Tamara Lisa Fehleisen

heiter bis gnadenlos

 

Über die fünfzig schwamm sie selten hinaus. Die fünfzig Bojen, die auf dem Leimholzregal zwischen Basilikumblättern und Bananenschalen untereinander lagerten. Die fünfzig Bojen, die unter dem Lattenrost zwischen Strandkleidern und Stauboxen übereinanderlagen. Es waren die fünfzig, die sie abfingen, beim Wandstaubwedeln und Wäscheklammerwühlen, beim Spagatgehen und Spaghettigöffeln. Fünfzig, voller Ketten, unendliche und abgetrennte – pausenlose. Fünfzig Nanosekunden, Mikrosekunden, ein Fünfzigstel des Ganzen, das ins Gerberviertel überschwappte. Die fünfzig Neubaubalkone ohne Zusätze; Blumenkästen an den Baumarktkassen, Lampions in den Lagerhallen. Die fünfzig Treppenstufen ohne Zitronenreiniger; Chemikalien im Chopsuey. Die fünfzig Briefkästen ohne Zugangsschlüssel; Supermarktanzeiger auf den Stufen. Es war irgendein Mittwoch. Und der Thermometer hatte sie geknackt. Die Fünfzig. Sie nahm ihn von der Rohputzwand und schüttelte sein Glasröhrchen; die drei, die sich an die fünf schmiegte, verblieb, im Wohnzimmer, obwohl sie die Vorhänge zugezogen hatte, im Badezimmer, obwohl die Fenster scheibenlos waren. Sie folgte ihr zum Kleiderschrank, zur Schrankkommode, in den Rucksack, in dem sich die Lichtschutzfaktoren stapelten. Zu einem Turm. Er schwankte trotz anhaltender Windstille. Sie nahm ihr Fernglas, schlich zum Fensterrahmen. Von ihr fehlte jede Spur, jede Kontur, die sie nun auf die Rückseite ihres Einkaufszettels kritzelte.       Die weichen Umrisse, ihre Porzellanhaut. Die wolfsgrauen Überröcke, ihre Porenschichten. Wohin war sie gezogen? Über die Plattenbaudächer hinaus? Unter dem Petuel-tunnel hindurch? Sie schaltete das Radio ein, richtete die Frequenz. 53.70, der Sender, ihr Sender, der das Schweigen stürmte. Die Moderatorin flüsterte die Vermisstenanzeige, die sie vorgestern aufgegeben hatte, flüsterte nach den Verkehrsmeldungen. Stau. Abgasversammlungen auf der A5 zwischen Sonnen und Sonnenberg. Abgasversammlungen auf der A3 zwischen Regen und Regensburg. Aufbrüche ohne aufzubrechen. Sie schnappte die Zutaten für den Zucchiniauflauf. Die Tür schnappte ins Schloss. Der Regenschirm hakte, selbst als sie ihn wie einen Baseballschläger gegen den Laternenmast schlug, gegen die offenen Liquidationen. Der Sticker, der eine CO2-Steuer auf jegliche Treibhausgasemission forderte, war verblasst. Der Sticker, der den Kohleausstieg forderte, vergilbt. Weshalb sie auf    Regeneration verzichtet habe. Das Kind im knöchellangen Sonnencape schielte in Richtung ihres Regenschirms. Es war gepunktet. Der Dackel, dessen Zunge den Asphalt berührte, musterte sie. Er war gefleckt. Schirme seien ausverkauft. Jeglicher Art. Diejenigen, die in Handtaschen verschwinden, verspätet auftauchen. Diejenigen, die auf Terrassen verdrecken, verspätet absaufen. Ob sie sie gesehen habe. Ob es sie gesehen habe. Ob es wisse, wohin sie gezogen sei. Das Kind zuckte seine Achseln. Es habe aufgegeben, Ausschau zu halten, schaue die Zeichnungen aus dem Kunstunterricht an, um sein Gedächtnis aufzufrischen. Niemand habe sie gesehen, obwohl die Mutter pausenlos auf dem Balkon mit Kühlpads hänge, die Großmutter ununterbrochen ohne Unterkühlung die Lautstärke regle. Sie hätten Vermisstenanzeigen aufgegeben, doch die Moderatorin verschlucke sich an ihrem Flüstern, selbst an seinem elften Geburtstag, an dem es gehofft habe, dass sie sich blicken lasse, am Morgen nach dem Marmeladengebäck, am Abend nach dem Avocadobrot. Ob es wenigstens ihre Schwestern gesehen habe. Das Kind zuckte seine Augengrenzen. Die jüngere habe ihren Schleier verloren und sei seitdem verschollen. Die ältere habe ihre Schafherde verloren und sei seitdem verschollen. Das behaupte die Betreuerin seiner Cousine, die gekündigt habe, um sie aufzusuchen. Im angrenzenden Naturpark. Im entfernten Naturhafen. Das Kind exte eine Wasserflasche, bevor es die Leine anzog. Der Dackel tropfte auf seine Turnschuhe. Er jaulte zum Abschied. Die Ventilatoren überratterten den Drucker, der ein Faltblatt nach dem anderen ausspuckte, den Copyshop-Mitarbeiter, der einen Fächer nach dem anderen auspackte. Er stand vor den Schreibutensilien, hinter dem Schreibtisch. Ob sie einen benötige, mehrere benötige, um die Umgebung zu versorgen. Diejenigen, die Hitzewallungen erleiden. In ihren Dachgeschosswohnungen, in denen das Kugellager einroste. Diejenigen, die Hitzeschlägen erliegen. In dem Krankenhaus, in dem die Klimaanlage ununterbrochen ausfalle. Das im Kern, das Kassenpatient:innen auf den Korridoren übernachten lasse. Die Monitore flackerten auf. Eine Fehlermeldung erschien, verdoppelte, verdreifachte sich vor der Excel-Tabelle. Sie habe bereits eine Funktion, sei auf der Fahndung, müsse dem Stillstand entgegentreten. Die Sehnsucht ihr Antrieb. Ein Windrad, das vom Wüstensand verschleiert werde. Der Copyshop-Mitarbeiter nahm ihren Einkaufszettel kommentarlos vom Tresen. Er hielt die Skizze gegen den Sichtschutz wie einen Papyrusfetzen auf dem die Hieroglyphen bereits erbleicht waren. Die ausgesperrten Sonnenstrahlen trafen seinen Scheitel. Er war gezackt. Sie könne sich fallenlassen, sie sei die vierte, die vierhundert Kopien von der Flugblattvorlage verlange. Die Bäckerin habe die Brötchen vor der Frühschicht aufgegeben. Die Buchhändlerin habe die Bildungsromane nach der Mittagspause beiseitegelegt. Die Bänkerin habe die Blüten zum Feierabend ausgesetzt. Sie seien allesamt zum Marktplatz aufgebrochen. Die Laternenmaste längst aufgehübscht. Ein Farbfest an Grautönen; rauchgrau, aschgrau, asphaltgrau. Die Darstellung der Brauerin, die ihn bereits gestern aufgesucht habe, sei eine Innovation. Sie habe sich nicht den gängigen Schreibgeräten bedient, habe auf Naturalien zurückgegriffen. Die Porzellanhaut aus den Samenständen des Sonnenwirbels. Die Töne des Überrocks aus den Federkleidern der Ringeltauben. Er wollte ihr den Einkaufszettel zurückreichen, doch sie schüttelte ihre Schweißperlen ab. Jede Stimme sei kostbar. Stimmen seien weder austauschbar noch ersetzbar. Das Kollektiv sterbe aus, sobald die einzelne Stimme als entbehrlich angesehen werde. Der Copyshop-Mitarbeiter schnaufte, bevor er die Druckerklappe öffnete. Weshalb sie mit ihrem Erscheinen gezögert habe. Der Toner surrte. Der Abzug sei absehbar gewesen. Die Papiereinzugswalze stuckerte. Weshalb sie sich auf Sabotage stütze anstatt auf Prävention. Der Laserstrahl summte. Der Copyshop-Mitarbeiter summte. Ein Lied, das sie immerzu stummdrehte, sobald die 53.70 es ihr nach den Vermisstenanzeigen aufzwang. Where Do You Go von No Mercy zischte durch die Lippen des Copyshop-Mitarbeiters. Die Hymne, die beschlossen wurde ohne zu beschließen. Welche Präventivmaßnahmen er ergriffen habe. Der Copyshop-Mitarbeiter klatschte den Flugblattstapel auf den Tresen.       Die staatliche Struktur sei immer noch repräsentativ. Er habe jeden betreffenden September in der Sekundarschule gekreuzt. Sie habe die Versprechen gekreuzigt.  Er verlangte einen Aufpreis, den sie mit einem frischgedruckten Hunderter bezahlte. Der Marktplatz war überfüllt. Sie ging in Richtung des Fahnenmastes, unter dem ein Klebebandhaufen lag. Shorts bückten sich nach den Kringeln. Shift-Kleider streckten sich nach den Klingen. Die Klebestreifen wurden von Scheren im Takt des Tracks gerissen, der durch die Lautsprecher des Ghettoblasters drang. Die Teenagerin pausierte Where Do You Go von No Mercy, als die Stufenröcke die Flugblätter restlos angebracht hatten. An den Baumstämmen und Litfaßsäulen. An den Bänken und  Laternenmasten. Sie drehte sich um ihre Achse, drängelte durch den Marktaufmarsch, das Marktatelier. Die Linien der Bäckerin verliefen diagonal, durchkreuzten sich am Rand. Die Linien der Bänkerin verliefen parallel, berührten sich im Zentrum. Die Linien der Buchhändlerin verliefen im Sand. Sie konnte die Ähnlichkeiten der Vermisstenanzeigen nur erahnen, erkannte sie in den Abbildungen Durchwachsenes. Ein Zitronenfalter, der auf einer Festplatte landete. Eine Fratze, die gegen eine Mülltonne lächelte. Ein Mikrofon, das auf einem Bügelbrett lag. Sie hielt ihre Zeichnung neben die Naturalien der Brauerin und sah in der Anordnung des Federkleids der Ringeltaube ihre Bögen, die sich befremdlich anfühlten. Sie ließ ihre Flugblätter fallen. Und alles, das sie hörte, war ihr Herzschlag. Der Schweiß, der sich zwischen ihren Fingern ansammelte, brannte. Die Bäuerin eilte mit einem Eimer im Schlepptau zu ihrem Schatten. Er war gekrümmt. Sie kippte das Brunnenwasser über ihren     Zehenspitzen. Es war lauheiß. Ob sie nichts getrunken habe. Ob sie ihren Haushalt vergessen habe. Sie nickte in dem Augenblick, in dem die Jugendliche den Ghettoblaster bis zum Anschlag aufdrehte. Ob die Bäuerin Neuigkeiten habe. Ob sie die  Erlösung kenne, von den Schirmen, der Schnappatmung. Die Bäuerin führte sie zu dem Brunnen, in dem die Münzen längst an Glanz verloren hatten. Sie faltete ihre Hände ineinander. Sie sei gesichtet worden. Mit ihren Schwestern im Schlepptau habe sie den Überrock abgelegt. Der Ort ein unbekannter, der ohne Lupe unerkennbar sei. Putan oder Bhutan. Ob sie gefangen seien. Die Bäuerin strich sich eine Strähne von der Stirn. Sie seien losgelöst. Wir hätten sie vertrieben. Mit unserer Kurzsichtigkeit, die immer noch in unseren Köpfen hänge, vor allem im Kopf des  Bürgermeisters, Bäckers, Buchhändlers und Bänkers. Ob sie vorhaben zurückzukommen. Wann sie zurückkommen. Die Bäuerin löste sich aus ihrem Griff, ließ sich auf dem Brunnenrand nieder. Ob sie die Tagesschau verpasst habe. Der Vormarsch sei von den Meteorolog:innen wiederholt prophezeit worden. Es werde knallen.      Die Dachziegel klimpern, die Fensterläden klappern. Die Fahrzeuge kentern, die Aufzüge kollabieren. Das Grau werde zu schwarz. Sie stopfte die Flugblätter in den überfüllten Mülleimer. Eine Wespe stach sie.

 

 

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