Estella Alejandra Tambini Stollwerck

Hitzeträume

 

Wenn ich an Gegenwart denke, denke ich an Wärme. Wie ein schweigsamer Betrachter kriecht sie in meine Wände, saugt sich in meine Kleidung, setzt sich auf meiner Stirn ab. Sie nistet sich ein unter meinen Achseln und läuft mir kalt den Rücken hinab. Wartet beharrlich, bis meine Trägheit sich in einen dumpfen Schlaf verwandelt. Dann packt sie zu, legt sich auf mein Gemüt, trübt mir den Blick. Einskomma-neun Grad plus dieses Jahr in Deutschland und es fühlt sich an, als müssten es fünf Grad mehr sein. Sommernächte lauwarm – werden warm – werden bald – was?

 

Wenn ich an Gegenwart denke, denke ich an Ignoranz. Es lebt sich so viel einfacher so. Nicht ahnen, wie die Böden vor Trockenheit abrutschen. Nichtsahnend lauschen, wenn ich das zehnte Unwetter diesen Monat grollen höre. Auch mal fluchend, wenn die Wärme sich nicht aus dem Fenster bewegt. Wie auch?

Warum sind wir nicht auf die Straße gegangen, schon vor zehn Jahren? Warum sind wir nicht jeden Freitag der Schule ferngeblieben? Was hat uns bewogen, nichts zu bewegen, obwohl unsere Blicke sich in Richtung Arktis, Kopenhagen, Paris wandten?

 

Einen Zeitsprung ins Jetzt.

 

Es ist nicht leicht, von Ecke zu Ecke zu hasten, wenn die Sonne einem auf den Nacken prallt. Es ist nicht leicht, sich Zecke um Zecke, Mücke um Mücke von der Haut zu ziehen, um sein Blut für sich zu behalten. Schon erspäht das Wildtier die Beute ... und fängt nur eine fliehende Fledermaus. Es ist nicht leicht, wenn Schleichkatzenschreie unsere Welt außer Kraft setzen, für einen Moment, einen Tag, nun schon  anderthalb Jahre. Es ist nicht leicht, so im Ganzen.

Wie sehr man sich das wünschte: Dass eine Krise als eine Krise gesehen und behandelt würde! In der Pandemie: Betriebe schließen, Produktion einstellen, Homeoffice, wo auch immer möglich. In der Klimakrise: Bambusstrohhalme aus China. Kompostierbare Teller. Öko-Schuhe und Leinenhemd. Die Verantwortung ganz im  Individuellen, mir steht das gut. Das war polemisch. Aber wie heißt es ... Krisen      erfordern besondere Maßnahmen. In Krisen wird Geld ausgegeben, danach wieder eingespart. Warum also die schwarze Null, wenn unser Planet vor der größten erdenklichen Katastrophe für die Menschheit auf der Erde steht, welche nicht (direkt) durch chemische Waffen ausgelöst wird? Ich versteh’ es nicht.

 

Wenn ich an Gegenwart denke, denke ich an die Stadt, in der ich wohne, die ich liebe und die immer wärmer wird. Der sei glücklich, der sich heute einen Baum in den Garten setzt. Der Schatten wird noch nötig sein. Das saftige Grün im Juni, bis es rot-bräunlich wird im September, bleibt das so? Ich frage mich, frage mich so viel, auch ob ich hier noch leben mag in zwanzig Jahren. Die Schwüle ist schon immer drückend. Plus zwei Grad? Ich versuche mir auszumalen, wie heiß das sein würde. Ob der Neckar sich verändern würde, irgendwie. Ob die kleinen Rinnsale im Wald vollends vertrocknen. Die Fichte ist laut Baumarteneignungskarten ungeeignet ab: jetzt. Der Borkenkäfer kommt. Trockenheitsstress im Spätsommer. Oder vielleicht nicht, wer weiß das schon.

 

Einen Raumsprung im Jetzt.

 

Wo sind sie, die Fliehenden vor dem Klima? Die 200 Millionen, die da kommen sollen? Wo stehen sie, im Halbschatten, in der prallen Sonne, an der Bushaltestelle auf dem Weg in die nächste Stadt? Klimaflüchtlinge werden sie gerufen. Flüchtend nicht nur vor Hitze, sondern Überschwemmungen, Dürre, Wirbelstürmen, Trockenheit. Die Rechnung ging bisher wohl nicht auf. Oder man überlegt und bemerkt, dass dort viel mehr in Bewegung gesetzt werden müssen, als hier ankommen können und wollen. Binnenflüchtlinge. Zeitweise oder dauerhaft. Nicht hier.

Vom Unsichtbaren schreiben. Aber wenn die Unsichtbaren gar nicht da sind, sind sie es dann doch? Wenn kein Feind sichtbar ist, lauert er dann hinter der nächsten Hauswand? Ich frage mich: Wer denkt so? Wem ist die Umwelt seiner Nachkommen weniger Grund für Veränderung als 1 % mehr Zugezogene in diesem Land?

 

Doch was, wenn diese Angst der einzige Weg ist, die Menschen zur Vernunft zu bringen? Ihnen die Augen zu öffnen, um etwas zu tun, bevor die Katastrophe eintrifft – als wäre sie nicht schon längst zur Vordertür hereinspaziert? Was wäre, wenn ein Umdenken nur gelänge, wenn wir die Angst vor den anderen reaktivierten, aufs Äußerste, die Befürchtungen aufpeitschten, um ein höheres Gut zu erzeugen?

Ist schon klar, was das wäre. Falsch. Die Daten sprechen dagegen. Aber wenn es ginge ... Wäre das dann besser, als in Stockholm Autoreifen zu lüften, um SUVs aus der Stadt zu vertreiben? Wenn ich dir jetzt etwas wegnehme und du mir in zehn Jahren dafür dankst, war es dann gerecht?

 

Einen Sprung weit vom Jetzt.

 

Wenn ich an Gegenwart denke, denke ich an Autos. Flugzeuge. Massentierhaltung und massenhafte Tierschlachtung. Mikroplastik im Meer und meinem Magen. Korallenriffe in Grau. Jeder für sich, isoliert in den eigenen vier Wänden, heiß oder kalt, ihre, seine, meine. Ich denke an Parkplätze in der Innenstadt und keinen Ort zu leben. An Kondensstreifen am Himmel und verlassene Dörfer. An Kinderarmut und Arbeit muss sich lohnen. An All-you-can-eat und Müllberge in der Gastronomie. An Billigflüge und Kreuzfahrtschiffe im Hafen von Venedig, deren Betreiber kaum Steuern zahlen im Vergleich zu dem Schaden, den sie anrichten. An fünfzig Prozent weniger Korallenriffe vor Australiens Küste. An weniger Insekten oder Vögel. Dafür verstreute Masken am Straßenrand, der Supermarktecke, in der Luft.

 

Wenn ich an Zukunft denke, dann jedoch springt mein Herz. Warum nicht hoffen? Warum nicht darüber frohlocken, was alles sein könnte – die Stadt voll Bäume, die Blumen an der Wand? Wenn Wurzeln so stark sind, dass sie Pflastersteine aufbrechen, überhaupt: Gärten, Nähe zueinander, gemeinsames Wohnen und gegenseitiges Helfen – ,dann pflanzen, atmen, spazieren gehen, atmen, Kräuter sammeln,    atmen, schwimmen im Fluss, atmen, ernten, atmen, Kompott aus Fallobst einkochen, atmen, Erdbeeren vom Balkon naschen, atmen.

Ein silberner Affe, der kilometerweit springen kann, bevor er dem nächsten Bagger begegnet. Eine Koralle, die strahlen und leben kann auf ihre eigentümliche Art.

Ein heimischer Vogel, der seine Abendlieder trillert.

Eine Fledermaus, die in weiten Schwüngen ihre Freiheit genießt.

Ein Gemeinschaftshaus mit Gemeinschaftsgarten, eigenen Karotten, die Kirschen am Baum dunkelrot. Gemeinsam errichtet und gemeinsam instandgehalten.

Die Autobahnen begrünt, der Zug im Halbstundentakt. In drei Stunden von Köln nach Berlin. Berlin nach München. München Stuttgart. Oder raus nach Paris.

 

Zurück zu meiner Stadt am Fluss zwischen den Bergen, thronend darüber ein verfallenes Schloss. Wie viele schon haben ihr Herz an dich verloren ... Mein Herz bangt auch. Wie wäre das, ohne das Auto. Lastenräder auf den Wegen, Lastendrohnen schwirren durch die Luft. „Weißt du noch“, ruft eine 80-Jährige vom Fahrrad aus ihrer Tochter zu, „wie lang wir früher brauchten, um die Kreuzung zu überqueren? Und dann erst der Lärm!“ Beide nicken, beide sind froh. Risiko Übergewichtigkeit: runter. Diabetes: runter. Hautkrebs: minimal erhöht. Die sonnengebräunten Schultern der zwei Frauen vor mir.

Wenn meine Neckarseite mit der alten Stadt und den holprigen Gassen nur für Räder befahrbar wäre, dann wäre die Stadt sicherer. Manch eine erhielte einen Sondertransport per Flugtaxi, eine Besonderheit für die Kranken. Wenn Busse und Bahnen die Pioniere der Stadt wären, dann wäre mehr Platz für große Gärten. Oder zwei Häuserreihen, wo ein Parkhaus stand. Wenn der Fluss so reinlich wäre, dann könnte man wieder nach Lust und Laune darin baden. Und dann die Schulen! Draußen. Im Grünen. Explorativ-experimentell. Wenn die Nachtzüge wieder täglich führen, dann wäre Reisen entspannter. Wenn man in wenigen Tagen bis nach Lissabon reisen könnte, in Zügen so komfortabel wie die Transsibirische Eisenbahn.

Ich träume gerne von der Zeit, die man in einer 30-Stunden-Woche hätte. Die Zeit für Engagement in der Gesellschaft, Gegenseitigkeit, Ausflüge mit Kindern, Turniere im Verein. Ich träume auch mal von offenen Grenzen und mir und anderen, wenn wir sein könnten, wo wir gerade sein wollen. Wo Fremde*r kein negativ belegtes Wort wäre oder gar nicht notwendig, weil die Gemeinsamkeit Mensch an erster Stelle stünde. Ich träume davon, dass die Erkenntnisse von Wissenschaftlerinnen im globalen Süden so viel Wertschätzung erhielten wie die eines Wissenschaftlers im Norden. Wo nichtakademisches Wissen über Kräuter und Pflanzen Gehör bekommt, geprüft wird, aber auch genutzt. Und frage dann immer weiter: Warum nicht die Zukunft so ausmalen, wie wir sie gerne hätten?

Weil die Klimahitze schon vor der Tür steht und wir nicht wissen, wie sie unser Leben beeinflussen wird. Weil erträumen, was man wünscht, so schwierig ist, wenn man von dem grauen Status Quo ausgeht. Und wir einen Systemwandel bräuchten, um zu retten, was noch zu retten ist.

 

Schau, der Witz liegt in ... der Gegenwart. So greifbar, alles hier wurde schon gedacht, verschüttet in manchen Köpfen harrt es aus. Alles nicht neu, sondern unsichtbar, dösend in der warmen Zugluft.

Und doch, daher – ja, umso stärker:

Wenn ich an Gegenwart denke, denke ich an ein ungeheures Potential.

 

 

 

Die Jury hat den Text Hitzeträume von Estella Alejandra Tambini Stollwerck als Rede gelesen.

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