Julienne De Muirier

Nachtfahrt

 

 

Es ist gerade drei, als ich noch wachliege. Denke, ich müsste mir die Nacht zu eigen machen, denke, es sei verschwendete Zeit wachzuliegen. Zu liegen, wenn man nicht schläft. Man sollte tätig bleiben, sonst kommen Gedanken, nehmen einen an die Hand und man muss ihnen nachgehen. Ich sitze auf dem Sofa, das wenn ich zu Besuch bin, zum Bett wird. So wie es damals, als alle Geschwister noch im Viertel wohnten, tagsüber ein Sofa in einem Wohnzimmer war und nachts zum Bett aufgeklappt, das Wohnzimmer zum Schlafzimmer unserer Mutter wurde. Vor ein paar Stunden saß ich mit der jüngsten Schwester und der Mutter auf dem Sofa, mit dem Abendessen auf den Schößen und dem Fernseher auf niedriger Lautstärke, damit wir gut drüberreden konnten. Wir wissen doch, was gesagt wird in diesem Fernseher, und die Handlung kommt niemals überraschend daher. Aber wir diskutieren, ob das realistisch ist, ob es Sinn macht, ob wir uns entschließen, der Handlung zu glauben. Glauben wir das? Das meiste nicht. Damit wir aber unsere Zeit nicht verschwenden, legen wir ein gutes Wort ein. Trotzdem schauen wir der Fläche des Apparats mit Skepsis entgegen. Er sitzt da inmitten des Zimmers wie ein Fremdkörper, an den wir uns gewöhnt haben. 

Noch fremder, seit ich das Viertel verlassen habe. Ach was, ich habe sogar die Stadt verlassen, weil sich das Viertel in jedem Ort der Stadt spiegelt. Ich saß also nicht süß und gekonnt wie die anderen beiden auf dem Sofa, ich musste mich seltsam krümmen beim Essen, mit dem Teller, der sich in den Schoß schmiegte, und die Gabel zu meinem Mund balancieren. Ich hatte Angst, Flecken zu machen. Da, wo ich hingegangen bin, macht man keine Flecken, weil man nicht zu Abend auf dem Sofa isst. Man sitzt am Tisch und auch da – obwohl es die Möglichkeit bietet – gehört es sich nicht, Flecken zu machen.

Ich sitze da kurz in der Stille. Stille heißt, dass ich das Schnarchen meiner Mutter höre und den Fernseher aus dem Zimmer meiner Schwester, während sie dazu döst. Die Geräusche des Fernsehers helfen, sie sedieren. Alle schlafen, außer mir. Ja, wenn wir das Dösen schlafen nennen wollen. Die Stille hält uns nur wach. Und wenn wir wach bleiben, kommen die Gedanken so angekrochen, sagen bitte, bitte, kümmere dich um uns. Fordern das ein. Ich muss mir die Pille holen, ich muss sie heute Nacht noch nehmen, sonst wird was in mir wachsen und mich binden, bettelt schon ein Gedanke. Ich gebe es zu: Es war ein Fehler, ich mach’s nie wieder ohne. Ich werde nie wieder versuchen, diese Nähe zu finden. Diese dünne Haut an dünner Haut. Ich werde nie wieder glauben, diese Grenze durchstoßen zu können. Nie wieder. Jetzt bereue ich es. Aber bitte, jetzt nicht. Fessel mich nicht an dich, Viertel. Lass mich wieder gehen. Ich fasse mir an den Bauch und sage: heute nicht. Heute wird da nichts zu wachsen beginnen und mich wie einen Brief ohne Nachricht beschweren. Gestern wird das letzte Mal gewesen sein. Ich stehe auf, ziehe mir das Tuch vom Kopf, ziehe mir meinen Hoodie über, fahre mir mit der Hand über die Schläfen, wo mir das Haar noch slick vom Tag klebt. Ich weiß, welche Apotheke nachts geöffnet hat.

Ich schiebe das Rad meiner Mutter durch den Innenhof. In der Mitte ein Spielplatz, auf dem heute niemand mehr spielt. Ich ziehe die Kapuze über. Ich lege den Schatten über mein Gesicht, ich platziere die Schlappen auf den Pedalen. Ich fahre hastig los, damit das Viertel mich nicht binden kann. Ich bin ein Nachtfalter und der Hoodie ein Umhang, ein Paar Flügel. Ich trete Kreise, produziere Schwingungen und hebe ab in die Lüfte. Schwebe zwischen Ästen und Blättern. Ein kleiner, flinker Nachtfalter bin ich auf der Suche nach Licht. Ich bin besser an der frischen Luft, bin besser nicht zwischen Wänden. Da werden die Gedanken einen irgendwann einengen, einen an die Decke treiben, bis man in der Lampe verglüht. Ich werde den Gedanken nichts sagen, ich rede generell nicht mit denen. Ich antworte mit der Pille und hoffe, dass sie die Fresse halten werden.

Es ist windstill in der Allee, die aus dem Viertel führt. Das heißt, die Arme des Windes greifen nach keinem Blatt, sie wenden nichts. Das Licht der Laternen ist dimm und gelb, aber es zieht mich nicht an. Heute gibt es ein Ziel. Das sollte ich nutzen. Hier irgendwo auf dieser Straße endet das Viertel. Hier ist keine Linie oder so gezogen. Man weiß, wenn man es weiß. Wenn man einen Ausgang gefunden hat, merkt man sich, wo es rausgeht. Wenn es anders riecht und die Häuser höchstens zwei Klingelschilder haben. Keine Blocks mehr, weniger Menschen auf mehr Raum. Hier an dieser Stelle beginnen die Leute ruhig zu schlafen, sie schalten den Fernseher zu geregelten Zeiten an. Die Familie meiner Mutter hat ihr damals gesagt: Diese Kinder kommen uns nicht ins Haus. Wir oder diese Kinder? Wir oder diese dunklen Kinder? Wir oder dieser Mann? Treib sie ab, alle gemeinsam. Ersticke im Keim, was da zu wachsen vermag. Sie hat gesagt: die Kinder, überschritt die Linie und kehrte nicht mehr zurück.

Und es ist passiert, wie es oft passiert: Dem Mann hat dieses Land den Kopf verdreht, wie es vielen hier den Kopf verdreht. Er konnte sich nicht erholen, lief in tausend Richtungen und verschwand dann spurlos. Mutter hingegen ist immer auffindbar. Die Geburten binden einen, selbst wenn das, was man gebar, um Loslösung bittet. Das Viertel hat fest zugegriffen, hat auch sanft umarmt und du musst für immer deine Dankbarkeit zeigen, indem du bleibst. Das Viertel ist voller Mütter, die blieben. Bleib dem Viertel treu und deine Kinder auch und die Kinder deiner Kinder und so weiter. Das Viertel greift jetzt nicht mehr, denn es ist in die Jahre gekommen. Der Regen hat graue Spuren auf den Hauswänden hinterlassen. Heute ist das Viertel ruhig, mault vor sich hin. Es unterliegt einer brüchigen Physis, es hat keine Kraft, festzuhalten. Es bindet mit Worten.

An der Kreuzung biege ich auf die Venloer Straße ab, von hier an nur noch geradeaus, immer geradeaus bis zur Notapotheke. Irgendwo hier gibt es eine weitere Linie. Die Einfamilienhäuser weichen den Altbauten, weichen Kiosken, Imbissen, Restaurants, Bars. Überall verteilt stehen kleine Ansammlungen von Menschen. Junge, meist blasse Menschen trinken ihr Bier, sie sind vor ein, zwei, drei Jahren hierhergezogen. Sie studieren. Sie lieben es hier. Hier gibt es viel zu entdecken. Alle anderen hier versuchen zu schlafen, auch bei ihnen läuft der Fernseher. Ich rase an den Grüppchen vorbei oder klingele sie aus dem Weg. Ich habe dringend etwas zu verhindern, will ich sagen, und ihr steht hier im Weg rum. Ich passe mein Tempo nicht an, ich weiche nicht aus. Das hier war auch mal eins von den Vierteln. Dieses Viertel war mal mit unserem Viertel verbunden. Aber die Leute, die hier damals wachlagen, liegen jetzt in unserem Viertel wach und wenn die Stadt sich entschließt zu wachsen, werden wir alle von dort weiterziehen. Weiter nach außen, wo Viertel Namen tragen, über die geseufzt wird. 

Da ist eine Baustelle vor der Apotheke, ich muss absteigen und das Fahrrad zwischen den Zäunen schieben. Ein Typ geht neben mir her, holt auf und überholt mich. Ich kette mein Fahrrad an einen der Zäune und gehe zur Tür. Der Typ steht noch da, er findet die Klingel und drückt. Er schaut zu mir mit seinen dunklen Augen, sie funkeln ohne sein Einverständnis. Er sagt mir, dass ich vor ihm dran wäre. Ich sage: Nein, nein, geh bitte vor. Denn er ist ein Bruder. Er nickt und geht hinein, als eine Frau ihm die Tür öffnet, als bitte sie ihn auf einen Tee hinein. Als er rauskommt, gibt er mir die Tür in die Hand und nickt mir zu. Das Nicken ist ein Gute Nacht, ist ein Danke, ist ein Pass auf dich auf. Ich stehe im hell beleuchteten Laden und bin umzingelt von drei unbesetzten Schaltern. Die Frau lächelt und ich sage: Ich bräuchte die Pille danach. Sie stellt mir die Fragen, die gestellt werden müssen. Ich kenne das Prozedere.

Wann hat der Geschlechtsverkehr stattgefunden?

Gestern, ca. 23.00 Uhr.

Verhütung?

Ungeschützt. Es war ein Unfall. Ich bin nur zu Besuch.

Wann war der letzte Tag Ihrer Periode?

Vor zwölf Tagen.

Es ist recht unwahrscheinlich, dass da etwas passiert.

Ich will sagen: Ich kann mir das nicht leisten. Aber ich gucke nur.

Aber nehmen Sie eine zur Sicherheit. Wir haben eine, die den Eisprung um drei Tage verschiebt, und eine, die den Eisprung um fünf Tage verschiebt.

Fünf Tage

Der Preis: 30,82 €

Mir kriecht Scham in den Nacken, als ich meine EC-Karte an das Lesegerät halte.

Ich stelle mich an das Fahrrad, öffne die Packung wie ein Ritual, ich breche die winzige Pille aus der Folie. Sie sitzt allein in der Mitte. Ich halte sie ins Licht, um mich von ihrer Winzigkeit und gleichzeitig ihrer Wirkung zu überzeugen. Ich lege sie mir auf die Zunge und spüle sie mit Speichel runter. Von der Hand in den Mund. Das ist, was es heißt es, im Viertel zu leben. Nicht, dass das Viertel irgendeine Schuld daran trüge, dass man früh Kinder bekommt und dann bleibt. Das Viertel ist bloß die leere Hülle, in deren Mitte keine Pille wartet. Erleichterung macht sich in mir breit, denn für den Moment darf ich gehen. 

Ich steige auf und beginne wieder zu rasen. Ich will diese Leute nicht sehen. Ich will nicht sehen, wie sie in unschuldigen Gruppen stehen und leichtfertig lachen. Ich will keine Entschuldigung hören, wenn sie bemerken, dass sie im Weg stehen. Ich bin kein Nachtfalter mehr, ich bin eine Furie. Ich trage Hass in mir. Mich begleiten Neid und Rachegelüste. Mich plagen Blicke auf der Haut. Mir könnten Flügel aus den Schultern wachsen. Meine Schwingungen sollen sich als Furcht einschleichen in ihr Leben. Ich klettere in niemandes Schlaf, ich flattere denjenigen vor die Augen, die sich weigern zu schlafen. Sie könnten doch schlafen. Ich bin fest überzeugt, sie haben alles, nur nicht diese Gedanken. Die Stadt teilt sich in zwei Hälften, die eine bittet um Ruhe, die andere findet so viel Ruhe, dass sie sie nicht mehr braucht.

Ich bin schweißnass, als ich die Linie überquere. Oft denke ich, ich möchte das hier nie mehr verlassen, ich möchte den Untergang erleben, ich möchte darin sterben und ich möchte einen Balkon, von dem ich aufs Wasser schaue, und ich möchte nichts sehen außer Wasser. Und ich möchte nichts fühlen, keinen Hass, keinen Neid, keine Rachegelüste.

Ich stelle das Rad ab, wo es vorher gestanden hat. Der Spielplatz im Hof bedarf keiner Überprüfung, ich bleibe trotzdem stehen. Er ist leer. Ich weiß: Das Viertel wird verschwinden, wie Inseln im Meer verschwinden. Kaum merklich steigt das Wasser an und irgendwann ist das Viertel von Wasser umgeben. Ja, das Viertel ist eine dieser Inseln im Meer. Aber was macht das schon, die meisten kennen seinen Namen nicht. Der Spielplatz wird leer bleiben, also verlasse ich ihn. Ich öffne die Tür, Fernsehrauschen und das Schnarchen meiner Mutter bitten mich herein. Ich streife alles ab und lege mich auf das Sofa. Ich schließe die Augen und die Sätze gehen weiter.

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