Nicole Collignon

„Corrige moi, si je me trompe … “  

 


Spiel I
Ich spreche von einem Baum und habe einen stilisierten Baum, ähnlich dem Motiv auf der Dobble-Karte, im Kopf.
I. Haben Sie bei dem Wort „Baum“ an das gemalte/gezeichnete/animierte Bild eines Baumes gedacht, oder kam Ihnen ein realer Baum in den Sinn?
II. Haben Sie bei der Beschreibung „stilisierter Baum“ an das Motiv einer Dobble-Karte gedacht?

Spiel II
Ich stelle mir ein Schiff vor. Sie stellen sich ein Schiff vor. Ich stelle mir ein Schiff vor, auf dem meine Mutter fährt. Sie stellen sich ein Schiff vor, auf dem Ihre Mutter fährt. Sie stellen sich ein Schiff vor, auf dem meine Mutter fährt. Ist es das gleiche Schiff?

Ich spreche mit meiner Mutter über ihre Jugend. Sie erzählt mir, dass sie und ihre Geschwister den Balkon ab einer gewissen Zeit nicht mehr nutzten. Es wurde sich unten gewaltvoll um die Telefonzelle gestritten. In einem dieser Streite flog eine Kugel in die Wohnung, in der meine Mutter mit ihren zwei Geschwistern saß, und verpasste knapp Andrés Kopf. Womöglich, so genau beschrieb sie es nie, knallte die Kugel zehn Zentimeter von seinem Kopf entfernt in die Wand. Sie erzählte mir auch, dass sie einen Tag und eine Nacht lang auf einem Schiff stand. Das Schiff war voll. Neben ihr stand ein Mann, mit dem sie sich die ganze Nacht angeregt unterhielt. Sie war sechzehneinhalb. Es ist eine witzige Altersangabe, so ein einhalb daran zu hängen, doch so wurde es mir immer erzählt. Vielleicht ist es besser, sechzehneinhalb als sechzehn zu sein, wenn man mit den Geschwistern allein auf einem Boot ist. Der Mann, mit dem sie sich angeregt unterhielt, war älter. Er war alt genug, um schon eine Weile gearbeitet zu haben – mehr weiß ich nicht, doch das kann ich über ihn aussagen, denn er hatte als Journalist gearbeitet. Das hat mir meine Mutter erzählt. Eines Tages war seine Wohnung verwüstet, überall Papier, das rumfliegt, alle Schubladen aufgezogen: So stell ich mir das vor. Kein Ding war an seinem Platz gelassen worden – dieses Gefühl habe ich in Erinnerung bei dieser Erzählung. Wie seine Wohnung wirklich aussah, kann ich nicht sagen. Dann sagt meine Mutter, bof, da hat er sich gesagt, das mach ich nicht mehr mit, da ist er gegangen.  
Ich lüge: Das hat meine Mutter so nicht gesagt. Ich weiß nicht mehr, was sie gesagt hat. Ich kann mich nur daran erinnern, was die Essenz ihrer Stimme war. Ich kann mich erinnern, dass sie es oft erzählt hat, und ich erinnere mich an das Bof . Bof [bɔf], und dann etwas, das den Inhalt signalisierte: Das hat er nicht mit sich machen lassen. Das hat er nicht mit sich machen lassen wollen.

Spiel III
Dieses Spiel exerziere ich nicht an Ihnen. Ich exerziere es an mir und meiner Mutter und unserer bröckelnden Brücke.
Ich kann Sie höchstens fragen:
Wie sah das Schiff aus?
Und ich kann Ihnen gleich die Antwort geben.
Ich kann Sie allerdings auch fragen: Wie habe ich mir das Schiff vorgestellt?
Bis ich dreizehn war, hatte ich eine dezidierte Vorstellung von dem Boot. Ich kann es mir nicht anders erklären als dadurch, dass ich die Geschichte schon von klein auf hörte. Ich war bis dahin noch auf keinem Boot gewesen, außer mit sieben Jahren auf einem Walsichtungsboot in Los Angeles. Und es muss sich in meinem Kopf, da sich auch kein Detail der Erzählung änderte, das Boot auch nicht geändert haben. Ich glaube, Sie wissen, wie das Schiff aussieht, weil ich nun auch weiß, wie das Schiff aussieht. Es gab hierorts genug Abbildungen von dieser Art von Schiff in den Medien, 2015 zumindest.
Ich sah ein weißes Kreuzfahrtschiff, auf dem gedrängt ganz viele Menschen standen. Ich sah ein blaues Meer und einen blauen Himmel, und noch immer habe ich meine Mutter nicht nach dem Wetter gefragt.
Als ich meiner Mutter durch eine Googlesuche Bilder mit von Menschen überlaufenden Kähnen zeigte, kleine Dinger in einem randlosen Ozean, da zeigte sie auf eines mit einer blauen Kajüte. Sie sagte, dass es unglaublich lieb gewesen sei von dem Mann, sie mitzunehmen. Sie sagte es mit Begeisterung. Ich fragte nach dem Geld. Natürlich gab es Geld als Gegenleistung. Was für mich mit einem Mal so unglaublich unsicher geworden war, schien für sie so sicher. Meine Mutter war dankbar, und ich konnte es nicht verstehen.
Manchmal, als ich klein war, saß ich ganz still auf einer Truhe im Arbeitszimmer, wenn sie mich gerufen hat. Ich habe aufgehört, laut zu atmen, die Bewegung meines Brustkorbs minimiert, nicht reagiert, wenn sie hineingekommen ist. Sie ist an mir vorbeigegangen, oft. Ich bin unsichtbar geworden. Sie hat an anderen Orten nach mir weitergesucht. Ich kann zu Luft werden, wenn ich es will. Diese Ruhe und dieses Verschwinden trage ich in mir.

Spiel IV (exerziert an Ihnen und mir)
Verstecken Sie sich mit mir im Haus. Wie sieht das Haus aus? Welches Rot hat das Bett? Wie fühlt sich die selbstgenähte Decke mit Katzenmuster unter den Händen an?
Ich habe nicht oft von dieser Zeit erzählt. Eines Tages ersticke ich ein Löwenkaninchen unter der Decke. Es ist weiß und hat eine Mähne. Ich wollte mich mit ihm unter der Decke verstecken, um nicht gefunden zu werden. Ich wollte nicht lernen. Ich gestehe es zwei Jahre später unserem Religionslehrer, dem Dorfpfarrer. Er nimmt mir die Beichte ab, und es ist mir verziehen, sogar ohne Beten. Es gibt einen Vogel, um den sich nur meine Mutter kümmert. Einen einsamen Wellensittich, der im Zimmer meiner Eltern lebt und stirbt. Manchmal sehe ich in dieser Zeit vom Balkon nach unten und denke, es ist nicht tief genug. Inzwischen ist dort meine alte Krippe aufgestellt, und sie wird als Pflanzenbeet genutzt. Ich habe hier oft gelegen, kaum entfernt vom Balkon auf einem Sofa im Kinderzimmer, das dort nicht mehr steht. Ob man nach dem Tod einfach durchs All fliegt. Ob es nicht langweilig ist, zu sterben und dann durch die Dunkelheit zu fliegen, und ob ich mir „3 Fragezeichen“ auf dem MP3-Player mitnehmen kann. Ich hatte Lust, ans Ende der Welt zu fahren mit einem Schiff und über den Rand zu fallen. Ich wollte ewige Wasserfälle, Freiflug und kein gebrochenes Bein beim Aufkommen auf der Terrasse, und vor allem keine Fragen warum, keine Klinik, keine Nachbarn, die mich ansehen, und nicht das Stigma: krank.
Mir war einfach langweilig, und ich wusste nicht, ob sich das ändern würde.
Es ist vielleicht besser, wir hören auf mit dem Spiel.
Eine Dartscheibe hängt an der Zimmertür. Meine Mutter öffnet sie, und ein Pfeil bleibt in ihrer Augenbraue stecken. Sie blutet. A.s Dartscheibe wird abgenommen. A. ist aus dem Fenster gefallen, als er klein war. Mehrere Stockwerke. Ein blauer Kopf, ein ganz blauer Kopf, angelaufen und riesig. Ein Zweijähriger, der es überlebt hat. A. lernt Karate und wirft meine Mutter auf den Boden, oft. A. ist Taxifahrer. A. kann nicht mehr schlafen. Er ist Hypochonder. A.s Haar ist in den Zwanzigern grau geworden. Das kommt vom Stress. A. hat im Libanon studiert, und A.s bester Freund wurde erschossen. A. hatte mal einen Fotografiestudenten zu Besuch. A. wurde mit ihm gemeinsam kontrolliert. Als die Miliz sah, dass sein Freund eine Kamera besaß, führte sie sie in einen Innenhof. Dort posierten die Männer vor einer verbrannten Leiche, lachten. A. hat das niemanden erzählt, bis vor kurzem. Jetzt weiß es jeder in der Familie, obwohl niemand darüber spricht. A.s Freund muss gezittert haben. Es hat geklickt.
Ich rede mit Onkel A. nicht gerne, weil er mich angemacht hat. André ist nicht sympathisch. André hat sich um seine Eltern gesorgt, bevor sie gestorben sind. Er ist nach dem Tod seines Vaters ins Elternhaus gezogen und hat sich um seine Mutter gekümmert. Sie war zu schwer, als dass er sie mit seinem Kreuz hätte heben können. Er hat sie mit seinem kaputten Kreuz gehoben. André bekommt Geld. Jeden Monat fließt es vom Konto seines verstorbenen Vaters auf sein Konto. André hat Wirtschaft studiert. André hat sich nicht getraut, hier in Deutschland zu arbeiten, weil er nicht hier studiert hat. André sagte: Mein Deutsch ist zu schlecht dafür. André wird öfter kontrolliert. Ein Teil von mir wünscht sich, dass André nicht eklig wäre. Keine Sorge, ich habe kein Fieber, außer wenn ich dich ansehe, hat er gesagt. Er hat mir eine gute Besserung gewünscht, als ich krank war. Andrés Tochter redet nicht mehr mit ihm. Ich habe kein Recht, mehr über meine Familie zu erzählen. Ich habe schon zu viel erzählt.
Es gibt eine Geschichte, an die ich mich nicht gut erinnere. Ein Kater, der über das Balkongeländer eines Wohnheims gehalten wird, der nach unten guckt und still wird. Es ist ein langer Weg nach unten. Dann setzt ihn der Freund meiner Mutter ab, auf dem Balkonboden. Ich weiß nicht, was die Katze davor getan hat. Ich weiß nur, dass sie still geworden ist. Ich weiß, wie meine Mutter lacht, wenn sie von dieser Geschichte erzählt.
Mein Großvater muss die Fenster der Wohnung im Libanon reparieren lassen, als er noch lebt. Er gibt es vor fünf Jahren in Auftrag. Warum sind die Fenster kaputt gegangen, frage ich. Eine Autobombe in der Nähe einer Moschee. Sind Menschen gestorben? Über 50, antworten sie.
Ich weiß schon seit Tagen von den Fenstern. Wir haben davor nicht über die Menschen gesprochen.
Ich bin ein arrogantes Kind. Ich halte mich für intelligenter als meine Mutter, als ich sie mit fünf Jahren bei Der-Die-Das-Fehlern korrigieren kann. Sie freut sich, wenn ich Rechtschreibfehler in den Kinderbüchern finde.
Meine Mutter spricht immer wieder von ihrem Lieblingsmathematiklehrer, der Kreise auf den Boden zeichnete. Oft hat sie es mir vorgemacht, immer und immer wieder zeichnet sie einen Kreis auf den Boden und erklärt mir eine Rechnung, nach der ich sie nun fragen muss.
Sie lacht über die Leichtigkeit dieser Zeit, dann wird sie traurig und sagt: Leider ist er gestorben. Nach zehn Jahren auf offener Straße erschossen worden.
Offen sind nur Straßen, in denen man erschossen wird.
Wenn die Nachbarskatze überfahren wird, dann lacht sie. Es gibt Dinge, die sind schwer zu ertragen. Deswegen kann man nur über sie lachen. Meine Schwester schreit sie an: Das ist nicht witzig. Warum bist du so?
Doch was tun, wenn nicht lachen? Es gibt nur die Alternative, still zu sein. Bald versteht sie das.
Ich habe Angst, dass Sie mich missverstehen. Ich habe Angst, dass Sie schlecht von ihr denken. Ich habe Angst, dass ich Sie abschrecke, wenn ich über die Gewalt spreche. Dass Sie denken: Diese Menschen sollen dort bleiben, wo sie her sind. Ich kann nicht über die Gewalt in unserer Beziehung sprechen, wenn sie gegen mich und meine Mutter verwendet werden wird.
Meine Mutter, das ist auch die Frau, der in der Arbeit gesagt wurde, du stinkst. Benutz Deo. Die Frau, die nach Ordnern fragte und: Geh zurück zu deinen Kindern und deinem Herd. Und die schluckte, ganz oft schluckte, und dann, wenn ich die Bananenschalen nicht wegwerfe: Das kannst du aber in der Firma dann nicht machen. Das kannst du nicht machen, wenn du mal in einer Firma arbeitest. In einer Firma gibt es Regeln, man duckt sich. In der Firma gibt es kein Halbtagsangebot für Mütter, Reisen ist Pflicht. In dem Dorf gibt es Blicke, oder Blicke, die sie sich einbildet. Eine Rabenmutter, das ist eine Mutter, die ihre Kinder verlässt. Sie verlässt die Firma. Sie kocht und putzt und unterrichtet ihre Kinder und füllt die Zeit. Antidepressiva reichen nicht. Diese Gewalt hat ihre letzten Jahre geprägt. Mein Vater will sie beim Arzt nicht entmündigen lassen. Er lässt sie alleine mit den Kindern und fliegt am Wochenende nach Hause zu den Resten. Arbeit in der Hafenstadt, Wohnen im bayerischen Dorf. Sie kommt in keine Klinik. Sie schreit und wirft sich selbst auf den Boden. Ich wollte es auslassen.

André muss keine gute Person sein, um hier sein zu dürfen. Meine Mutter muss nicht gesund oder perfekt sein. Ich will sie nicht zu guten Beispielen machen.
Am 15.03.22 zieht die griechische Küstenwache eine Rettungsinsel voller Geflüchteter aufs Mittelmeer. Dann wird die Leine gekappt, und das Boot fährt davon. Es liegt nun auf der türkischen Seite des Meeres.   
Was macht Andere zu Anderen?
Es tut mir leid.

Ich frage sie, ob sie glücklich ist, und sie sagt: Bof, ist das wichtig? Was sie will, kann sie mir nicht sagen. Ich würde ihren Weg gerne auf einer Karte nachfahren und meinen dazusetzen. Sie hat mich mitgezogen und zu vielem gezwungen, doch seitdem ich frei bin, winkt sie mir vom Fernen. Ich sehe die Wolken über sie ziehen, sehe sie lachen, neonpinke Leggings aus dem Angebot tragen, schreien. Ich sehe ihre Tränen, doch frage mich, wo in ihr Platz ist für Traurigkeit. Sie ist wie ein Baukasten, in dem alles eine Ordnung hat, die ich nicht verstehe. Ich kann sie nicht vorhersagen. Ich hoffe manchmal, dass sie in mich geboren hat, dass ich das Meer vermisse. Ich würde gerne an Klippen leben.
An der Klippe spielt sie mit den Brüdern – die Zehen im Wasser, am Hinein und Hinausplatschen. Seeigel. Wie sie mir immer Plastikschuhe anzieht, bevor ich am Baggersee ans Wasser darf. Es ist gefährlich, sagt sie. Ihre geflochtenen Haare auf den Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Ihr Gesicht hat sich seitdem nicht verändert. Diese Vierjährige mit ihrem Vogelgesicht, diesen großen Augen, der langen breiten Nase und den geschürzten Berglippen. Ich sehe diese Bilder aussterben.
Als ich ihr von dem Traum erzähle, weiß sie nichts dazu zu sagen. Sie fängt an von etwas zu reden, das ich vergesse.
Der Traum, in dem ich das Gesicht meiner Mutter gesehen habe, alle Falten, alle Wölbungen. Ich habe ihr Gesicht mit beiden Händen gehalten und gestreichelt. Ich habe ihr gesagt, wie schön ich sie finde, dass alle Markierungen in ihrem Gesicht ihren Sinn haben. Dass ich sie liebe. Ich bin erfüllt von der Schönheit ihres Gesichtes aufgewacht.
Ihre glasigen Augen. Die rote, wölbige Haut. Feucht. Wie sie sich die Tränen wegwischt, in ihren Sechzigern, verstohlen.

Obwohl sie sich an nichts erinnert, das sie damals getan hat, wiegt sie mich manchmal auf ihrem Schoß, als würde in meinem Körper noch das Baby sitzen, an das sie denkt, das sie liebt. Ich bin ihr dankbar für ihre erschöpfte unbedingte Hingebung. Es ist, als wäre etwas in ihr auch noch Kind, und die Mutter, die sie ist, wird Mutter für ein Kleinkind, eine Tochter, eine Frau gleichzeitig. Zu schwer für den Schoß, sie lacht.
Meiner Mutter gehen die Worte aus. Ihr Arabisch wird brüchiger, und zu schreiben und zu lesen traut sie sich nicht mehr. Ich habe vieles nicht gelernt, und sie hat mir vieles nicht erzählt. Sie hat vieles nicht gelernt, und ihr wurde vieles nicht erzählt. Ihr Armenisch war brüchig, und es ist für mich verloren.
Ich spreche mit ihr am Telefon und erzähle ihr vom Text. Sie sagt: Ich bin früh gegangen, bevor es schlimm wurde. Ich frage: Wie war das mit den Schüssen? Die Schüsse, die sich in meinen Kopf eingenäht haben. Als wäre das nötige Schließen der Tür zum Balkon ein Fakt. Doch meine Mutter sagt mir: Es gab keine Schüsse. In die Wohnung wurde nicht geschossen. Und ich frage mich, woher diese Schüsse kamen. Ich frage mich, wer von uns sich erinnert.
Hallah und meine Mutter stehen auf dem Balkon. Ein Mensch wird an einem Seil hinter einem Auto mitgezogen. Das Seil ist an den Beinen befestigt, möglicherweise nur an einem Bein. Das Auto fährt durch die Straße. Das Gesicht des Menschen wird über den Asphalt geschleift. Vielleicht hat er das verdient, sagt Hallah. Niemand hat das verdient, sagt meine Mutter, und es ist tiefe Bitterkeit in ihrer Stimme, jedes Mal, wenn sie das erzählt. Als wäre etwas in ihrer Stimme an einem Haken hängengeblieben. Diese Geschichte erzählt sie so oft, dass ich weiß, dass sie stimmen muss.
Heimat: Ein Hochhaus in Tripoli. Eine deutsche Mutter, die Französisch spricht, ein armenischer Vater, der im Wasserkraftwerk arbeitet, um Strom zu produzieren, der Französisch, Arabisch und Armenisch spricht, einen ägyptischen Pass und syrische Ausweisdokumente besitzt: Manche Pässe sind hier nicht angesehen zum Arbeiten. Mein Großvater ist nun Ägypter anstatt Syrer. Er ist auch ein Jahr jünger geworden. Sein Vater ist durch die syrische Wüste gewandert, mager und unreif. Sonst wäre er in der Türkei, in seiner Heimat Gürün, erschossen worden. Ich weiß, dass sie in einem Dorf in Bayern sitzt und ihre Heimat seit mehr als 40 Jahren nicht gesehen hat.
Ich stelle mir die Telefonzelle vor. Ich stelle mir den Balkon vor. Ich stelle mir die Schildkröten und die Schüsse vor, die Hitze im Sommer, den Geruch des gegrillten Fleisches auf dem Schulhof, des warmen Brots. Ich bin mir bewusst, dass ich nicht sehen werde, was sie sieht, selbst wenn wir auf dieselbe Sache blicken. Dass unsere Worte andere Bilder meinen und die Wege, die ich zu ihr baue, brüchig sind. Und doch muss ich sie immer wieder bitten, mir zu sagen, ob ich falsch liege.
Ich darf die Individualität nicht in der Geschichte verlieren, so wie sie die Zeitung schluckt. Ich darf nicht vergessen, dass meine Mutter und ihre Brüder Geschwister sind, die mit ihren Eltern den Hang entlangliefen, um vor Bergen zu posieren. Die Personen, über die gesprochen wird, wenn das Wort Flüchtlinge aufkommt, sind keine Flüchtlinge, es sind Geflüchtete, deren Hauptcharakteristikum nicht die Flucht ist. Das Suffix -ling dient dazu, Personen oder Gruppen durch eine bestimmte Eigenschaft zu charakterisieren, hier: die Geschichte eines Weges, die Bewegung eines Körpers über Grenzen hinweg. Doch wer geflüchtet ist, ist nicht Gefäß für den Weg. Es ist nur einmal gewesen, und nur eine Fahrt, sagt meine Mutter: Ah, einmal war das, wo’s halt Bürgerkrieg war.
Ich bin mit Nadelwäldern groß geworden und einem weiten Himmel, dessen Blau immer zu leicht ist. Ich weiß nicht, woher meine Mutter kommt. Früher konnte ich das Land nicht einmal auf einer Karte finden. Ich schäme mich dafür. Mit meinem Opa sehe ich französische Politsendungen. In seinem Zimmer finde ich nach seinem Tod ein kleines Heft, 2 Finger lang. Die wichtigsten Vokabeln hat er sich aufgeschrieben:
Man tut was man kan
Das ist ein Monate her
Wie lange ist das her?
Denken Sie nach
Wir werden die verlorene Zeit gut machen
Ich brauche dich
Ich mache einen Vorschlag
Ich lese es als Überrest der Gespräche, in denen ihm die Worte fehlten, die er aufschrieb. Eine Erinnerungshilfe für deutsche Sprachkultur. In den Satzbruchstücken entdecke ich mögliches Fremdgehen. Auf meinem Tisch stehen Narzissen. Ich brauche ihren Geruch. Gibt es das Eigene oder gibt es nur das, was man sich aneignet? Jeder Versuch des Verstehens, der scheitert, weitet mein Bild von dem, was sein kann.

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