Jess

Sohle

 

Dachten anfangs noch alle, man würde es nicht bemerken, klaffte der Riss im Erdboden allmählich immer weiter auf. Schon von der Einfahrt aus war er zu sehen. Als haarfeiner, sich bald in vielen Verästelungen über die Klinkersteinfläche ausbreitender Spalt zog er an der Marmortreppe vorbei, bog an der Längsachse des Hauses ab und stürzte sich als fette Narbengarbe über den englischen Rasen. Als Hitschke am frühen Vormittag den Werkzeugkoffer abstellte und sich auf alle Viere begab, konnte man bereits eine ganze Faust im Erdreich versenken. Das Gras an der Abbruchstelle erinnerte an einsam stehende Haarbüschel bald glatzköpfiger Männer. Hitschke drehte das Handgelenk ein, fühlte die Innenwand mit der Fingerspitze nach und drang vorsichtig tiefer ein. Es roch nach Humus. Aber nicht aus der Spalte. Der aufgeschlitzte Baumarktsack lag an der Rasenkante und schwitzte artig vor sich hin. Das Kilo kostete mittlerweile ein kleines Vermögen und war sein Geld trotzdem nicht wert.

Hitschke ertastete den Übergang der Bodenhorizonte. Herausfordernd. Keine Nässe. An den Fingerspitzen, wenn sie kurz unter der Nase kreisten, war kein Fermentationsgeruch mehr festzustellen.

Mit etwas Glück, so Hitschke zu sich selbst, mit etwas Glück fände sich noch Getier. Hitschke robbte nach vorn. Die Wange flach an die Abbruchstelle, die Schulter gefährlich über die Kante des großen kleinen Universums geschoben. Zwei Dinge waren nun besonders wichtig:

Nager.

Würmer.

Erstere waren vorwiegend in Australien zu sehen. Also in den Nachrichten aus Aus-tralien; wie sie zu Tausenden durch die Felder stoben, in Scheunen ganze Futterbestände restlos vernichteten und die einsamsten Landstraßen legionenweise mit Kot zukleisterten. Man sprach von Ungeziefer. Schädlingen. Oder Hitschkes Lieblingswort: Geschmeiß.

Frauen machten ihh und ahh. Männer verbargen ihre Gänsehaut. Manchmal umgekehrt – jedenfalls wollte man sie tot sehen. Wenn jemand Hitschke dazu befragen würde, dann müsste Hitschke sagen, dass diese Nager besonders hier im Heimischen fehlten. Dass sie, zweitens, gar nie den schlechten Ruf verdient hätten, den man ihnen allerorten anzudichten versuchte und, drittens, dass man sich bald darauf einstellen müsse, Feldmäuse und artverwandte Nager zuhauf in Brutfarmen zu züchten und im ganzen Land auszusetzen, wollte man noch verhindern, was gerade in unseren Böden vor sich ging. Was im Boden vor sich ging, war nämlich gähnende Leere.

Hitschkes Finger tasteten sich unter die Einwaschstoffe des mineralischen Unterbodens, fühlten dabei den Ton, der im Erdreich steckte, und hielten erst inne, als der Übergang zum C-Horizont ausgemacht war. Hier nun die Probe aufs Exempel.

Zu beiden Seiten blieben Hitschke ungefähr dreißig Zentimeter. Hitschkes Großvater hatte hier einst, bevor die Grundstücke konsolidiert und die Immobilienpreise in die Höhe getrieben, Neubausiedlungen errichtet und mit penibel gepflegten Gärten ausgestattet worden waren, ein Stück Acker besessen. Jedes Mal, wenn sie im Frühjahr den Wirtschaftsplan erstellt und das Land besichtigt hatten, war Hitschke auf Suche nach den Tunneln gegangen. Von Großvater wusste Hitschke, dass sich Mäuse die Tunnelsysteme mit Maulwürfen teilten. Oder besser, dass sie die Tunnelsysteme übernahmen. Sich in Seitengänge hineingruben, in grundwasserhohen Zeiten die Fluttunnel nutzten oder ihre Baueingänge in strategischer Lage zu den Maulwurfshügeln platzierten.

Hitschke begab sich also nun auf die Suche nach Anzeichen ihrer Existenz.

Fallröhren. Gänge. Kotplätze. Mit allem könnte man sich zufriedengeben. Rechts ließ sich nichts finden. Hitschke drehte die Schulter ein, stieß ob der Anstrengung den Atem ruckweise aus und schaffte es sämtliche Finger der linken Hand in die entgegensetzte Richtung wandern zu lassen. Wurzelspitzen. Bröckelig das Sediment.

Der Spalt wurde immer tiefer. Hitschke konnte fühlen, wie sich der Tunnel zu Hohlräumen ausbreitete, die viel zu ausladend waren, um von Tieren gegraben worden zu sein. Ein Blitzeinschlag musste sich so anfühlen. An Bäumen konnte man es zuweilen beobachten. Das elektrische Atmen des Gehölzes. Verzweigt. Hier im Boden atmete der Untergrund auch. Ein stetes, langsames Tuckern, mit dem sich eine feuchte Wärme aus dem Untergrund schraubte. Hitschke fühlte diesem Atem nach, aber konnte das Ende des Tunnels nicht ertasten. Jesses.

Alle Befürchtungen längst übertroffen.

Während die Finger versuchten, aus den einzelnen Horizonten kleine Erdklumpen zu klauben, vibrierte Hitschkes Telefon auf der Plastikbeschalung des Werkzeugkoffers. Es klang wie eine Bohrung im texanischen Hinterland oder eher der Lausitz.

Hitschke wischte über das Display und stellte auf Lautsprecher. Die ersten Wortfetzen waren bereits untergegangen, ehe das Gerät den Lautstärkepegel anpassen konnte.

– sitzt mir im Nacken. Kann man da noch was machen oder nicht?     

Hitschke wartete ab. Hinter der sorgsam angelegten mehrstufigen Terrasse war ein Pool aufgebaut. Der Wasserpegel musste in den letzten Tagen erheblich abgenommen haben, aber Hitschke vermutete, dass sich immer noch einer dieser aufblasbaren Schwimmbälle auf der Wasseroberfläche befand. Runzelig. Mit zu wenig Luft. Trotzdem. Das Sonnenlicht spielte darauf und warf Lichtkegel auf den Beckenrand und das welke Pampasgras. Dörre.

- Ich sage nicht, dass man die Messwerte beschönigen braucht. Mitteln. Darum gehts. Ein realistisches Gesamtbild abgeben.

Hitschke legte das Telefon auf den Boden; sorgsam darauf bedacht, der Abbruchstelle nicht zu nahe zu kommen. In den Fingergliedfalten der linken Hand befanden sich immer noch Erdklumpen aus den obersten beiden Horizonten. Hitschke nahm eine Tube aus dem Koffer, biss den Stöpsel mit dem Eckzahn ab und ließ die Probe in den Plastikzylinder rieseln. Hitschke wusste bereits, dass man hier keine Messungen mehr würde durchführen müssen. Für die Statistik ergab sich kein Schönwert mehr, man würde nur weiter den desaströsen Zustand der Region zu Tage fördern.

- Wie schnell, glaubst du, haben wir ein Ergebnis?

Hitschke murmelte. Für die Hygrometermessung und das Bestimmen der pH-Werte bräuchte man ein paar Minuten. Kalibrieren und justieren konnte Hitschke im Schlaf. Früher hätte man bei Aufträgen wie diesen zur thermischen Bestimmung einen hygroskopischen Körper im Boden platziert und durch Erhitzung den Bodenwassergehalt bestimmt. Mittlerweile war dieses Verfahren viel zu ungenau. Bei der anhaltenden Trockenheit konnte man so unmöglich noch mit einem präzisen Ergebnis rechnen.

Hitschke beantwortete ein paar Fragen, erläuterte dann das weitere Vorgehen und beendete den Anruf.

Für die Nachbearbeitung im Labor suchte sich Hitschke fünf Probenpunkte, die gleichmäßig über das Grundstück verteilt lagen, entnahm Ober- und Unterbodensätze und verpackte sie in beschriftete Plastikbehälter. Erst letztes Jahr hatten sie versucht, auf recyclebare Probenbehälter umzusteigen, aber ihre Zuliefererverträge würden erst im nächsten Jahrzehnt auslaufen; umweltfreundlichere Alternativen immer noch zu kostspielig sein.

Routiniert führte Hitschke alle weiteren Messungen durch, verstaute die Proben, notierte Daten und verpackte alles akkurat im Werkzeugkoffer.

Zweitens: 

Würmer.

Jeder hatte sie als Kind in den Händen gehalten. Ganze Klumpen sich windender Körper im dunkelschweren Matsch der Spielplätze. Mit der Schere durchgeschnitten, potenziert. Hitschke hatte in den letzten Jahren gelernt, dass man sich auf die Messergebnisse nur bedingt verlassen konnte. Viel aussagekräftiger war, was die Natur selbst über sich sagte, ob sie sich weiter belebte oder längst jeden Populationsversuch aufgegeben hatte. Für Hitschkes abschließende Meinung zählten also weniger die Messwerte, sondern die Begegnungen mit den Würmern. Das, was man in Händen halten konnte.

Zuerst konzentrierte sich Hitschke auf den Abschuss nahe der Rasenkante. Lichte Stellen. Man brauchte die Kelle nur anzusetzen und vorsichtig Druck auszuüben. Hitschke hob ein kleines Loch aus. Mit der Hand hinein. Die Erde leistete keinen Widerstand mehr und rann Hitschke nur so durch die Finger. Nichts. Ein paar Meter weiter dasselbe.

Beim dritten Versuch genauso. Null.

Hitschke, die Kelle nun am Gürtel eingehakt, sprang über den Spalt und marschierte auf den Pool zu. Mit der bloßen Hand grub es sich leichter. Es ging tiefer. Wurde sogar leicht feucht. Hitschke bohrte sich bis zum Ellenbogen in das Erdreich, staubte bei all der Bewegung das Pampasgras zu Wolken.

Trotzdem nichts.

Die einzigen Würmer, die Hitschke heute noch regelmäßig begegneten, krochen aus den Ärschen der Enkel und waren, von den teuren Wurmkuren nur ausgesetzt oder zu kleinen Ammoniten in den Windeln und Unterhosen verschrumpelt, kaum noch von ihren Gedärmen wegzudenken.

Zuerst sonderbar. Aber nebst Stechmücken, überdimensionalen Zecken und chinesischen Krabben gehörte das mittlerweile dazu. Tiere, so meinte Hitschke, verbissen sich manchmal lieber in die menschlichen Körper. Dem wahren Parasiten einen Happen abgewinnen. Sozusagen. Man müsste fast darüber lachen.

Hitschke sah noch einmal zu Boden, vergewisserte sich, alle relevanten Stellen gründlich abgesucht und ihrer etwaigen Bewohner vorstellig geworden zu sein, zog dann Schuhe und Socken aus und ging gemächlich zum Werkzeugkoffer zurück. 

Es war ein seltsames Gefühl. Barfüßig.

Hitschke kannte Leute, die sich vor Schiffsreisen fürchteten. Davor, dass unter ihnen Meeresungetüme durch die Wassermassen pflügten und darunter kilometerlang Nichts. Das feuchte Grab. Hitschke fand diese Vorstellung erheiternd. Das wirkliche Grab befand sich längst unter ihren Füßen. Unter Einfamilienhäusern und Äckern. Jenseits der Landstraßen. Den Wäldern. An Flussbetten. Hinter Industriegebieten. An den Säumen ihrer Städte.

Der Planet war ein Beutetier kurz vor dem Erlegt werden Jeder musste es spüren. Trotzdem hieß es: Davon haben wir nichts gewusst.

Teilnahmslose Schuld allerorten.

Auch für Hitschke gab es hier nichts mehr zu tun.

 

 

 

 

Quellen:

www.google.de/amp/s/amp.welt.de/wissenschaft/article168699705/Der-Regenwurm-stirbt-aus.html

https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0203909

https://agupubs.onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1029/2021GL093047

www.ndr.de/ratgeber/klimawandel/Klimawandel-Beste-Bedingungen-fuer-Muecken-und-Zecken,invasivearten100.html

https://www.deutschewildtierstiftung.de/wildtiere/feldmaus

www.deutschewildtierstiftung.de/wildtiere/maulwurf

https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2021-05/deutschland-2050-klimawandel-veraenderung-nick-reimer-toralf-staud

http://www.kslmining.com/en/investor-relations/presse/erste-ksl-bohrung/

https://www.planet-wissen.de/natur/klima/phaenologie/pwiefremdeartendurchklimawandel100.html

Meylan, A. (1995): Microtus arvalis (Pallas, 1778). In: Die Säugetiere der Schweiz: Verbreitung, Biologie und Ökologie (Hrsg.: J. Hausser). Band 103, 328-333. Birkäuser Verlag, Basel.

Kraft, R. (2008): Mäuse und Spitzmäuse in Bayern: Verbreitung, Lebensraum, Bestandssituation. Ulmer Verlag, Stuttgart.

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