume, Haselnüsse, im schönsten Garten der Welt wächst nichts mehr, auf einmal ist meine Großmutter zu alt ihn zu pflegen. Aber ich habe keinen Geburtstag von ihr je miterlebt, er fällt auf das Schuljahr.

 

Foucault schreibt:

„Das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist.“

 

Die kosovo-albanische Diaspora ist für die Politik und Wirtschaft des Landes ungemein wichtig. Die Geldsendungen der Ausgewanderten an ihre Familien gehören zu den größten Geldströmen des Landes. Albin Kurti, der jetzige Premier, war selbst ein Ausgewanderter, der nun wieder zurück ist.

 

„Nadryv ist der Schmerz des ganzen Volkes, der sich aus der Überlastung seiner eigenen Nachlässigkeit ergibt“, zitiere ich einen Literaturkritiker, und Walter Benjamin antwortet: „Die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde – sondern dieses Leben hier.“ Nadryv ist der Schmerz eines ganzen Volkes, das dieses Leben hier leben muss. Semra Ertan zündet sich am 26. Mai 1986 in Hamburg selbst an. Sie lebte das Leben hier, in Deutschland. Lebte den Schmerz eines ganzen Volkes, ihre Überlastung ergab sich aus der Nachlässigkeit der Deutschen. Indem sie sich anzündete, hat sie gesagt: „Die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde – sondern dieses Leben hier.“

 

Übersetzungen:

pain ecstasy

sore spot

excessive increase

emotional tension.

 

Ich bin in den Ausnahmezustand hineingeboren worden. Meine ersten Erinnerungen an die Großfamilie sind Gedenkfeiern und Proteste. Als ich das erste Mal im Kosovo war, hat mein Vater zu mir gesagt: „Hier ist deine Heimat.“ Als wir wieder in Deutschland waren, habe ich mich aus dem Fenster gelehnt und gerufen: „Endlich wieder deutsche Luft“. Meine Nachbarin durfte trotzdem nicht mehr mit mir befreundet sein, weil Kanaken einen schlechten Einfluss auf deutsche Kinder hätten. Ich hätte ihrer Mutter gerne gesagt: „Sie verstehen das falsch. Ich kann gar nicht Kanakin sein, denn ich kann dort nicht atmen.Ich weiß nicht, was es bedeutet ins Exil zu gehen, ich bin nur in ihm aufgewachsen. „Als wir die Trümmer sahen, wussten wir, dass unser Land sowieso nicht mehr existiert.“ Ich habe immer gesagt, ich bin nur auf der Autobahnstrecke zwischen Deutschland und dem Kosovo zu Hause. Ich habe meine Familie zwei Jahre lang nicht gesehen. Ich hatte den Sommerurlaub verschoben und wollte ihn nachholen, als die Krise begann. Ich fahre im Juni nach Albanien. An den Strand. Wir sind geimpft und ich kann meine Familie endlich wieder sehen. Jemand meinte, das sei unsolidarisch. Meinte, jetzt Urlaub zu machen, würde mich in dieselbe Kategorie stecken wie die Malle-Urlauber. Es erinnerte mich ein wenig an Jens Spahn, der Ende letzten Jahres behauptete, die steigenden Zahlen wären einzig und allein auf die migrantischen Menschen, die ihre Familien besuchten, zurückzuführen. Nachdem die Beschränkungen für Weihnachten ausgesetzt wurden, versteht sich. Ich weinte, als ich es las. Ich weinte sowieso dauernd letztes Jahr. Erst die türkischen Hochzeiten, dann das Heimfahren, bald das Fastenbrechen.

 

Wenn ich wütend bin, spreche ich meistens Deutsch. Meinem Freund fühle ich mich erst verbunden, seitdem ich angefangen, habe ihm albanische Spitznamen zu geben, ihn auf Albanisch zu necken. Er versteht es nicht. Aber Sprache spricht man nicht, Sprache fühlt man.

 

Ich weinte viel, weil die Isolation mich wahnsinnig machte. Ich weinte, weil der älteste Bruder meiner Mutter starb und ich nicht zur Beerdigung konnte. Ich weinte, weil mein Großvater starb und ich immer noch niemanden sehen durfte. Ich weinte, als meine Großmutter Corona bekam. Ich habe geweint, als meine Mutter in den Kosovo reiste, um sie zu pflegen. Ich weinte, als auch sie Corona bekam. Ich weinte, weil ich wusste, es gab dort für keine der beiden die nötige medizinische Versorgung. Ich mache mir seit einem Jahr dauernd Sorgen um meine Familie. Ich sage zu meiner Schwester: „Ich habe gerade einfach nicht die Kraft für noch einen Todesfall“. Deniz Utlu schreibt: „Der verzweifelte Nichtschlaf heißt Beten“, er hat Unrecht, der verzweifelte Nichtschlaf heißt Fürchten.

 

Nietzsche schreibt:

„Wenn man sich anhaltend den Ausdruck der Leidenschaften verbietet, also nicht die Leidenschaften selber unterdrücken will, sondern nur ihre Sprache und Gebärde: so erreicht man nichtsdestoweniger eben das mit, was man nicht will: die Unterdrückung der Leidenschaften selber.“

 

Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will. Zuhause ist Heimat. Heimat ist eine Funktion der Immobilienpreise. Nicht-Heimat ist der neue Körper der fälschlich transplantierten Niere.

 

Als Corona ausbrach, schrieb ich jeden Tag die Infektions- und Todeszahlen auf. Jeden Tag dokumentierte ich, was passierte. Ich wollte nichts vergessen, nichts verpassen. Verfolgte die Nachrichten mit ständiger Aufmerksamkeit. Ein paar Wochen lang. Bis die Regierung im Kosovo im Frühjahr Albin Kurti das Misstrauen aussprach und Thaçi, der eigentlich Präsident war, wieder an die Macht kam. Dieser Mann wollte „wegen Corona“ einen nationalen Notstand ausrufen. Im Kosovo bedeutet nationaler Notstand, dass das Militär überall aufzieht. In Serbien bedeutet kosovo-albanisches Militär an den Grenzen eine Provokation. Meine Mutter weinte am Telefon mit ihrem ältesten Bruder, der damals noch lebte. Mein Vater telefonierte die ganze Zeit. Immerzu lief der Fernseher. Ich erinnerte mich jetzt, weshalb mir das Verfolgen der Todeszahlen in den Nachrichten so bekannt vorkam. Ich wollte keine Corona-Zahlen mehr aufschreiben. Deniz Utlu schreibt: „Der verzweifelte Nichtschlaf heißt Beten.“ Er hat Unrecht, der verzweifelte Nichtschlaf heißt Wissen.

 

(Im Albanischen ist nicht unüblich zu fragen: „Bist du müde?“ statt „wie geht es dir?“ Die Erschöpfung durch Existenz wird vorausgesetzt.)

 

Die Zerstreutheit eines Volkes durch den Krieg und die ethnischen Säuberungen. Die Zeit vergeht auch während des Schuljahrs. Das fehlerhaft transplantierte Organ droht abzusterben. Jedes Zuhause ist ein zufälliges. Zuhause ist Heimat. Heimat ist eine Funktion der Immobilienpreise. Der verzweifelte Nichtschlaf heißt Beten.

 

Der Krieg beginnt an der Türschwelle.

 

 

 

 

Anmerkung der Autorin:
nadryw/nadryv wird im Russischen надрыв geschrieben und im Deutschen sowohl mit v als auch w übersetzt. Die „wahre“ Übertragung gibt es nicht, da Kyrill im Deutschen nur in etwa übertragen werden kann und keine „perfekten“ Entsprechungen hat. »Eine Übersetzung ist eine Übersetzung und kein Doppelgänger des Originals«, sagte Swetlana Geier. Es kann nur den Versuch einer Annäherung geben und die Unmöglichkeit der Übertragung, das ist nadryv/w

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