Deniz Utlu

Der unsichtbare Hafen

 

Aus entgegengesetzter Richtung, meine Einfahrt. Eines jeden Menschen Vorfahr stieg einmal aus dem Wasser. Ich komme vom Land her. Das Was-ser ist älter als der erste Mensch. Es kommt vom Himmel her. Was zuerst da war, reiste immer einst von woanders an. Wasser umhüllte die Erde, bevor es irdische Lebewesen gab. Es selbst fiel von den Sternen – als Eis zusammen mit dem Staub. Der Staub klumpte, das Eis schmolz. Dunst umhüllte die sich formende Erde, schirmte sie ab vom Licht eines sterbenden Sterns. Winde kreischten. Das Meer stob. Vulkane. Der Einschlag von Asteroiden. Bis sich der Staub legte, und Farben einzogen. Kolonien weicher grüner    Kugeln: Cyanobakterien. Sauerstoff. Grünalgen. Erstes Leben.

Ist nicht auch die erste Stelle des Landgangs als Naturhafen zu bezeichnen? Dann begann das terrestrische Leben mit einem Ur-Hafen. Lange vor der   altertümlichen Gründung der ersten künstlichen Hafenstädte Sidon und Tyrus durch die Phönizier, für die sich mein Vater interessiert haben musste, hatte ich doch immerhin in einem alten Schrank der Wohnung, die er vor mehr als vierzig Jahren bezogen hatte, in der ich aufgewachsen war und in der noch immer meine Mutter wohnte, einen von der Kestner Gesellschaft herausgegebenen Bildband über Die Phönizier im Zeitalter Homers gefunden. Mein Vater hatte das Buch womöglich auf dem Flohmarkt heruntergehandelt, oder jemand hatte es zum Verschenken auf die Straße gelegt und er hatte nicht daran vorbeigehen können. Vermutlich hat er dabei nicht so sehr an Wasser gedacht, sondern mehr an Stein – an frühe Bildhauerei, deren Abbildung auf der Titelseite nicht nur seine nie ausgelebte, fast vergessene Vorliebe für   Archäologie berührt haben konnte, sondern ihm vielleicht auch hatte warm ums Herz werden lassen, als würde er plötzlich – an der Ecke Kollenrod- und Jakobistraße – vor den mehrere tausend Jahre alten Häusern Mardins stehen, jener Stadt aus Steinen an der mesopotamischen Tiefebene, in der er zur Welt gekommen war. Womöglich hatte mein Vater das Buch gleich in den Schrank im Schlafzimmer gestellt und es dort sofort vergessen und niemals darin gelesen. Also auch nicht erfahren, dass die Phönizier über Geschichten der Seefahrt verfügten, die sie an die Griechen tradiert hatten, bis hin zu Homers Odyssee und weiter zur Dynastie der Abbasiden, in deren von ihnen gegründeter Hauptstadt Bagdad Sindbad der Seefahrer der Legende nach gelebt hatte, den ich als Kind bewunderte und für den auch mein Vater sich leicht begeisterte. Zur Zeit Sindbads gab es den Hamburger Hafen noch nicht, zu dem ich jetzt fahren wollte. Etwa hundert Jahre nach der Gründungszeit Bagdads und zweieinhalbtausend Jahre nach der Inbetriebnahme der ersten der Menschheit bekannten künstlichen Häfen im heutigen Libanon machten sich einige mittelalterliche Kaufleute den Mündungsarm der Bille zur Alster in der Hamburger Altstadt zur Anlegestelle – soviel hatte ich zumindest dazu gelesen, bevor ich an diesem Wintertag mit den Gedanken bei meinem Vater in den Wagen stieg.

Auf den Tag genau neunundfünfzig Jahre, nachdem mein Vater zum ersten Mal Deutschland betreten hat, besuchte ich den Hamburger Hafen, den Ort seiner Ankunft in Deutschland. Von der Reeperbahn folgte ich den Straßen hinunter zu den St. Pauli-Landungsbrücken. Die sandsteinfarbenen Abfertigungshallen aus dem neunzehnten Jahrhundert mit dem hohen, schmalen Uhrturm, den Torbögen und den grünen Kuppeldächern hätten meinen      Vater an jenem Tag womöglich an eine Moschee erinnert. Doch hatte er mit Sicherheit hier nicht angelegt, da er sich, wie es hieß, nicht auf einem Personenschiff aufgehalten hatte. Zudem befand er sich am Rande des Todes, als sein Schiff in den Hamburger Hafen einfuhr, denn er hatte sich eine schwere Tuberkulose eingefangen. Er schwitzte und hustete in jenem Schiff, weit weg von allem, das er kannte. Er dachte vielleicht an seine Mutter, die er in    Mardin zurückgelassen hatte, wie es sie in Trauer stürzen würde, sollte er jetzt sterben. Seine Augen blieben sicher geschlossen, und er lag in der Kajüte, während die anderen Schiffsarbeiter auf dem Deck einem der bedeutendsten Häfen Europas entgegensahen.

Mir blieb nicht viel Zeit an der stark befahrenen Kreuzung, von der aus ich die Torbögen und das Uhrenminarett betrachtete, schon schaltete die Ampel auf Grün und ich musste weiterfahren, jetzt an der Elbe entlang, die diese Stadt mit dem offenen Meer verband. Ich folgte weiter den Schildern, die zur „Hafen City“ führten, die es vor neunundfünfzig Jahren so nicht gegeben hatte und die mit Sicherheit niemand so nannte. Nach einer Brücke über eine schmale Stelle des Flusses, die ich überquerte, fuhr ich bald Parallelen und Würfeln entgegen. In den Parallelen fuhr ich. Die Würfel wuchsen mir rechts und links über den Kopf, und zwischen den Würfeln schimmerte immer wieder das Blau des Wassers. Hier tauchte ein Segelmast mit eingezogenen Segeln, dafür zahlreichen Seilen auf, dort der Schornstein eines Dampfers.    An einigen Stellen öffnete sich die Sicht auf die vier salutierenden Kräne an einem anderen Ufer, die sich nur wenig strecken müssten, um die Wolken zu kratzen. Es war ein Tag im Dezember, unter der Wintersonne fanden das Blau des Wassers und Weiß des Lacks der Schiffe und der Fassaden der Häuser zurück zu ihren Kräften. Die Straßenfluchten verliefen gerade, wie man das aus vielen Städten Amerikas kennt. Hohe Häuser aus Metall und Glas standen in präziser Ordnung nebeneinander, an den verlassenen Bürgersteigen parkten hier keine Autos, auch gab es gar keine Haltemöglichkeiten. Es entstand sofort der Eindruck, dass ein Halten der Vorbeiziehenden gänzlich unerwünscht ist – nur diejenigen sind eingeladen, die zahlen können, für sie führen Einfahrten in private Parkhäuser, alle anderen sollten gar nicht hier sein, auch nicht vorbeiziehen. Von außen betrachtet, war es unmöglich festzustellen, ob diese Luxusgebäude errichtet worden waren, weil hier der Hafen war, oder ob es den Hafen gab für diesen Luxus – was Zweck, was Mittel war, ließ sich nicht mehr unterscheiden.

Nur wenige Häuser mit industriellen roten Backsteinfassaden und das Wasser brachen jene Mauer der Exklusivität ein Stück auf. Und nur in diesen Brüchen erkannte ich einen Hafen – der deshalb gleichzeitig existierte und nicht existierte, den es nur in Fragmenten gab. Für einen Moment schien mir das folgerichtig, denn jeder, der über die Anlegestelle eines Hafens ein neues Leben betritt, wagt eine fragmentierte Zukunft. Während ich weiter zwischen den Würfeln hindurchfuhr, überraschte mich der Gedanke nicht mehr, dass der Futurismus, der den Hafen veredeln sollte, ihn in Wirklichkeit allmählich verschwinden ließ. Vor mehr als hundert Jahren proklamierte der Dichter  Marinetti in seinem Futuristischen Manifest: „Besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden.“ Die vor langer Zeit geforderte Erhebung des  Kapitalismus zum ästhetischen Maßstab schien hier endlich erfüllt worden zu sein. Ob die so lauten Künstler jener Zeit bedacht hatten, dass das, was sie heraufbeschworen, eine Ästhetik des Verschwindens war? Dass sich das Licht der elektrischen Monde in das Wesentliche hineinfraß, bis nur noch ein Knäuel verkohlter Drähte blieb und jede Menge Stein und Glas, hinter denen die immer gleichen Plattitüden gesprochen und die ewig gleichen Suppen in verschiedenen Variationen gepriesen wurden. Ich musste an Brechts Vom armen B.B. denken, jenes erste Gedicht seines ersten Lyrikbandes, den er eine Dekade nach dem futuristischen Manifest veröffentlichte: „Wir sind gesessen ein leichtes Geschlechte / In Häusern, die für unzerstörbare galten / (So haben wir gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan / Und die dünnen Antennen, die das Atlantische Meer unterhalten).“
Zwischen dem Futurismus Marinettis und Brechts innerer Vorbereitung auf die große, erwartete Zerstörung („Bei den Erdbeben, die kommen werden, werde ich hoffentlich / Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit“) liegt der Erste Weltkrieg, dem sich Marinetti – wie viele andere Dichter jener Zeit – begeistert angeschlossen hatte und für den Brecht gerade noch zu jung gewesen war. Und was kam in der Zeit nach den Zerstörungen? „Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind! / Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es. / Wir wissen, daß wir Vorläufige sind / Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes“, heißt es in Brechts Gedicht weiter. All das Wachstum, der Reichtum, die schnelleren Autos, Flugzeuge, höhere Gebäude – der futuristische Traum, der in Erfüllung geht und am Ende Brecht recht behalten lässt: Was bleibt noch außer dem Wind, der durch die Städte hindurchging? Als würden all die Versuche der Expansion am Ende nur eine Ausweitung des Nichts bedeuten. Und der Hamburger Hafen, der doch einer der größten in der Welt ist, schien dies zu bestätigen. Je mehr sie ihn ausbauten, je größer er wurde, desto unsichtbarer war er.   Je tiefer ich in ihn hineinfuhr, desto weniger konnte ich ihn sehen. Für eine Ästhetik gegen das Verschwinden musste ich meine Augen schulen, die Wahrheit lag nur noch in den Zwischenräumen, nur die Fragmente sind heute vielleicht noch eine unauslöschliche Welt. Dort schimmert das Blau des Wassers, jenes Element, mit dem alles begann. Es bleibt also das Wasser nennenswert. Das Wasser und der Wind bleiben. Die Elemente der Zwischenräume haben eine Beständigkeit. Vielleicht erzählen sie vielmehr die Geschichte dessen, was war, was geblieben ist, was bleiben kann.

An einer Baustelle zwischen den mächtigen Würfeln in der letzten Reihe vor dem Wasser stand der Absperrzaun geöffnet, ein Arbeiter rauchte vor der offenen Tür eines Containers und schaute misstrauisch zu mir, der ich auf das Baugelände fuhr. Ich ließ das Seitenfenster herunter und fragte ihn, ob man hier irgendwo parken könne. Er sagte, hier nicht, das ist eine Baustelle. Ich sagte ihm, dass ich das verstanden hätte und nach einer anderen Möglichkeit suchte, außerdem würde ich gerne zu den Kränen dort hinten fahren, könne er mir den Weg beschreiben. Ich wies mit der Hand zu den Kränen, er schaute auf meine Finger. Er sagte, nein, hier führe der Weg nicht entlang, denn dies sei eine Baustelle, sie sei privat. Könnte ich woanders parken, fragte ich. Hier jedenfalls nicht, sagte der Mann. Ich gab auf und wendete.
Im Rückspiegel zog er den aufgeschobenen Zaun wieder heran. Auf dem Weg zu den Kränen, die wie Spinnen in der Landschaft standen, kam ich auf eine Autobahn, auf der ich weiterfuhr, ohne so richtig zu wissen wohin, bis ich ein Holzschild sah, auf dem stand: In fünfzig Metern historischer Hafen. Ich bog dort sofort ein und brachte den Wagen vor Lagerhallen aus Holz zum Stehen. Auf einem Plateau aus Beton war ein Gebäude gebaut mit großen grünen Toren und Oberlichtern, durch die die Holzbalken des Ziegeldaches sichtbar waren. Einige der Tore waren geöffnet und Hafenarbeiter beluden Lastwagen, die mit der Rückseite am Plateau geparkt hatten – der historische Hafen war noch in Betrieb. In einem offenen Tor sah ich, wie sich das Licht durch die gegenüberliegenden, wasserseitigen Oberlichter auf den    unzähligen weißen aufeinandergestapelten Säcken brach und sich an den Holzböden und -balken in einen goldenen Schimmer verwandelte. Sofort machte ich ein Foto und erst hinterher bemerkte ich, dass ich einen Stapler-fahrer fotografiert hatte. Der stieg von seinem Wagen und kam auf mich zugelaufen. Ich entschuldigte mich gleich, sagte, dass ich ihn nicht gesehen hätte. Er blieb auf dem Plateau über mir stehen, ein groß gewachsener, schwarzhaariger Mann, der etwa in meinem Alter sein musste, aber mir viel älter vorkam. Nicht, weil er verbraucht oder erschöpft aussah, im Gegenteil, er wirkte stark und selbstsicher, hatte breite Schultern und einen stählernen Blick, sondern aufgrund der schlichten Tatsache, dass er Hafenarbeiter war und ich nach meinem Vater suchte. Er sagte, ich dürfe hier nicht fotografieren, er hätte jetzt mal nichts gesehen, aber dass sie Ärger für so etwas bekommen würden. Etwas an seiner Art – die Härte? das Herzliche? das „Ich habe jetzt mal nichts gesehen“, was eine türkische Redewendung sein könnte? – verriet mir, dass vielleicht auch seine Eltern einmal aus der Türkei nach Deutschland gekommen waren. Ich entschuldigte mich noch einmal, fragte aber trotzdem, ob ich die Lagerhalle betreten durfte. Nein, nein, nein, sagte er, du darfst gar nichts. Ich lächelte ihm zu und lief weiter am Gebäude entlang. Auf der anderen Seite staken verrostete, graue Kräne in die Luft, die aus der Nähe enorm groß wirkten, aber im Vergleich zu den Metallspinnen, die ich aus der Ferne gesehen hatte, winzig sein mussten. Auf einem Schild stand: Historische Hafenkräne. Dies mussten die Kräne sein, die mein Vater noch kannte, aus der Zeit vor der Erfindung der Container, die den gesamten Frachtbetrieb geändert hatten und für die es viel größerer und kräftigerer  Maschinen bedurfte. Außer mir betrachteten noch zwei Pärchen die grauen Kräne, die hölzernen Schienenbusse und die Hafenbahn. Ein älteres Paar, ausgestattet mit Kameras, in die große Objektive gedreht waren. Und ein jüngeres Paar – die Frau hielt ebenfalls eine Spiegelreflex, und ihr Freund machte Fotos mit seinem Telefon. Zwischen den Fotoaufnahmen lächelten sie einander liebevoll zu – ich fragte mich, ob auch sie nach einem Vater suchten. Die Älteren waren mit sich selbst beschäftigt und lächelten nicht, nur die auffälligen Fotoapparate, mit denen sie ausgestattet waren, ließen vermuten, dass sie zusammengehörten.

Ich spazierte entlang der alten Lagerhallen, die mit großen Ziffern nummeriert waren und „Schuppen“ genannt wurden. Auch an einem „Stückgutfrachter“ kam ich vorbei – ein Frachtschiff aus der Vor-Container-Zeit, mit dem, wie auf einem Schild beschrieben stand, Papierrollen und Schnittholz als „Decklast“ transportiert wurden. Gebaut im Jahr 1958, hätte dies also die Art von Schiff sein können, mit dem mein Vater angekommen war (hier am historischen Hafen?). Im Vergleich zu den Containerfrachtern, die ich auf der Elbe in der Nähe des alten Hauses, in dem ich untergekommen war, beobachtete, wirkte dieser „Stückgutfrachter“ klein auf mich, und ich stellte ihn mir verlorener vor auf offenem Meer, stärker den Wellen ausgesetzt. Auf dem Schild stand auch, dass 1979 ein türkischer Reeder den Frachter kaufte und im Mittelmeer einsetzte. Zu der Zeit wohnte mein Vater bereits in Hannover und sollte im folgenden Sommer meine Mutter kennenlernen. Wann hatte mein Vater mitbekommen, dass Frachten nunmehr größtenteils mit Containern verschifft wurden – gab es einen bestimmten Augenblick? Was war ihm dabei durch den Kopf gegangen? Ob er sich gedacht hatte, dass nichts bleibt, wie es war? Vielleicht hatte er diese Revolutionierung des Schiffsverkehrs gar nicht registriert oder doch, aber überhaupt nicht mehr mit sich selbst in Verbindung gebracht – wie ein Vogel nach seiner Reinkarnation womöglich nicht an den Käfer denkt, der er einmal gewesen war.

Ich lief noch ein Stück an der Kaimauer entlang. Erst als ich auf der anderen Uferseite sah, wie ein großes Frachtschiff beladen wurde, hörte ich auch den Lärm seiner Motoren, ein tiefes Dröhnen, so gleichmäßig und laut, dass man es überhören konnte, wie man auch ein sehr großes Objekt ganz unmittelbar davorstehend nicht erkennen kann: Mit verbundenen Augen vor einer Fähre abgesetzt, ist die Welt eine weiße Wand aus Stahl für denjenigen, der sich den Schleier aus dem Gesicht zieht. Erst aus der Ferne versteht er, der     Betrachter, was aus der Nähe ein Rätsel blieb. Auch mit umfassendem Lärm, der sich ausbreitet über der Stadt wie eine Wolkendecke aus Klang, ist das nicht anders – das Dröhnen der Maschinen ist so allgegenwärtig, dass es nicht mehr als Krach wahrgenommen wird, sondern als ein Element der Stille. Auf dem Deck waren Lastwagen wie kleine Pakete aufeinandergehäuft, unaufhörlich fuhren haushohe Stapelwagen Container über eine Rampe vom Kai in den Magen des Schiffs.

Auf dem Rückweg zum Auto glühte die Sonne für das letzte Licht des Tages auf. In den Oberlichtern der Schuppen, an denen ich wieder vorbeilief, spielte sich zum Abschied ein Schattentheater historischer Balken ab, ein geometrischer Exzess in den Zwischenräumen der Balken, deren Schatten gedehnt, verkürzt, vervielfacht auf das in der Kälte und am Abend wie Pergament wirkende Fensterglas geworfen wurden. Mit jedem Schritt schien die Sonne heftiger zu glühen hinter den Schuppen, und während auf den Plateaus und zwischen den Lastwagen allmählich die anbrechende Nacht aufstieg und aus allem die Farben wichen, explodierte das Licht in den Zwischenräumen der Schatten auf den Oberlichtern aus Pergament in die Farben aufgebissener, saftiger Pfirsiche.

Ich fuhr wieder auf die Autobahn und wollte tiefer in den Hafen vordringen, von dem ich ja nie sagen konnte, ob ich bereits dort war oder nicht. Von einer Brücke aus, auf der ich an einer Ampel wartete, sah ich das Wasser in die Nacht leuchten, als würde es den Mond konservieren. An Stegen und Pontons waren Schiffe festgemacht, Maschinen fuhren vor ihnen auf und ab, und die vielen runden Lichter hingen im Himmel wie grelle elektrische Sterne.
Nach der Brücke bog ich in ein kopfsteinbepflastertes Industriegebiet ab, fuhr vorbei an Bürohäusern, die nicht mehr vergleichbar waren mit dem Prunk auf der anderen Seite der Hafen City – fünfziger Jahre Bauten, deren Fassaden aufplatzten, Lagerhallen, auch hier mit Oberlichtern, aber mit geschwärzten Scheiben, Höfe mit Reihen von fünf oder sechs aufeinandergestapelten Containern. Hinter dem geöffneten Kofferraum eines alten, verbeulten Autos wechselten zwei Arbeiter in schnellen Bewegungen ihre Kleidung. Ich fuhr bis zum Ende der Straße, wo ich von einem Kai aus aufs Wasser und auf Hamburg schauen konnte. Enorme Wasserstraßen führten zwischen den monströsen Gebäuden hindurch. Doch gab es in Richtung St. Pauli auch viele kleinere Häuser, ältere zwischen den neuen, und ein paar Reihen hinter ihnen hob die Michaeliskirche ihre goldenen Uhrzeiger der untergehenden Sonne entgegen. Vielleicht war es das, was mein Vater gesehen hatte. Wenn er nicht die Augen geschlossen hielt und so in die Dunkelheit starrte, von der er wusste, dass sie ihn, der Blut hustete, jeden Moment in sich aufnehmen konnte.

Schließlich war es Nacht und Zeit zurückzukehren. Auf dem Weg in den Norden raus stieß das Land weißen Rauch dem Himmel entgegen. Frachtschiffe parkten in Buchten aus Beton und Stahl, Scheinwerfer fluteten die gigantischen Pontons mit gelbem Licht, das überall dort die Farbe des Feuers bekam, wo es das rote Stahl der mächtigen Maschinen berührte – jene Roboter, die mit einem Stoß ihre Fühler in den Bauch eines Schiffes versenken und es mit Schwung über die Stadt schleudern könnten, sodass es sämtliche Häuser der Hafen City bis zur Reeperbahn mit sich riss, während es Funken sprühend endlich zum Halten kam; aber da flog schon der nächste Frachter und vernichtete ganze Teile des Hafens: Stege, Kais, Pontons. Eine Autobahnbrücke zog über Wasser, Häuser und andere Straßen hinweg weit in den Himmel, und die Autos darauf folgten geordnet den Anweisungen des Verschwindens.

Mein Vater, stelle ich mir vor, ein schmächtiger Junge, stieg aus einem Schiff, er war krank und schwach, er zitterte und trug dennoch einen weißen Sack auf dem Rücken, den er auf andere weiße Säcke im Schuppen warf. Sein Geld hatte er sich auszahlen lassen. Der Kapitän hob die Hand zum  Abschied, und in seinem Gesicht erkannte Vater so etwas wie eine letzte Zuneigung gegenüber einem Menschen, der einem nichts bedeutete, aber mit dem man notgedrungen Zeit verbracht hatte, und der jetzt bald sterben könnte. Auch die Handvoll Männer, mit denen er seine Tage auf der See verbracht hatte und die er jetzt mangels anderer Wörter angesichts seiner großen Erschöpfung „Freunde“ nannte, winkten ihm zu, wünschten ihm das Beste. Dann verließ Vater den Schuppen und erschrak über die plötzliche Nacht auf der anderen Seite. Er stieg die grüne Metallleiter vom Plateau hinab und drehte sich ein letztes Mal um zu einer Welt, mit der er nun nichts mehr zu tun hatte. Er sah das Schattenspiel in rot und gelb leuchtendem Licht in den Oberlichtern des Schuppens, das ihm vorkam wie ein Abschiedsgruß der Sonne, vor deren Farben er nun wochenlang jeden Morgen und jeden Abend auf offenem Meer innegehalten und an den Dunst über der Tiefebene Mardins gedacht hatte. Er fand jetzt die Kraft, seinen Seesack über die Schulter zu werfen und sich auf die Suche nach einem Bahnhof oder Krankenhaus zu machen, jene Orte, an denen das neue Leben beginnt.

 

Ein Programm der Crespo Foundation Logo Crespo Foundation