Florian Kurz

40°

 

Als das Waschbecken halb gefüllt ist, dreht Micha den Hahn zu. Er nimmt das Handtuch vom Haken und taucht es unter, bis die Bläschen weniger werden. Dann greift er es mit beiden Händen, als würde er einen Batzen Schlamm heben, in dem er Goldnuggets vermutet, und wringt es aus. Wasser plätschert ins Becken zurück. Es klingt nach Wellen, nach Meer. Das wär’s jetzt: am Strand liegen. Sonnenbrille auf der Nase, Strohhut auf dem Kopf, einen Eimer Sangria neben sich, mit langem Strohhalm, der auch dann noch zum Mund reicht, wenn man sich zurücklehnt.

Micha wickelt sich das Tuch um den Kopf, Tropfen landen auf den Schultern. Hätte ihn gar nicht gewundert, wenn es dampft und zischt. Eine Weile genießt er die Abkühlung, aber dann wird es Zeit. Nicht, dass die anderen denken, er drückt sich vor der Plackerei. Wenn selbst der Chef vor der Hitze einknickt, wäre keiner mehr motiviert. Kurz überlegt er, ob er seinen Kälteturban nicht anbehalten soll – nee, kann er nicht bringen.

Seufzend hängt er das Handtuch zurück. Morgen nimmt er einfach eins von zu Hause mit, heute hält er es noch ein letztes Mal so aus. Ist ja auch schon Nachmittag. Nicht mehr lang, dann ist der Tag überstanden. Micha setzt seine Kappe auf und geht hinaus.

Selbst in der dunklen Lagerhalle ist es stickig, trotz der hohen Decke, bis zu der sich leere Regale türmen. Micha duckt sich unter dem halb geöffneten Rolltor hindurch, richtet sich auf und knallt mit dem Kopf gegen ein unsichtbares Brett aus Hitze.

Draußen flimmert die Luft. Die Kollegen arbeiten sich kniend oder hockend vor, von Stein zu Stein, von Reihe zu Reihe. Seit einer Woche sind sie schon hier, haben aber erst ein Drittel geschafft. Mittags ist an Arbeit nicht zu denken, und selbst, wenn sie um fünf Uhr früh anfangen, ist es drei Stunden später schon so heiß, dass die Hände müde werden und die Köpfe schwer. Ein Kollege ist gestern beim Einschneiden an die Schleifscheibe geraten. Zwar nur ganz kurz, aber trotzdem. Hätte er einen Handschuh getragen, wie es manche Idioten trotz Michas Warnungen tun, hätte die kurze Berührung gereicht, damit die Hand in die Maschine gerät. Mit viel Glück bricht man sich dabei nur alle Finger. Aber so ist das bei dieser Hitze. Schwer, sich zu konzentrieren.

Micha balanciert über die Planken, links und rechts erstreckt sich grauer Splitt wie ein steinernes Meer. Wenn der Hof erst einmal fertig gepflastert ist, werden hier Transporter parken, tonnenweise Pakete hin und her geschleppt. Ein neues Logistikzentrum, damit die Leute das Zeug bekommen, das sie im Internet bestellen: Tops, Fliegenklatschen, Planschbecken.

Micha hat hier eine gute Baustelle aufgetrieben. Nur dass Ende Juli ist, macht seine Freude darüber kaputt. Die Hitze steht überall, auch die Felder ringsum flirren in der Sonne. Gartenbau wäre jetzt was Schönes. Bäumchen, Natursteinmauern, ein kleiner Teich. Auf einem Tisch steht Eistee für die Arbeiter. GaLa hätte er lernen sollen, so im Nachhinein. Aber im Straßenbau hat man mehr verdient. War ja damals auch ein Spaß, mit den großen Geräten durch die Gegend zu fahren. Da war Micha jünger gewesen. Jetzt wird es anstrengender mit jedem Jahr. Und das liegt nicht nur an ihm.

Er packt zwei Steine von einem der kleinen Türmchen, in die sie die Palettenladung verwandelt haben. Bückt sich, legt an, lässt los, greift sich die nächsten.

Nach einer Minute bemerkt er, dass er allein an der Reihe arbeitet. Kein Klackern mehr, kein Schnaufen, stattdessen aggressive Stimmen. Micha kommt ächzend hoch, schaut sich um. Die anderen stehen im Kreis um zwei Kollegen. Gert und der Neue, wie heißt der noch gleich?

Micha beeilt sich, hinzukommen. Er hat schon einmal gesehen, wie einer einem anderen einen Pflasterstein durchs Gesicht zieht. Danach war der eine hässlich und der andere arm.

Micha baut sich zwischen den beiden auf. Wenn ihn einer anfasst, kann der gleich gehen, das wissen alle und das will keiner.

„Was ist denn los?“, fragt Micha. Der Neue schweigt und starrt Gert in die Augen. Fehlt nicht mehr viel, dafür hat Micha ein Gespür. „Was ist passiert?“, fragt er noch einmal, diesmal direkt an Gert gewandt.

„Der soll mal das Maul halten“, sagt Gert. „Geht mich hier an wegen seinem Scheißwasser. Kannst dem gleich sagen, der kann sich hier verpissen. So einen brauchen wir hier nicht.“

Micha hört, wie der Neue schnauft, und spannt sich an. Aber nichts passiert.

Micha atmet aus.

„Jetzt lass mal gut sein“, sagt er zu Gert. „Geht weiterarbeiten. Ihr alle.“

Er berührt den Neuen ganz sacht am Arm und nickt in Richtung Lagerhalle. Erstmal aus der Sonne raus. Die raubt einem die letzte Kraft, macht einen aggressiv. Keiner kann mehr, da geht der Körper an die Reserven, die man normalerweise braucht, um vor dem Säbelzahntiger zu flüchten oder um gegen Feinde zu kämpfen. Kein Wunder, dass da alles auf Alarm steht.

„Was war denn los?“

Der Neue streckt Micha seine Wasserflasche entgegen. Micha soll fühlen, er fasst hin. Brühwarm.

„Ja, und?“, fragt Micha.

„Die stand in der Sonne, weil der die Palette weggefahren hat. Hab sie extra dahinter gestellt, in den Schatten. Der Wichser.“

Micha wischt sich über die Stirn. „Das hat der bestimmt nicht mit Absicht gemacht. Der hat das nicht gesehen. Der Gert ist wirklich in Ordnung, wenn man ihn in Ruhe lässt.“

Der Neue knirscht mit den Zähnen.

„Wie heißt du noch gleich?“

„Dennis.“

„Hör mal, Dennis, ich weiß, die Hitze macht es schwerer. Aber ich will so was auf     meiner Baustelle nicht, ok? Du willst doch weiter hier arbeiten?“

Dennis nickt.

„Dann sei mal etwas cooler, ja?“

Dennis schweigt, nickt aber.

„Gut.“

Micha klopft ihm auf die Schulter, als sie ins grelle Sonnenlicht treten. Er würde sich mal genau angucken, wie der schafft. Wenn der auch noch faul ist, wäre das heute der letzte Tag für ihn.

Die anderen haben die Reihe mittlerweile beendet. „Geht mal rein, trinkt was“, ruft Micha ihnen zu. Er nimmt die Schnur und wirft Dennis das eine Ende zu. „Lauf du, bist noch jung.“

Vor zehn Jahren hat die Sonne noch nicht so runtergeknallt. Es ist schon lange her, dass Micha aufs T-Shirt verzichtet hat. Nicht nur, weil der Arzt ihm geraten hatte, sich viel einzucremen und den Rücken zu bedecken. Auch, weil es sich anders anfühlt. Als wäre die Luft ein Brennglas. Am Spätnachmittag ist es schon immer heißer gewesen als am Mittag, aber dafür hat die Sonne nicht so gebrannt. Jetzt hat man gegen vier Uhr beides. Fühlt sich an wie zwölf. Oder ist es noch gar nicht so spät? Erst zwei, drei? Früher haben sie in der Mittagspause mal ein Bier getrunken an heißen Sommertagen. Darauf würde jetzt doch keiner mehr kommen. Trinkst du jetzt ein Bier und gehst wieder raus, kippst du ja sofort um. Sie haben nur Wasser, Cola, Fanta hier. Viel Flüssigkeit, viel Zucker. Das ist das Einzige, was es halbwegs erträglich macht. Und immer in den Schatten zwischendurch. Micha kümmert sich darum, dass seine Leute sich nicht kaputtmachen. Und wenn das einem Bauherrn mal nicht gefällt, dann lädt Micha ihn immer gern ein, einen Tag mitzumachen. Wollte bisher noch keiner.

Micha greift das Schnureisen mit Daumen und Zeigefinger und zuckt kurz zurück, weil es sich so anfühlt, als hätte es auf einer Herdplatte gelegen. Er streift einen Handschuh über und beginnt, es mit dem Hammer in den Boden zu schlagen. Von Dennis’ Seite kommt derselbe metallische Klang. Sonst ist es still.

Micha wartet, bis Dennis die Schnur festgeknotet hat, und spannt sie. Schieben, ziehen, zupfen. Nachspannen, ächzen, neuen Schweiß von der Stirn wischen. Fertig.

Er bückt sich tief und blickt an der Schnur entlang. Eiert ziemlich. Er winkt Dennis weiter zu sich heran. „Stopp, da! Weiter rein!“ Die Hammerschläge klingen leise zu Micha herüber. Bong, bong, bong.

„Reicht! Ein Stückchen weiter vorn raus, weiter … da!“

Bong, bong, bong.

Micha streicht sich über die Stirn, aber er scheint ausgeschwitzt zu haben. An einem solchen Tag geht einem die Flüssigkeit halt einfach irgendwann aus. Und wenn man so dicht überm Boden hängt wie jetzt, ist es noch heißer, weil die Steine reflektieren. Warum entschieden sich diese Leute immer für Wüsten, ein bisschen Auflockerung würde doch mal guttun. Pflasterbau heißt doch nicht, dass man auf die Bäume dazwischen verzichten muss. Aber gut, wäre dann weniger Platz für die Lkws, das wollen die bestimmt nicht.

Als Micha wieder aufsieht, hat Dennis den Kopf schief gelegt, als würde er sich fragen, warum er gerade dumm in der Gegend herumstehen muss. „Du siehst rot aus“, ruft Dennis.

„Ja, ja, ich crem gleich wieder, Mudda“, ruft Micha zurück und winkt ihn weiter. Versucht der sich jetzt einzuschleimen, weil der Schiss hat, dass er sonst weg ist.

„Da ein Stück rein!“, ruft Micha. Seine Kehle ist völlig ausgetrocknet. Wenn das Ding hier halbwegs gerade ist, wird er erstmal wieder rein und zurück zum Handtuch gehen. Flasche auffüllen, Wasser über die Handgelenke. Nochmal den Turban aufsetzen.

„Nee, weiter raus!“, ruft Micha.

Dennis stockt und hämmert die Steine behutsam in die andere Richtung. Geschickt war er, immerhin.

Die Reihe eiert aber immer noch, eine richtige Schlangenlinie. Sind sie da hinten nicht eben schon gut gewesen? Hat Dennis sie nicht da vorn extra weiter rausgebracht, hat Micha das eben falsch gesehen … Er schließt die Augen.

Bong, bong, bong, hört er den Hammer immer noch.

„Warte, reicht, reicht!“, ruft er und sieht auf. Dennis steht mit gerunzelter Stirn da und tut nichts.

Bong, bong, bong.

Das Geräusch ist immer noch da. Bong, bong, bong. Es wird immer lauter, steigt in den Kopf, fühlt sich plötzlich an, als würde jemand eine dicke Packung Watte durch sein Gehirn wischen, wusch, wusch, wusch, wie eine Lokomotive, die anfährt.

Michas Beine werden wackelig, er geht von der Hocke in die Knie. Auch nicht viel besser. Was zum Festhalten, er braucht was zum Festhalten. Da ist aber nur der Boden, also stützt er sich auf die Steine, einer am Rand rutscht weg, macht ein Stückchen Kiesbett kaputt. Micha will rufen, er braucht mal die Kelle, aber aus seinem Mund kommt gar kein Geräusch mehr. Was ist denn mit der Zunge los? Und seine Finger fühlen sich dick und taub an. Mann, ist das gleißend um ihn herum. Sind die Steinchen spitz an seiner Schulter, hart an seiner Stirn. Warum liegt er im Splitt, jetzt reicht die Kelle nicht mehr, jetzt braucht er die Latte und Dennis muss ihm helfen, damit es schön gleichmäßig wird, ganz glatt, das geht nur zu zweit.

Ein Umriss erscheint über ihm. Warmes Wasser, Rufen, Michas Kopf sackt nach vorn, zur Seite, eine schwitzige Brust an der Wange plötzlich, alles ruckelt. Lagerhalle, Trägerbalken. Stimmen durcheinander. Hart ist es unterm Kopf, ganz hart, und auch drinnen, alles verhärtet sich, als würde es sich zusammenziehen, zurückziehen.

Alles ist viel zu dunkel.

Aber so wunderbar kühl.

„Across all study countries, we find that 37.0% (range 20.5–76.3%) of warm-season heat-related deaths can be attributed to anthropogenic climate change and that increased mortality is evident on every continent.“[1]

 


[1]Vicedo-Cabrera, Ana Maria: The burden of heat-related mortality attributable to recent human-induced climate change, in: Nature Climate Change 11 (2021), 492-500.

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