Anna Fedorova

Unheimat

 

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Seit fast einem Jahrzehnt verwandeln wir am Esstisch Kartoffeln, Sardinen und das außenpolitische Tagesgeschehen in immer lauter werdende Diskussionsfetzen. Meine Eltern existieren nur noch in russischsprachigen Blogs und Analysen.

 

Mein Bruder vergisst sein Russisch völlig, spricht mit deutschem Akzent. Er negiert erfolgreich seine ukrainische Herkunft. Die Regel, dass am Esstisch kein Deutsch gesprochen werden darf, wurde inzwischen abgeschafft. Sobald die Diskussion hitzig wird, steht er demonstrativ auf und droht damit, den Tisch zu verlassen.

 

„Seine Seele ist so deutsch“, denke ich dann jedes Mal. „Dass er alles, was mit Leidenschaft gefüllt ist, sofort mit einer Kriegserklärung gleichsetzt.“

 

 

1

 

2014 ist das Jahr, in dem die Ukraine um die Krim und den Donbass amputiert wird und wir uns im politikwissenschaftlichen Seminar über territoriale Integrität streiten. Begreifen, dass Nationen keine statische Einheit, sondern ein Ensemble von Strategien sind.

 

Es ist das Jahr, in dem die Ukraine geografisch wiederentdeckt wird. Plötzlich bin ich nicht mehr Deutsche mit einem unaussprechbaren Namen, sondern von außen ernannte Ukraine-Expertin.

 

Es ist das Jahr, in dem wir in verrauchten Kneipen unsere Jogginghosen mit bürgerlicher Selbstverständlichkeit tragen und meine Freunde sagen:

„Dann muss die Ukraine eben demokratischer werden, anstatt sich im Parlament mit Schuhen zu bewerfen.“

Meine westdeutschen Freunde sind Idealisten. Es ist das „Sollen-sie-doch-Kuchen-Essen“ des 21. Jahrhunderts.

 

Sie verstehen nicht, dass ein Problem eines Landes kein individualisiertes, aus sich selbst heraus lösbares Problem ist. Dass sich die Ukraine nicht einfach am Haarschopf packen und aus der Scheiße ziehen kann, wie es ein Münchhausen so empfehlen würde.

 

Ich skandiere wie ein Mantra: Nicht das Bewusstsein definiert das Sein, sondern das Sein das Bewusstsein. Ich singe betrunken Lebensmittel-, Strom- und Gaspreise runter.

 

Mein wasserfallartiger Rededrang ist nur ein Symptom geistiger Hypomanie. Ich weiß zu gut, dass ich damit nur versuche, die Mangelverantwortung des Exils, die an mir haftet, zu übertünchen.

 

2014 ist das Jahr, in dem die Ukrainer das Mangelgefühl gegenüber allen anderen Staaten in der Europäischen Union, wo Milch und Honig fließen, mit einer Kompensation durch Nationalismus und ukrainische Genuität auszugleichen versuchen. Indem sie zum Beispiel die letzten Leninstatuen öffentlichkeitswirksam demontieren.

 

2014 ist die Europameisterschaft erst zwei Jahre her. Die Straßen sind neu geteert, wie sie stolz sagen. Alles aufgehübscht. Zu viel hat man der Ukraine nicht zugemutet, denn immerhin teilten sich die Ukraine und Polen die Gastgeberschaft. Das englische Nationalteam und seine Fans besuchen neben Auschwitz in Polen natürlich auch den Reaktor in Tschernobyl. Ein wenig Elendstourismus, alles in allem aber eine gute Erfahrung.

Es gibt einen kollektiven Hoffnungsschimmer, dass die Ukraine eines Tages mehr sein wird als ein Land of Kaputtheit.

Nur wenig später glauben sich die Ukrainer in der Situation, Russland einfach überspringen zu können. Und sie tun es.

 

2018 bin ich das letzte Mal in Charkov. Wie bei allen letzten Malen bin ich mir dessen nicht bewusst. Ich bin unfreiwillig dort. Er hat sich schon so etabliert, dass man vor allem zu unangenehmen Ereignissen hinfährt, Beerdigungen etwa.

 

Inzwischen sprechen sie nur Ukrainisch dort, immer noch fehlerhaft. Und privat und betrunken in Küchen wird dann trotzdem ins Russische gewechselt.

 

Die Plätze und Straßen sind allesamt umbenannt, auch die ideologisch harmlosen. Meine Wohnung liegt jetzt am Platz der Helden der Ukraine. Ich stocke, weil ich die Metrostation nicht finde. Inzwischen finden sich bei all diesen Umbenennungen nicht einmal diejenigen zurecht, die ihr ganzes Leben in Charkov verbracht haben. Manche benutzen wieder Straßenkarten der 1990er Jahre zur Normierung.

 

2018 ist das Jahr, in dem mein Stiefvater verkündet: „Die Ukraine ist ein toter Baum, an den Wurzeln abgestorben.“ Wir brainstormen am Esstisch, wie ein solches Land aufgeteilt werden könnte, weil wir wissen, dass es so nicht mehr lange bestehen wird.

 

 

2

 

Als die ersten Bomben fallen, reagiert meine Mutter entspannt. Sie sagt: „Bleib ruhig, in einer Woche wird es vorbei sein.“ Ich glaube fest daran, dass bald die ukrainische Schamade ertönt. Dass die Hryvna bald angehoben wird, dass die Wirtschaft besser wird. Vielleicht wird die Ukraine einmal mehr sein als die Antithese des Westens, osteuropäisches Antidisneyland.

 

Es ist Tag der sowjetischen oder der russischen Armee.

Mein russischer Mit-Exilant und ich verlieren uns in Überlegungen zur Bedeutung dieses Datums: Es ist kein Wunder, dass es heute angefangen hat, sagen wir. Wir sitzen im Dschungel und starren in unsere Telefone.

Nach zwei Tagen sagen wir:

 

„Spätestens am achten März wird die Ukraine vollständig eingenommen sein. Wenn das alles an einem derart symbolträchtigen Tag begonnen hat, muss es auch an einem solchen enden. Oder dann am neunten Mai.“

 

Wir werden hoffnungsvoll, obwohl wir beide wissen, dass diese Art der vermeintlichen Kriegslogik esoterischer Unsinn ist. Wir glauben fest daran, dass er das nun ist: der vierte Akt. Schließlich sind wir in der Geschichte schon so weit fortgeschritten. Da war die Orangene Revolution, die zur Jeanne d’Arc erklärte Timoschenko (die Heilige mit dem Kranz), Janukovich, die Demonstrationen auf dem Maidan. Der Krieg im Donbass und die Krim-Amputation.

 

Bald müsste das Finale einsetzen. Das wäre doch nur logisch, auf ein Ziel gerichtet. Das sagen wir uns schon seit Jahren, wenn es um negative Ereignisse geht. Diese Kriegserklärung ist nur der retardierende Moment, kurz bevor es – was immer es sein soll – sich dem Ende zuneigt. Und etwas Neues beginnt. Wir wissen schon, dass Geschichte nicht diesem Schema folgt, und sind trotzdem still und heimlich in unserem Inneren historische Materialisten.

 

„Wann wird es vorbei sein?“, fragen die einen. Es ist wie bei dieser obszönen Pandemie.

Wieso vorbei? Es hat doch gerade erst angefangen.

 

Dann fallen die Tage wie Fleisch vom Dönerspieß und ich beginne zu fürchten: Es ist erst der erste Akt, das Vorwort, der Trailer.

 

Im Jahr 2022 ist das Land um eine Unglücksdekade geköpft und kastriert.

 

 

3

 

Ich weiß nicht, ob die Ukraine real ist. Ich lebe sie nur durch Erzählungen, in denen 1991 näher ist als 2030, obwohl letzteres übermorgen ist. Und meine Eltern machen mit. Sie sagen Rubel und Kopeken, obwohl es den Rubel in der Ukraine nicht gibt und die nicht ganz so literarisch klingende Hryvna eine Achterbahnfahrt der Inflation performt.

 

Ich erinnere eine Wohnung, die es längst nicht mehr gibt. Wie jemand mir früh morgens die heiße Wanne volllaufen lässt. Wie am Abend der Strom abgestellt wird, wie wir im Kerzenschein Gedichte rezitieren. Es sind Schnappschüsse. Mehr die Jugend meiner Eltern als meine eigene. Eine Odyssee durch die letzten hundert Jahre durch die Brille meiner Großmutter. Es sind Erzählungen, von denen ich mich manchmal überzeugen muss, dass ich sie nicht in Romanen gelesen habe.

 

Das ist also der vierte Akt, denke ich in der Dramentheorie. Krieg, dann kommt die Aufteilung. Krisis, Katharsis, so läuft es doch. Ich habe Akt 5 schon geschrieben, das bessere Leben. Weil ich Meisterin der Narration meines Lebens bin, das ist meine Wahlfreiheit. Das Paradox meiner mentalen Fähigkeiten. Und ich habe uns zu oft imaginiert, wie wir im Sommer am Schwarzen Meer sitzen.

 

 

4

 

Laut Francis Fukuyama ist die Entwicklung der menschlichen Zivilisation im 20. und 21. Jahrhundert ein Pfeil, ein in die Zukunft gerichteter Pfeil. Die historische Entwicklung ist ein zusammenhängender und zielgerichteter Prozess. Der Endpunkt ist eine Gesellschaftsform, wie sie in den USA, Großbritannien und den westlichen Ländern existiert: die marktwirtschaftliche, freiheitliche Demokratie.

 

Ich bezweifle, dass ich das gut finde. Ich glaube auch nicht, dass es wahr ist.

 

Meine Imagination von Welt beruht auf Narrativen, die wir uns erzählen, um alles begreifbar und erzählbar zu machen. Ich halte historische Objektivität für einen Irrtum. Ich habe geglaubt, dass es notwendige Ereignisse gibt, die sich insofern als notwendig erweisen, als dass sie eine Bedingung für den Kreislauf unserer Historie darstellen. In etwa der Fall der Mauer. Ich denke in Akten und in Kapiteln, weil es die Art und Weise ist, wie wir unsere Erzählungen logisch-narrativ, zeitlich organisieren und choreographieren.

 

Meine Heimat sind die Worte, die mir entfallen. Schwindende, fliehende Sprache. Oder der Augenbrauenschwung meines Mit-Exilanten, der bald mein Liebhaber, dann mein fester Freund wird. Er hält meine Hand im Bus, wir rauchen uns den Zigarettenqualm ins Gesicht und sprechen die uns unbekannten ukrainischen Städte am Frontverlauf falsch aus.

 

Uns haftet die Sünde des Exils an, wir stehen zwischen den Stühlen. Unsere Perspektive als Außenseiter ist Fluch und Segen, wir sind gezwungen, wie Enzo Traverso schreibt, die Geschichte durch das Prisma des Exils zu lesen. In unseren Ländern wird unser Gang ins Exil als originäre Sünde wahrgenommen. Und alles, was wir Sünder von nun an tun, wird zur Kenntnis genommen und bei Zeiten auch gegen uns verwendet. Das ist unsere Wahrheit und sie gehört uns.

 

Heimat ist die Unmöglichkeit, meinen Familienstammbaum zu zeichnen. Und die niemals besuchten Grabstätten. Früher blieb mir nichts anderes übrig, als die Vergangenheit zu imaginieren und mich an die Idee zu ketten, der Fiktion läge ein Faktum inne. Ich bin Arachne und ich spinne die losen Fäden der Geschichte zusammen.

 

Für uns Exilanten ist die Ukraine kein topologischer Ort mehr. Wir sind ein Korken im Wasser. Die Ukraine ist ein Bewusstseinszustand. Eine Fiktion, auf die ich alle meine Wünsche projizieren kann. Ein Fantasieort, an dem alles möglich sein wird. Irgendwann, später.

 

 

5

 

Auf einmal ist alles blau gelb, in den Farben der Nationalflagge. Jeder gelbe Bus vor blauem Himmel. Eine blaue Jeans und ein gelbes Oberteil bei der Frau gegenüber. Jeder blaue Müllsack vor gelber Hauswand.

 

Die Katharsis ist so weit entfernt wie noch nie. Der fünfte Akt ist unerreichbar, ihr wisst schon, Dramentheorie. Ich habe immer gedacht, die Geschichte müsste so bald zu ihrem Schluss gelangen. Akt V wie Victory. Dass die Geschichte aufhört. Einfach hier und jetzt.

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