Melanie Sasha Berger

Pan Più

 

Pan Più sitzt auf einem Plastikstuhl und lehnt mit ihrem kleinen gebräunten Bizeps an der Kante eines gigantischen Tisches, auf dem allerlei Fische und Krustentiere auf Eis gebettet und damit zugedeckt liegen. Es ist kurz nach halb vier, die Wallstreet hat auf der anderen Seite des Atlantiks hierorts völlig unbemerkt ihre Türen geöffnet, und die Sonne presst auf die Markise, die sich unter den Lichtbrocken zu einer umgestülpten Mugellandschaft wölbt. Jedes Jahr hängt sie ein Stück tiefer in das Blickfeld von Pan Più, bildet heuer bereits die plastische Abgrenzung ihres Horizontes nach oben, schneidet das Panorama ab, in dem sich hinter einem Dutzend Marktständen die Auffahrt zur Autostrada über mohnbewucherte Böschungen schwingt, bevor sie sich den Weiten der sterbenden Prärie ergibt. Hinter dem Teer leuchtet das durstgrün und hungerblau, was in der Momentaufnahme einer Kamera eine vollkommen überbelichtete Abbildung ergeben würde, in der die Windkraftanlagen und Strommasten so derart zart herausstächen, wie sie eigentlich gar nicht sind. Freundlich hängen die Leitungen in der fetten Sommerluft, geordnet aufgefädelt auf den Stahlkonstruktionen, wie auf hundert kleinen Eiffeltürmen, denkt Pan Più und kann sich weder an den Aufstand der Parisernnine[i] beim Bau dieser Ikone der Moderne erinnern, noch aber an jenen, dem dabei gedacht werden sollte, nämlich der Französischen Revolution, deren Versprechen der Menschmachung der Geschichte sich unwillkürlich in den absoluten Beherrschungszwang gegen sich selbst wandte. Die Aufklärung, hatte Pan in der Schule gelernt, die große Errungenschaft der europä-ischen Zivilisation, doch wurde die ins Stocken geratene Begründung der Lehrerin von einem allgemeinen Starren der Klassengemeinschaft nach draußen verhindert, wo ein Mann mit Geheimratsecken auf einen Golden Retriever hämmerte, noch und nöcher mit seinem Tennisschuh gegen das Fell trat, denn der Hund hatte Sekunden zuvor einen gigantischen Sprung in eine Pfütze getan, was einen Fleck im Schritt des kleinen Mannes hinterlassen hatte.

An diesem Spätsommertag am Marktplatz aber sind die Mulden im Asphalt trocken, offenbaren sich wie die leeren Gruben geräumiger Hände beim Warten auf die Hostie, wartend und wankend im Beton brutalistischer Kirchen, bis die Erlösung kommt, weil man fest genug geglaubt oder lange genug in der Schlange gestanden hat. Auch vor dem Fischstand hat sich mittlerweile eine Schlange gebildet, und Pan Più beobachtet von ihrem Plastikstuhl aus die vielen nackten Füße in Sandalen aus Kork, Plastik und Stoff, mit Streifen, Swoosh, Puma oder nichts dergleichen, die nackten Füße und ihre zugehörigen Betten, die um den fischigen Rinnsal tippeln, der von der Tischecke direkt neben Pan tränenhaft zu Boden tröpfelt. Cesare bedient seine Kundschaft wie der bedeutendste Nebendarsteller eines Stummfilmes, garniert jeden in glänzendes Papier geschlichteten Einkauf noch mit einer einsamen Crevette, dessen Qualität er zuvor durch einen Biss in das Fleisch demonstrierte, das wie Fensterglas zwischen seinen Goldkronen zerbarst. Jedenfalls ist der Marktplatz von Lazzo, der sich gegen Westen an den Rücken eines Ponyhofes schmiegt und also die Hälfte des von mehrspurigen Straßen umzogenen asphaltierten Terrains Selvaggina bildet, das mindestens seit der Schließung einiger Bauernnnienstände nach der Finanzkrise aus Drohnensicht die Form eines Pacmans annimmt, zum Treffpunkt Pan Piùs und ihres Vormundes avanciert, bevor dieser sie immer freitags einsackt und im Feierabendverkehr zur Mutter in die Stadt führt.

Heiß und leer, so sind die Stunden in Selvaggina für Pan Più zur inneren Bufferzone geworden, zum moorigen Grenzgebiet, in dem die ringende Konsumfreude der anderen die Pfütze im Planschbecken ist, über dessen aufgeblasene Ränder zumindest die Herrschaftsansprüche der Familie nicht hinübergekrochen kommen, und ansonsten befüllt mit Stoffen, Hühnern, Matchbox-Autos, Knoblauchketten, Forellen, Polyesterstrümpfen, alten Spielkonsolen, Salzlaken und Ölkanistern, in denen Pan Più nicht selten träumte zu verschwimmen.

 

„PAN!!!“ Mit einem Ton, ungefähr dem Karacho beim Absturz einer Gondel gleich, stürmt Guetti Più, ein Minzbonbon lutschend, auf Pan zu. Erst als der Mann, dieser schlaksige Mann mit dem Schnauzer und den darin hängenden Tauperlen, keinen Meter vor ihr zum Halten kommt und beginnt zu fuchteln, zu schreien und Pan herumzuschubsen, denn Pans Rucksack lehnt vom Fischsud durchnässt an ihren kleinen Knien, und wer soll denn einen Neuen bezahlen, richtet Pan ihre Augen auf, kurbelt sich from toe to top hoch an dem Signore, dem Papa, dem in Rage geratenen Wolkenreiniger, wie er von den Nachbarnnine genannt wird. Pffft, seufzen die Ränder des Planschbeckens, pffft, die Lake schwappt über die Felder, pffft, Pan jetzt flach und klein, dem Erdboden gleich, unter der gewaltigen Walze des Mannes.

Die Charts ballern in den Fiat Ducato. Guetti Più brettert über den Asphaltteppich, der sich unter dem nebeligen Ruß ausrollt. Mit der Luft der AC bläst es feinste Partikel in den Innenraum des PKW, das pickige Schwarz ätzt sich in das Leder des Schaltknüppels, der Polsterung, Guettis Augenlieder, Pans Schenkel.

„Klebt“, sagt Pan, und, nach einer Pause: „Es ist schon die Nacht.“ Pan legt ihren Finger an die Scheibe.

„Ja“, erwidert Guetti, atmet ein und richtet sich auf, drückt dabei die Schultern hinunter, und klammert sich noch etwas fester an das Lenkrad.

„Warum?“, fragt Pan.

Guetti presst seine Lippen zusammen, pumpt Luft in die Wangen, um dann loszulassen, zieht dirigentenhaft die Hände zu einem V wie Vogel auseinander und malt      einen Super-GAU in die Luft.

 „Buuffffff“, macht er, schaut kurz hinüber zu Pan, dann: „Ciao Wolken, ciao Job. Hat sich der Himmel gerächt.“ Hinter dem Glas ragen Leitplanken in die Schwaden. Der Verkehr hat weder ab- noch zugenommen, drängt normal die Straße hinunter, Richtung Urbanem, müßig im Tempo, nachgiebig dem Drill der Charts, der sich zum Rauschen verzieht, ehe das Signal gänzlich abbricht. „Es ist vorbei, Più Piccola, wir sind am Arsch.“

 

Guetti Più, der Wolkenreiniger, Angestellter des Monats bei der Serverfarm der ALT TINA Group, hat seine Hand ruhig auf den Schaltknüppel gelegt, ohne ihn zu bedienen. Vor seinen Augen flammt der Brand wieder auf, dieser galoppierende Wall, Frontline in Sundowner Optik mit Zeug zur Verwüstung. Sie schwirrten aus den Hallen, die Software-Entwicklernnnie, Systemadministratornnine, eine Handvoll PMCs, all die Wärternnien der Vollendung der Abstraktion, die hier in ihr eigenes Netz ging, als gerade der Brand sie fing, den sie entfachte. Das war am Mittag, eben als die Wallstreet menschenleer an den Glasfaserleitungen hing, die unter dem Atlantik eingegraben Informationen funneln, durch die Seekabel, Adern, über denen nicht nur die Aale ihre Migrationsrouten bestreiten. Bei ALT TINA war man unter anderem spezialisiert auf die Rechenoperationen der hochkomplexen Netzwerkaktivitäten des Green Finance Sektors, Auslagerung auch der Datenspeicherung, für die es in den Bunkern unter Rom keinen Platz mehr gegeben hatte. ALT TINA war extrem erfolgreich weil extrem effizient, immer weiter drücken konnte man hier die Kosten für die Kühlung der Server, wie es die CFO Rosa Rasta formulierte, während sie in die Linse des Kameramannes gestikulierte, der ihr sehr viel zu nahe kam, als er Bilder einholte für einen letztendlich thematisch vollkommen ausgeuferten TV-Beitrag über die nachhaltigen Investitionsstrategien privater Pensionsfonds. Hoffentlich verbrannt ist auch dieses Bildmaterial, in dem, daran erinnert sich Guetti, er selbst hat auftreten müssen als das stolze menschliche Überbleibsel einer sonst vollkommen automatisierten Serverreinigung. Mit einem überlangem Swiffer-ähnlichem Teil sollte er die besonders mühsam zu erreichenden Staubkörner aus den zu Rechtecken gestutzten Wolken fischen, die in den blaublinkenden Korridoren des Kühlbunkers verwahrt   waren. Betörend war hier nur das Dröhnen der rotierenden Ventilatoren, viel gleichmäßiger als der seit Tagen ravagierende Sturm, der neue, der für diese Breitengrade ungewöhnlich schwere, der, der mit seiner fetzigen Luft die Sommerhügel immer  heftiger tapezierte. Es war auf einer Anhöhe, dass es zum zündenden Clash kam, es die Leitungen zusammentrieb und die nackte Begegnung des Starkstroms einen kleinen Funken entfachte, der ahnungslos und unschuldig auf ein Nadelbett fiel. Das so entbrannte Feuer brach gnadenlos über die Landschaft ein, züngelte vif und kletterte frei, rasierte Hochstände und Felder, Müllplätze und Sträucher, ätzte sich aufbäumend fort, bis seine Front die Glasfaseragglomeration erreichte und das evakuierte Gebäude in Minuten zu einer riesigen Murmel verschmolz, deren kristalline Intelligenz sich wie ein rohes Ei ins Tal ergoss.

 

Guetti Più streift fuchtelnd um den rauchenden PKW, den er gerade noch zur Tankstelle hat manövrieren können. Der Qualm aus Motorhaube und Auspuff drückt sich dunkel in die getönte Luft.

„Mamma! Puttana! Das war das Letzte, das ich brauchen konnte, scheiße, scheiße, und nochmal scheiße! Das lass ich nicht gelten, das geht nicht durch, das schwör ich! Verdammtes Drecksleben!“ schreit er, greift sich dabei immer wieder so hektisch ins Gesicht, dass man meint, gleich macht er sich ein blaues Auge, gleich quetscht er die Wange so fest, dass die Zähne aus dem Kiefer ploppen und wie   Perlen über den Asphalt kullern.

„Ich muss Pipi“, sagt Pan Più, die in der Zwischenzeit mitsamt ihres Rucksackes aus dem Auto geklettert ist.

„Auch das noch! Ja dann, was stehst du rum! Geh! Schnell! Komm schon, geh! Geh!“

 

Pan Più geht, stolpernd, eilig, geknickt irgendwie, den Blick auf den Rucksack, den sie behutsam zwischen den Vorderarmen hält. Aber vor der Schlange beim Dixi bleibt sie dann doch nicht stehen, sondern beginnt zu laufen. Fliehende steigern ihre Geschwindigkeit langsam, exponentiell wächst die Beschleunigung im Verhältnis zur bereits zurückgelegten Distanz. So unscharf wie solches Entwischen eben ist, sieht man ihren kleinen Körper sich von dem Betonquader fortbewegen, über einen Straßengraben, zwischen zwei Zedern hindurch, hinweg auf das geschorene Weizenfeld, dem sein heutiges Verbrennen aufgrund der Hubschrauber verschont geblieben ist, die vereinzelt und beladen mit dem chlorigen Wasser der Pools der Rosa Rastas im düsteren Himmel kreisen. Die Hitze drückt. Es dauert kaum ein Dutzend Parzellen, bis vor den Augen des Kindes die quadratischen Melonen von Lazzo im Chor um ihre Rundung singen, sich Hühnerhorden zum Aufstand organisieren und die Wolken rebellisch den Ruß wegregnen. Als würde sie in ihrer Erschöpfung nur noch ahnen, dass eine sanfte Bremsung nicht reichen wird, bleibt Pan Più einfach stehen. Vorsichtig geht sie in die Knie, um den Rucksack ins Stroh zu stellen, sich ein Lager zu bauen aus dem roten Pullover, den sie um die Hüften trägt. Sie setzt sich, atmet ein, öffnet langsam mit Zeigefinger und Daumen die Schnalle.

„Piccola“, flüstert sie, „Piccola“. Sie zieht einen langen, glatten Aal heraus, streift das Tier über ihre linke Hand, hält es ganz dicht an das Gesicht. „Du bist nicht allein.“

 

 

 


[i] Im vorliegenden Text wird das »Polnische Gendering« angewendet. Dabei kommen alle für alle Geschlechter nötigen Buchstaben in beliebiger Reihenfolge ans Wortende.

 

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