Sophia Merwald

Deckung suchen (einen Vater)

 

 

Die erste Raststätte, direkt an der A4, das ist die mit dem ausgefransten Gehsteig, aus dessen Ritzen Gänseblümchen wachsen. Manchmal stecke ich mir welche ins Haar oder flechte einen Kranz um meinen Kopf. Dann ist da dieses warme Gefühl, behütet zu werden, es verdrängt kurz das Stechen in der Brust, das sonst die Blümchen zertrampeln will. Ich streife über den Parkplatz, wo die Trucker zu Autorauschen pennen. Schritte, schleifende, mal rennende, über dem Asphalt ausgeleierte Lust und Müdigkeit in den Beinen.

 

Ich komme um 23 Uhr 30, sagt er, als würde er seine Wohnung mit Stoppuhr verlassen. Es stehen zwölf LKWs auf dem Parkplatz, nun fährt ein dreizehnter vor. Ein Mercedes mit gelbem Nummernschild. Der Stoppuhrtyp stößt die Tür zu seiner Kabine auf, ich steige ein.

 

Das Gras kommt von Samuel, ich bin siebzehn und gerade abgehauen von zuhause. Du kannst erst mal bei mir bleiben, sagt Samuel ganz cool, als ob es ihm nichts ausmacht. Insgeheim hoffe ich, dass es ihn freut. Meine Mum hat mir erklärt, wie das mit den Männern läuft: Dass ich sie vergöttern muss. Dass sie manchmal ihre Show brauchen. Und dass sie es deshalb so schwer hatte, weil sie sich von ihnen nicht alles gefallen ließ. Vom Gras muss ich husten und Samuel grinsen. Er ist der erste Typ gewesen, den ich nackt sehen wollte. Doch stattdessen: dörfliche Reihenhausromantik, ein bisschen fummeln, ein bisschen knutschen, ohne Zunge natürlich.

 

Wir fahren ans andere Ende des Parkplatzes, wo zwei Laternen ausgefallen sind und die dritte nur noch flimmert. Er sagt zu mir beim Öffnen meines BHs, als ob er eine Speisekammer betritt: Wenn du meine Tochter wärst, würde ich dich so nicht auf die Straße lassen. Dann lieber zwischen Zwiebeln und Tränen, und bis die ersten Schamhaare sprießen, zuhause einsperren.

 

Er sagt zu mir beim Greifen meiner Brüste, alles, was du brauchst, ist eine Wohnung, eine Arbeit und einen Kerl, der dir Zuneigung gibt. Bedingungslos muss sie sein, bedingungslose Zuneigung, fügt er hinzu und saugt meine Nippel ein. Dann lächelt er und mir fallen seine Grübchen auf, die gar nicht zu dem Typen mit der Stoppuhr passen, wie ich ihn im Kopf hatte.

 

Ketamin, ich bin zwanzig, und alle anderen mindestens doppelt so alt. Das Keta ist heftig, jemand hat es zu Pulver gemörsert und wir schnupfen es. Es ist gemacht, um Pferde schlafen zu legen, und wir, die wir halterlose Pferde sind, werden high von Schwerelosigkeit. Die Party ist laut, viel zu groß für den kleinen Raum. Die Gesichter der Gäste sind verschwommen. Ich erkenne niemanden. Mir ist schwindelig und ich warte auf Samuel, weil ich immer auf ihn warte, mit angewinkeltem Bein und nägelkauend. Ich warte, aber weiß selbst nicht, wie ich hierhergekommen bin.

 

Wobei, sagt er und lässt von meinen Nippeln ab, vergiss die Wohnung und die Arbeit. Das hier, er klopft mit den zwei verschmierten Fingern auf sein Lenkrad, ist besser als jede Sicherheit da draußen. Ob ich schon mal verreist bin, will er wissen. Er fährt jede Woche quer durch Europa, ne. Tschechien, Italien, ne. Eine Weinbergschnecke kriecht über das Armaturenbrett. Frankreich, Deutschland, ne. Wie sie wohl aussieht ohne Schale, frage ich mich, als sie an meinem Kopf vorüberschleimt. Ich bin auch nicht mehr als ein Kern ohne Gehäuse, aber ich bin flink und blitzschnell. Ich bin da zuhause, wo ich nichts zu verlieren habe. Wann hat sich die Unruhe so bei mir eingerichtet, dass ich ihr dauernd folgen muss?

Ich bin angehalten, auf der Flucht zu sein, aber jedem neuen Mann klammere ich mich ans Bein.

 

Minütlich aktualisiert Samuel seinen Facebook-Feed. Er ist Mitglied von sämtlichen Wohnungsgruppen. Er will sein eigener Herr sein, sagt er, in einer neuen Wohnung, einer eigenen. Wir sprechen serifenlos, wir sprechen in Großbuchstaben und mit Ausrufezeichen. Weil wir uns nicht erlauben können, unsere Leerstellen zu zeigen. Weil wir keine Antworten auf Nachfragen haben. Wir imitieren Menschen, die geerdet sind und zweifellos ihre Herkunft kennen.

 

In zwei Komma acht Kilometern die nächste Ausfahrt nehmen, sagt das Navi zu den Menschen, die hier jeden Tag über die Autobahn rauschen. Vielleicht sitzen Väter in diesen Autos. Sie halten nicht an, weil sie es nicht weit haben und weil sie den Weg kennen und eigentlich kein Navi brauchen. Sie fahren vorbei an den Raststätten am Rande der Stadt in das Eigenheim im schönen Vorort. Sie fahren ins Klischee, aber entspannt im dritten Gang, weil sie wissen, dass es für sie Realität ist.

 

Ich habe Hunger von dem Loch im Bauch und Seitenstechen von der Rastlosigkeit. Ein silberner Hyundai fährt vor. Ich steige ein, wir fahren los, wir halten an, ich steige aus. Ich hole Kaffee, trinke aus einer Plastiktasse und rauche einen Zigarettenstummel, den ich bei einer Zapfsäule finde. Ein Opel, ein Fiat, ich steige ein, wir fahren los, das Säuseln verschiedener Motoren und wir halten an, ich steige aus, das Quietschen von Lederimitaten.

 

Kennst du das? Dich beim Sex zuhause fühlen?, frage ich Samuel. Es ist egal, mit wem du schläfst. Einfach nicht mehr verlassen sein, sondern vereint ganz kurz. Er nickt. Wir sprechen in Derivatemen: hoffnungslos, vaterlos, heimatlos. Wir sprechen so, weil wir nur Losigkeiten ausfüllen können. Kann man überhaupt etwas vermissen, was man nie hatte?, frage ich. Was ist das eigentlich für ein Vaterland, dem die Väter fehlen, sage ich mit einem Ausrufezeichen.

Samuel knirscht mit den Zähnen. Was sollen wir denn tun? Protestieren gegen die Väter, die nicht da sind? Du bist echt bescheuert, sagt er. Dabei weiß ich, dass ihm die Leere genauso weh tut. Wir rekapitulieren unsere Erfolge im vaterlosen Wohlstandsland: Ich habe den Medikamentenaufstieg geschafft von der Schmerztablette zu den Benzos. Ich weiß jetzt, wie Ärzte reden und welche Codes sie meinem Leben widmen. Samuel hat endlich Geld, um auszuziehen. Er weiß jetzt, dass seine Mutter ihn angelogen hat, dass er eigentlich Halbwaise ist, schon lange, und dass er Rente bekommt, auf ihr Konto.

 

Ein VW-Bus, ich steige ein, wir fahren los in eine Tiefgarage, in unseren Abgrund, den andere durch abgedunkelte Fensterscheiben nur erahnen können. Es ist ein neuer VW-Bus, nicht so nostalgisch wie seine bunten Vorgänger. Auf der Heckscheibe ein Sticker mit zwei kleinen Köpfen, etwas zerkratzt: Hier sind Kinder an Bord.

 

Der Typ hat den Geruch von Samuel. Von einem, der sich das Stockwerk mit zehn anderen Mietern teilen und in verschwitzte Aufzüge steigen muss. Er hat Angst vor den Kameras hier unten und hängt dreckige Spucktücher vor die Fenster. Die sind von meinen Kids, sagt er. Bin noch nicht zum Aufräumen gekommen. Stört dich doch nicht, oder?

 

Ich räuspere mich, um nicht antworten zu müssen. Die Raststätte ist kein Rastplatz für mich, denke ich und will es schreien in Großbuchstaben und mit Ausrufezeichen, aber er würde es nicht verstehen. Ich nehme zwei Tavor zum Zergehen auf der Zunge. Kein Geschmack, aber sofort Watte im Kopf. Er fragt mich, was ich da schlucke. Ich räuspere mich, um nicht antworten zu müssen.

 

Ich sitze bei einem Psychiater, der auf seiner Homepage wie ein Familienpapa aussah. Promethazin, das wird er mir verschreiben, sagt er. Ich könnte auch noch etwas Tavor gebrauchen, sage ich. Er reicht mir das Rezept. Gegen die Unruhe und Insomnie, sagt er mit seinen Golden-Retriever-Augen, die mir schon online aufgefallen sind. Chronischer Vaterhunger überfällt mich. Am liebsten würde ich etwas bleiben, auf der Liege liegen, auf seinem Sessel sitzen, in seinem Kittel verschwinden und Benzos mit ihm ziehen.

 

Als ich wieder zurück bin, schmeißt Samuel mich raus, er braucht jemanden, der Miete zahlt, ich wohne schon viel zu lange gratis hier und außerdem: seine Mutter. Es tut mir leid, sagt er. Noch ein bisschen fummeln, ein bisschen knutschen, ohne Zunge natürlich, dann stehe ich auf, packe meine Sachen und laufe los. Ich ziehe in das Auto von einem Pseudo-Hippie, der mich auf der Straße mal nach meiner Nummer gefragt hat. Es ist eine verschmutzte Karre, die trotzdem in der Sonne glänzt.

 

Wir machen hundert aus. Gib mir deine Hand darauf, sagt er. Erst das Geld, sage ich und zähle die Scheine, die er mir reicht. Drei Zehner, ein Zwanziger und ein Fünfziger. Es sieht aus wie Spielgeld, mit dem ich bei Monopoly meine eigene Straße kaufen könnte.

Ich beuge mich, sehr brav, ich zeige mich, wie geil, er reißt mich, ein Hengst. Aus dem Augenwinkel sehe ich unter dem Fahrersitz zwei Schleich-Pferde liegen, kinderfaustgroß. Ich denke an Prometheus und das Schweben über den Dingen. Mein Körper ziert sich, krampft und wartet, bis die Dinge zu Boden fallen.

Prometheus habe ich in der Schule nie verstanden, aber jetzt ist er mir näher, da in der Nacht, wo mir das Urteilen über Menschen so viel leichter fällt.

Wo ich wohne in der Nacht und wo es keine andere Deckung gibt als Schatten unter Laternen. In der Deckung begriffen sein, lese ich, bedeutet: sich verstecken, sich klammern an etwas; an eine Decke, nur aus Ohnmacht gestrickt.

 

Mir ist wieder schlecht von dem Loch im Bauch. Auf der Rückbank liegen Pommes von McDonalds. Die sind schon etwas älter, sagt er. Ich fette mich ein, stopf meinen Mund aus und den Kopf mit Gier. Er schnauft laut und schneller. Der Duftbaum Typ Waldmeister baumelt hin und her am Rückspiegel. Ich werde Stein und sage, ich schlucke nicht, verstanden? Er lacht auf, schnappt nach Luft und zerknüllt die Stille zwischen uns mit einem Witz über das Parkticket, das sich ja jetzt kaum gelohnt habe. Ich bin schon ausgestiegen, da ruft der Waldmeister mir zu, ey, ich fahre dich wieder hoch. Aber ich bin ja schon ausgestiegen, ich bleibe Stein und sehe ihm hinterher, bis die Sticker-Kinder auf seiner Heckscheibe kleiner und immer kleiner zu Babys werden.

 

Ich rufe Samuel an. Er ist der Einzige, dessen Nummer ich eingespeichert habe. Er geht nicht ran, natürlich. Ich checke seinen Facebookstatus. Online. Ich schreibe ihm, er antwortet nicht. Im Internet, dem Dorf für Namenlose, bin ich unsichtbar. Eine Nachricht von vielen. Ein Plopp, gehört, stumm geschaltet und vergessen. Auf seinem Profilbild hat er mich abgeschnitten. Wir auf dem Dach seines Elternhauses, der Schornsteinfeger hat uns hochgelassen und wir haben ein Selfie gemacht, bevor wir wussten, dass es so heißt. Samuel sagt, es war sein Vater, von dem er das Klettern gelernt hat. Ich glaube, das war nur ein weiterer verzweifelter Versuch seiner Mutter, dieses Loch, seine Kindheit, mit Geschichten zu stopfen. Ich habe ein vages Bild meines Vaters im Kopf, nur seine Stimme ist nicht mehr da. Regelmäßig googel ich seinen Namen, an manchen Tagen stundenlang, dann Wochen gar nicht. Dann verachte ich mich für jeden Gedanken an die Losigkeit in mir. Dann verachte ich mich für die sehnsüchtigen Blicke, die ich als Kind auf den unbesetzten Stuhl in unserer Küche warf.

 

Ich esse einen Joghurt aus dem Becher, die Fruchtstückchen spucke ich aus. Es ist ein Kirschkerntag angebrochen, zum Ende des Sommers sieht das hier häufig so aus: die verblühten Kirschbäume und ihre letzten Überbleibsel am Boden. Die Kerne zu meinen Füßen zeugen von den vielen Kirschen, die hier schon gegessen und ausgespuckt wurden.

 

Die schönen Kirschbäume verdecken die Kläranlage, die hinter ihnen liegt, aber der Wind trägt ab und zu ihren säuerlichen Duft herüber. Mit der Schule haben wir damals einen Erziehungsausflug in diese Anlage gemacht. Zwei Jungs aus meiner Klasse haben Wäscheklammern für die Nasen verkauft. Ein Euro das Stück, riefen sie. Eine Lehre für die Zukunft, sagte unser Lehrer. Aber wem sagte er das: Niemand von uns wollte hier landen, das war klar.

Wir sprachen von landen, weil wir damals noch dachten, wir könnten es uns aussuchen. So wie man mit dem Flugzeug an dem Ort landet, der eben auf dem Ticket steht. Als Kind habe ich mir vorgestellt, dass an Autobahnen wie an Bahnhöfen wie an Flughäfen eine Zukunft auf mich wartet, jeden Tag aufs Neue mit ausgestrecktem Daumen wartet.

 

Ich sitze unter dem Baum mit dem dichtesten Blättergewand in dem dichtesten Schatten, der sich hier finden lässt. Der Waldmeister hat übermorgen wieder Zeit, schreibt er mir. Ein Plopp, gelesen, archiviert und vergessen. Ich versuche, mich zu sammeln und muss an die Kids vom Waldmeister denken. Werden sie auch hier warten, an dem Ort, wo sie ihn zuletzt gesehen haben?

 

Die losen Kirschkerne am Boden erinnern an das Ausgespucktsein in diese Welt.

Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn mein Vater in einem dieser Hyundais oder Opels oder namenlosen LKWs säße. Wenn er mich erkennen würde und es ihm dann richtig leidtäte, mich hier zu finden, vor diesen leergepflückten Kirschbäumen.

 

Ich muss daran denken, wie meine Mum mir sagte, du bist ein Zufallskind und dein Vater ein Reisender, und wie ich früher fast stolz darauf war. Und wie ich nun wütend bin, weil ich einen Samenautomaten vor Augen habe, der sich kreuz und quer über die Landkarte ein eigenes Imperium gezeugt hat. Ein Imperium, von dem niemand weiß, wo es liegt und wer alles Teil davon ist.

 

Ich nehme einen tiefen Atemzug vom Kirschkerntag, der so ganz anders riecht als Benzin und Abgase in der Tiefgarage. Ich hebe eine heruntergefallene Kirsche aus der Parkplatzwiese auf. Noch einmal lutschen, noch einmal Süßes schmecken, und nichts mehr schlucken müssen.

Ein Programm der Crespo Foundation Logo Crespo Foundation