Iven Yorick Fenker

DORNEN DONNER STOSSGEBET

 

Eine Kindheit lang in den ausgetrockneten Ackerfurchen ohne Furcht. Die Tritte in den Boden, der aufgewirbelte Staub, der sich zum Abend hin legt und uns in Schweigen hüllt. Der Fernseher läuft. Der Ton ist aus. Der Atem geht schwer.

 

Auf dem Bolzplatz wächst kein Rasen mehr. Es ist zu oft Schützenfest. Das Desinfektionsmittel spült den Schotter aus den aufgeschlagenen Knien. Der Fanfarenzug marschiert durchs Oberdorf. Vom Hang herunter hallt der Tumult. Schüsse durchdringen die Nacht. Es wird nicht dunkel, bevor es Morgen wird.

Mein Fußballtrainer brüllt immer noch Dschin Dschin Dschinghis Khan und haut die Dinger ins Gestrüpp, wo die Dornen die Bälle platzen lassen. Er sagt, wir sollen den Kugeln hinterherjagen. Er sagt auch: Nehmt die Bügeleisen aus den Schuhen – der Kunstrasen schmilzt.

 

Das Geräusch ist einschneidend, wenn das von der Sonne strapazierte Leder auf die spitzen Dornen trifft.

 

Auf dem Rückweg vom Training wirft er die Big-Mac-Schachtel aus dem heruntergekurbelten Fenster. Aber sag das nicht deinem Vater, sagt er.

Mein Vater ist bei den Grünen oder wie er sagt: Dann müsst ihr halt zu Fuß laufen.

 

Der Donner kündigt den Regen an. Dann schlagen die Tropfen auf das Wellblechdach der Bushaltestelle. Das mit Brennflüssigkeit getränkte Papier, das über den Kohlestücken des Einweggrills liegt, verbrennt in Sekunden. Die Flamme ist blau und weht in Fetzen davon. Die Blitze sind weiß und erhellen die Situation. Ich fächele der Glut Luft zu und hoffe, nicht zu viel Asche aufzuwirbeln. Die ungeduldigen Lungen der umherstehenden Jungs saugen begierig ein, was sie kriegen können: die Bekenntnisse der spröden Lippen, den Rauch der Zigaretten, die Luft des Landes; das ist die Gülle, die den Boden der Felder überdüngt, das ist der aufsteigende Geruch der dreckigen Gischt, in der sich das abgeriebene Plastik der abgenutzten Autoreifen mit den Ablagerungen der Abgase und den Rückständen der fossilen Öle mischt und dann tosend in den Gulli zischt;

das sind letztlich die Ausdünstungen des verbrennenden Paraffins, aus dem der Brandbeschleuniger ist und das die Stichflammen macht, wenn es aus der kleinen Öffnung der PET-Flasche ins Feuer gespritzt wird. Für die Männer des Dorfes ist das identitätsstiftend. Einige benutzen dafür noch Petroleum. Das ist eine Frage der Generation. Einer benutzt dafür Kerosin. Der ist gefährlich.

 

Mit verschlossenen Augen und betrunkenem Herzen, mit geschwollener Brust Schneisen in die Maisfelder zu laufen, das ist Freiheit. Wieder daheim wasche ich mir die Rückstände der Pestizide von meinem Körper. Die Haut ist gerötet.         Die Lungen sind gereizt. Der Schmerz ist stechend.

Die Wörter gingen unter in der Sturzflut dieser Nacht. Der Müll blieb dort.

 

Ein Jahr später übertritt die Wedde die Uferschwellen, die den Ort teilen. Der Bach tritt aus seinen Betten und überschwemmt das Unterdorf. Unser Haus steht am Hainberg.

Hier läuft das schlammige Wasser ab, das stinkend aus den Gullideckeln dringt, hinunter in das Muldental, in dem Immenrode liegt, diese Absenkung im nördlichen Harzvorland, die in der Urzeit das Meer sich zu ihrem Becken geformt hat, um sich dort hineinzulegen, in dem sich der Kalk abgesetzt hat und wo heute das weiße Sedimentgestein aus dem fruchtbaren Lössboden quillt.

In den Ackerfurchen dieser welligen Felder sammelte ich oft die Abdrücke der Ammoniten in den brüchigen Steinen, die der Boden mir preisgab. Auf der Suche nach den Relikten der tapferen Kopffüßer, die das größte Massensterben der Erdgeschichte im Übergang vom Erdaltertum zum Erdmittelalter überlebten, zerbrach ich die Steine, indem ich sie auf den Boden warf, so lange, bis ich in ihrem Innersten sehen konnte, was sich dort verschlossen fand. Mir stockte die Lunge vor Staub, der mir entgegenstieg. Meine Kindheit fiel in eine Dürreperiode. Der Boden nahm das Wasser nicht mehr auf. Das Wasser schoss auf ihm dahin. Es bildeten sich Risse im Boden, die größer wurden mit der Zeit.

 

Mit jedem Tag, der in Deutschland verstreicht, wird dort Boden in den Ausmaßen von über hundert Fußballfeldern endgültig versiegelt. Die Hälfte aller Ackerflächen der deutschen Nutzlandschaft ist der Erosion ausgesetzt. Jedes Jahr wird zumindest ein Millimeter der Ackerböden abgetragen. Seit ich geboren bin, ist der Boden, von dem ich erzähle, 2,7 Zentimeter in den Abgrund gesunken. Seit ich lebe, wurden in der Landschaft, von der ich sage, dass ich aus ihr komme, sieben Supermärkte und sieben Supermarktparkplätze erbaut. Je länger ich erzähle,  desto mehr Boden geht verloren.

Die Lössbedeckung dieser Landschaft des Lockergesteins ist der ausgezeichnete Boden des Jahres 2021. Löss, das sind die Ablagerungen des kalkhaltigen Lehmstaubs, den die Eiszeitwinde verwehten. Dieser Lössboden wird hier Ackererde genannt. Dieser lockere Boden wird nicht bleiben, wo er war. Dieser lockere Boden rinnt mir unter den Füßen davon.

 

Ein weiteres Jahr vergeht, bis auch unser Keller vollläuft. Die Sturzfluten des Sommers, die nun auch Autos mitreißen, werden zum stetigen Meer, das sein Beckengebiet in seinen Bann zieht.

Die Goslarer Altstadt am äußersten Harzrand steht unter Wasser, das in das mittelalterliche Holz der Balken dringt, auf denen die Fachwerkhäuser aufbauen und deren Standfestigkeit nun in Frage gestellt wird. Die Marktkirche ist in Gefahr, weil das Wasser zu viel ist, als dass es über die Abzucht abziehen kann. Die freiwillige Feuerwehr baut Barrikaden aus Sand, um das Fundament zu schützen. Der Oberbürgermeister (CDU) postet auf Instagram ein Video der Flutwellen, die vom Herzberger Teich durch die Kanalanlagen des stillgelegten Rammelsberger Bergwerkes herunter auf die Stadt zudonnern. Er schreibt darunter, dass die Lage um die Mittagszeit kritisch gewesen sei, sich nun aber entspannt habe.

 

Meine Mutter sagt: Wir sind der einzige Garten, in dem die Vögel gerne leben. In den Gärten, die uns umgeben, gibt es ja nichts. Der Garten meiner Kindheit ist verwachsen. Ich hole die Sense und schlage zu. Es riecht nach Brennnesseln und Minze, meine Hände sind gereizt, die Handschuhe haben Löcher. Ich schlage Schneisen in die ausufernden Hecken und versuche, die Sauerkirschbäume freizukämpfen. Die Motorsäge ist zu laut für Sonntag. Hinter dem Dickicht, das zu den Nachbarn hin wächst, weht eine Deutschlandfahne. Unter dem abgeholzten Buschwerk finde ich eine Pausenbrotdose aus verblichenem rotem Plastik. Auf der Terrasse liegt eine Vogelleiche. Mit der Mistgabel räume ich Schnittwerk, Laub und Unkraut auf den Carport. Aus den dickeren Ästen säge ich Brennholz. In diesem Haufen liegt ein Nest.

 

Meine Eltern haben in diesem Garten zur Hochzeit einen Baum gepflanzt. Als wir aus Italien wiederkommen, finden wir ihn abgesägt bis auf den Stumpf. Unsere Nachbarn haben vier unserer Bäume gefällt und eine drei Meter breite Schneise in unser Heckendickicht geschlagen. Sie haben alle Sträucher unseres Gartens, die entlang ihres Zauns wuchsen, ausgegraben. Einen der Bäume haben sie bei sich drüben wieder eingegraben. Der Garten ist seltsam licht und gespenstig still.

Meine Eltern hatten die Nachbarn gebeten, auf den Garten aufzupassen, während wir weg sind. Seitdem sprechen sie nicht mehr mit ihnen und die Hecke wuchert jedes Jahr aufs Neue über ihren Zaun. Der Baum ist wiedergekommen, aber er trägt nur wenige Blätter. Bald wird er sterben.

 

Während der Einhegungen der Allmende wurden in Deutschland nach Englischen Vorbild Hecken gepflanzt, um ehemals gemeines Gut in privatisierte Parzellen umzuwandeln. Verwendet wurde dafür vor allem Weißdorn, dessen tiefgründige Wurzeln, dessen harter verholzter Stamm, dessen dichte Verzweigung nicht dem hoffnungslosen Ziehen der Enteigneten nachgaben, die im Schutz der Nacht und im Furor der Verzweiflung versuchten, diese Wallhecken aus ihrem Boden zu reißen. Das dicke Dornengebilde widersetzte sich den Widerständigen und riss Wunden in das bäuerliche Fleisch.

Für das Partikularinteresse der Kapitalakkumulation wurde die kommunale Struktur des mittelalterlichen Europas in bürokratischem Eifer unter die Kontrolle der herrschenden Klasse gebracht. Zur Knechtschaft des Kapitals haben die Heckenrosen ihren Teil beigetragen. Letztlich hat der Verrat eben dieser Hecken den Weg hin zur bäuerlichen Ertragssteigerung, zur Ausbeutung von Boden, Vieh und Proletariat und zur Profitmaximierung der Kapitalmächtigen geebnet, diese Maximierung, die sich schließlich in der industriellen Revolution fortsetzte und die im aktuellen Agrobusiness der Maximalverwertungsketten endet.

 

Mittwoch nachmittags ist Fußballtraining und Probealarm der freiwilligen Feuerwehr. Die Sirenen heulen laut, während ich den Hagebuttenweg hinaufgehe und das Juckpulver aus den Früchten drücke, die ich von den Heckenrosen gepflückt habe, die den Weg hinauf zum Fußballplatz säumen. Der Platz auf dem Hügel, von dem aus der Blick sich bietet, der die untergehende Kulturlandschaft des späten Kapitalismus in den Anfängen des Anthropozäns offenbart, bevor das granitene Brockenmassiv sich in der Ferne erhebt, auf dem die Wetterstation zu sehen ist.

 

Es steht 0:3 und bald ist Abpfiff. Mein Trainer sagt: Kopf hoch, Jungs. Jetzt gilt es, Boden wieder gutzumachen.

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