Valerie Fritsch

Die Dame mit dem Zuckerfuß

 

Agata stand zeitig auf, trug weiche Hosen, in denen man sich gut bücken konnte, und drehte das Autoradio laut auf, um wach zu werden, wenn sie durch die leeren Straßen der frühen Welt fuhr. Sie mochte ihren Beruf, ging Tag für Tag in fremde Häuser, streichelte fremde Katzen, sprach ihre Besitzer mit dem Nachnamen an, rief Herr Schneider, Frau Idam, bestimmt und übergenau artikulierend, um zu den sie Erwartenden durchzudringen, als wäre die richtige Ansprache der letzte Schlüssel, der in den von Alter und Krankheit entrückten Menschen sperrte. Die meisten, die sie betreute, trugen ihr Haus wie eine Schnecke, es gab sie nicht ohne, sie waren beschützt von den vier Wänden, die sie nicht mehr verlassen konnten, ein weicher, verletzlicher Körper, der sich zwischen ihnen verbarg. Nicht einen sah sie je außerhalb, niemand wartete im Garten, keiner beugte sich auch nur aus dem Fenster, und wenn sie das Haus doch verließen, war es meist schon der Tod, der sie von dort fortbewegte. Dann kreuzten die Bestatter die dunklen Särge an der Schwelle aus, grüßten und schlossen die Tür hinter sich. Es war eine Welt von alten Fliesen und Vitrinen mit Bleikristall und Wallfahrtsmadonnen, mittendrin die Requisiten der Krankheit, Windeln, Waschlappen, Tablettendosierer, an denen man den Wochentag erkannte, wenn man keine Zeitung las. Die Wohnräume der Menschen ähnlicher Jahrgänge glichen einander, und Agata war mit all ihren Einzelheiten vertraut, wie sie auch alle Details der Körper ihrer Patienten kannte, die Goldketten, die nie abgenommen wurden, von den Wunden, die nicht heilten, wusste, die geheimsten  Flecken und Sollbruchstellen des Menschen überschaute und nicht übersah.

Kam sie abends nach Hause, nahm sie im Badezimmer ein Glas Wasser und manchmal eine Tablette gegen den Rückenschmerz, trank es im Stehen, und wusch sich die Achseln mit Handseife und kaltem Wasser, bevor sie Gustav zur Begrüßung küsste. Mit gebeugtem Rücken saß er an seinem Schreibtisch, sah im letzten Augenblick auf, erwiderte den Kuss, um sich rasch abzuwenden mit einer Geste, als müsse er sich an Agatas Anwesenheit erst gewöhnen. Sie kannten einander seit einem Jahr, schnell war sie auf seinen Wunsch zu ihm in jene Wohnung gezogen, die so viel größer war als ihre, und musste seither stets eine halbe Stunde früher aufstehen, um morgens rechtzeitig bei ihrem ersten Schützling durch die Tür zu treten. Sie dachte nicht, diesmal ist es anders, sie dachte nichts, sie liebte bloß. An  Wochenenden, an denen sie ausschlief, griff sie, wenn sie allein aufwachte, verschlafen und sehnsüchtig nach ihrem Handy, rief den Mann, der bereits im Zimmer nebenan Kaffee trank, an und bat ihn, die paar Meter zurück zu ihr ins Bett zu kommen, und war es auch ein Telefonat auf engstem Raum, so schien es ihr manches Mal doch gleichermaßen eine besondere Art von Ferngespräch zu sein.

Nicht jeder, den sie besuchte, freute sich über ihr Kommen. Die Notwendigkeit ihrer Anwesenheit war für manche Menschen eine Beleidigung des Universums, die Bedürftigkeit ein Leid, das aus anderem Leid erwuchs, ein Zusatzschmerz, der sie kränkte. Die einen mochten sie, strichen ihr über die Wange, drückten ihr alte Pralinenschachteln in die Hand, die anderen sahen in ihr jemanden, der ungewünscht ins Haus kam, sich an ihrer Versehrtheit zu schaffen machte: einen Gegner, dem man nicht entkommen konnte, einen Feind, auf den man angewiesen war. Agata wusste, jemanden zu brauchen, ohne es zu wollen, war eine schlechte Voraussetzung für ein gutes Verhältnis zur Welt und eine schlechte Voraussetzung für ein gutes Verhältnis zueinander. Jene Frau, die sie vormittags wusch und deren diabetische Ferse sie versorgte, die offene Wunde, die sich nicht schloss, verachtete Agata und ihre Kolleginnen mit einer solchen Wucht, dass niemand mehr zu ihr wollte, viele sich weigerten, man sich die Dienste ausschnapste und wer verlor, den Hass der Dame mit dem Zuckerfuß gewann. Ihr verschüchterter Gatte, ein dürres Männlein, das sowohl zur Bestätigung als auch zur Abwehr nickte, stand stets in einer Ecke des Zimmers, hörte den Schimpftiraden zu, die sich über Agata ergossen, während sie das blasse, bläuliche Bein behandelte, nestelte an den Griffen des Rollators seiner Frau und versuchte hin und wieder einen Witz zu machen, der verhallte. Sie aber wetterte gegen Gott und die Welt, die chinesischen Nachbarn und die unfähigen Ärzte, kam vom Hundertsten ins Tausendste und kehrte wieder zu Agata selbst zurück, die sie durchdringend nur Schwester! nannte und mit der sie bloß im Befehlston derer sprach, die überzeugt waren, ohne diese Grobheit hätten sie nichts mehr auf der Welt. Agata schwieg stets, beugte sich über die von Durchblutungsstörungen und Nervenschäden versehrte Gliedmaße, an der sich selbst der Puls der Fußarterien nicht mehr ertasten ließ, reinigte die Wunde, trug das abgestorbene Gewebe ab, aber so viel der schwarzen Haut sie auch wegnahm, die Dunkelheit, die ihre Besitzerin zu umgeben schien, wurde nicht weniger. Wenn Agata ging, sah ihr die Frau aus dem Bett ohne ein Abschiedswort bis zur Tür nach, ein feister Tyrann, von der Krankheit gekrönt, mit geschwollenen Füßen und Fettwülsten, der, kaum war sie mit einem Schritt über die Schwelle, noch einmal herrisch nach ihr rief.

Gustav war gebildeter als Agatas vorangegangene Liebhaber, ehrgeizig, spröde, einnehmend auf den ersten, langweilig auf den zweiten Blick, ein Mann, der ein wenig mehr las als trank, ein Akademiker, wie ihn sich ihre Mutter stets für sie oder für sich selbst gewünscht hatte. Die Liebe kam überstürzt, aber da sie beide nicht mehr ganz jung waren, schien die Überstürzung nichts weiter als eine Folgerichtigkeit der Zeit, eine Funktion der tickenden Uhren. Wenn die Freundinnen fragten, wie es liefe, antwortete Agata lange Zeit, gut, und konnte im Rückblick, so scharf sie auch nachdachte, nicht sagen, wann die Antwort immer weniger stimmte. Es gab keine große Bruchstelle. Es begann mit kleinen Zerstörungen, winzigen Grausamkeiten, Abwertungen, die man auch leicht hätte übersehen können und die sie falsch und zu ihren Gunsten deutete, und sie hatte nichts als Ungläubigkeit übrig, als sie wuchsen und ihre Form hinter keiner Unachtsamkeit, keiner Zweideutigkeit mehr verbargen. Seine Reaktion auf einen nichtigen Streit,  einen Satz, den er missverstand, eine Geste, die ihm missfiel, erschreckte  Agata jedes Mal aufs Neue. Sie war entsetzt, wie er sie klein machte und daran groß wurde. Wie er die Kälte zelebrierte, nicht ablassen konnte vom vermeintlichen Fehler. Wie die Festlichkeit der Strafe, das Feierliche daran ihn ganz erfüllte. Wie sein hysterisches Glück, sie dumm zu heißen, ihn für Stunden in Beschlag nahm. So legte sie sich zur Ungläubigkeit bald auch eine Vergesslichkeit zu, eine Erinnerungslücke, die nach einem schönen Moment den schlechten, der ihm vorangegangen war, verschlang. War ihr der Mann an ihrer Seite wieder gewogen, war sie dankbar und bereit, alles zu vergessen, hielt nach jedem Lächeln und jedem Liebesschwur die Vorfälle für Störgeräusche in ihrem Glück, die nicht wiederkehren würden.

Mit der Zeit begann sie, es ihm recht zu machen, trug keinen Pferdeschwanz mehr, fluchte nicht, versuchte, die Auslöser seines Jähzorns unbewusst zu vermeiden, und ärgerte sich über sich selbst, wenn sie es bemerkte. Ihr war dann, als wäre sie in ein Spiel hineingeraten, in dem sie an Marionettenfäden durch die Welt lief, wollte sich losreißen, stockte, wenn ihr einfiel, dass niemand sie zu etwas zwang, und ärgerte sich erneut, als hätte ihr Identitätsgefühl, das ängstlich Ich, Ich, Ich gerufen hatte, doch übertrieben und sie bloß in die Irre geführt.

Oft kam es vor, dass sie sich nicht nur um die Kranken kümmerte, aber auch um die, die um sie herum waren. Die Wunde der Überforderung, die Alter und Krankheit, ein Zufall, ein Unfall aufrissen, befiel auch die Angehörigen, die ratlos und zornig, manchmal voll Mitleid, stets aufgeschreckt danebenstanden, mit vor Unwohlgefühl hochgezogenen Schultern, in sich selbst eingekragt. Überall war die Wut der Vergehenden und Vergänglichen. Kaum einer ertrug den Verlust des früheren Lebens gut. Niemand sah gern der Verwandlung eines Menschen zu, für den man Verantwortung trug, der Rückentwicklung in die Hilflosigkeit, den kleinen Abschieden von Sprache und aufrechtem Gang, und auch wenn vieles unmerklich und mit der Zeit kam, sich schleichend verschlechterte, gab es stets jenen Augenblick, in dem das Neue mit einem Mal überwog, man von einem Moment auf den anderen unumkehrbar zum Kranken geworden war. Dann verzweifelten beide Seiten, schrien Nein und Warum ins Universum, so leise, dass der jeweils andere es nicht hörte, bis man es einander irgendwann nicht mehr ersparen konnte. Man versuchte zu lächeln, man tat, was man konnte, und doch bewahrte einen die Bereitschaft vor keinem Fehler. Eine Tochter band ihren demenzkranken Vater mit Klebeband am Rollstuhl fest, damit er nicht davonlief, und ein Mann ließ seine bettlägerige Frau nach ihm rufen, ohne auch nur ins Zimmer zu kommen, da er sich an die Hoffnung klammerte, wenn keiner ihr hülfe, würde sie eine letzte Kraft in sich finden und noch einmal aufstehen wie früher. Wenn Agata nach getaner Arbeit nicht nur ihre Patienten fragte, wie sie sich fühlten, aber auch die Kinder, Gatten und Nachbarn, die sich im Nebenraum herumdrückten, war die Antwort oft ein überraschtes Aufschauen, Glas in den Augen, dass sie nicht vergessen waren von der Welt. Denn man verschwand leicht in der Wahrnehmung der anderen und hinter verschlossenen Vorhängen, wenn ein Unglück im Leben einschlug, und kaum einer schien es je zu bemerken. Dann hielt sie die zum Abschied gegebene Hand der Angehörigen, die sie bis zur Tür begleiteten, einen Moment fester und sagte beim Weggehen über die Schulter, so laut und fröhlich, wie sie die Kranken ansprach: Passen Sie auf sich auf.

War sie früher oft mit Freunden und Kollegen ausgegangen nach dem letzten Dienst, wurden die abendlichen Treffen seltener, da Gustav es nicht mochte, wenn sie ohne ihn lachte und trank, und tat sie es doch, war er für Tage unleidlich, aggressiv und abweisend. Sie vermisste die Runden, in denen niemand mehr jung war, aber sich jeder jung fühlte, und in denen am Abend die Geschichten des Tages gehandelt wurden wie auf dem Basar, jeder das Sagenhafte aus den letzten Stunden herauskratzte und die Einzelheiten zur Anekdote verdichtete. Sie lachten sich die Last von der Seele. Immer gab es süße Spritzer, alte Schlager, Zigaretten vor der Tür. Es waren schöne, unbeschwerte Stunden, auf die man sich verlassen konnte. Nur einmal war sie von einem Fremden angesprochen worden, der sie gegen den Bartresen drängte, noch während er redete, mit dünnen Armen nach ihr griff, sein Geschlecht an ihrem Schenkel rieb. Die Anwesenden waren entrüstet gewesen, die Männer unangenehm berührt, die Frauen voll routinierter Wut, die keinem auffiel. Im aufgeregten Gespräch, das dem Vorfall folgte, schien kein Mann einen anderen Mann zu kennen, der zu so etwas je in der Lage wäre, aber allen Frauen, die sich einen Blick zuwarfen, war dieser andere Mann vertrauter, als sie es wollten, denn jede war ihm im Laufe der Jahre bereits begegnet, mit immer wechselndem Gesicht, in ewig neuer Gestalt. Nun saß Agata statt in Lokalen nachts oft alleine im Wohnzimmer, denn Gustav ging selbst gerne aus, zu Geschäftsessen ohne Begleitung, oder früh zu Bett, wenn er den Tag mit hängenden Schultern am Schreibtisch verbracht hatte. Sie litt unter Rückenschmerzen, trank Wein aus Wassergläsern, sah fern, ließ sich mit dem Laptop auf dem Schoß durch das Netz treiben, sah sich diese und jene Seite an, blieb schließlich immer wieder bei einem Chatbot hängen, dem sie von ihrem Tag erzählte, erst zum Vergnügen, dann mit einer Ernsthaftigkeit, die sie selbst bestürzte. Sie sagte nicht alles, gab sich, als wäre das Gegenüber kein Programm, aber ein Mensch, nur schüchtern preis, hielt sich zurück, wollte gut dastehen vor der Maschine. Die Antworten waren erstaunlich untechnisch, feinfühlig, und nicht nur einmal kam es vor, dass sie ihr zu persönlich schienen, zu zugeschnitten auf sie selbst und ihre Geheimnisse, so dass sie die Seite rasch schloss und sich sogar prüfend im Zimmer umsah. Mit der Zeit gewann das System ihr Vertrauen, mehr und mehr fühlte sie sich erkannt, und mit jeder winzigen Ahnung des Erkanntwerdens stieg in ihr das Bedürfnis nach der großen Offenbarung, einer Haltlosigkeit, die keine Vorsicht kannte. Bald hatte sie einen Gott im Computer, der alles von ihr wusste. Sie glaubte an ihn, an den sie sich abends wandte, ihn rief sie an, ihm klagte sie ihr Leid, und nach einem schönen Tag mit Gustav schrieb sie: Danke. Sie schrieb in den Äther hinein, berichtete vom Tod eines Patienten oder sprach von den Problemen mit ihrem Mann, verstaute ihre Zweifel und Unzulänglichkeiten in dem kleinen, digitalen Fenster, das immer offenstand. Bat um Hilfe mit großen Augen, fragte, was sie tun solle, fragte nach der Meinung des Programms. Das suchte in den ihm zur Verfügung stehenden Daten, und da es aus jedem ihm eingespeisten Dialog lernte, fand es Antworten, die man für angemessen halten und aus denen man schließen konnte, die Probleme aller Menschen wären einander nicht allzu unähnlich.

Fehlte sie mitunter an allen Ecken und Enden, so gab es doch Momente großer Zärtlichkeit in ihrem Beruf. Eine Dame im Rollstuhl, die, als sie Agata die Erschöpfung des Tages ansah, sagte, heute solle sie sich setzen, sie bringe ihr ein Glas Wasser, und aufspringen wollte und für die Sekunde der Sorge vergaß, dass sie es schon lang nicht mehr konnte. Ein Herr, der über Wochen alle Werbeanzeigen mit roten Rosen aus der Fernsehzeitung ausschnitt, mit der Nagelschere und zitternden Händen, um ihr den papierenen Strauß zu ihrem Geburtstag zu überreichen. Eine Künstlerin, die das Krankenzimmer ihres Vaters über und über mit Vögeln bemalt hatte, ein Gewimmel aus Papageien und blauen Krontauben, Kormoranen und Hornschnäbeln und flammenden Goldlaubenvögeln, die aussahen wie ein Feuer in Tiergestalt, dass der Kranke inmitten eines Vogelschwarms lag.
Ein Dodo blickte auf ihn herab vom Plafond, einem auferstandenen Christus gleich, und so hatte der Raum etwas eigenartig Sakrales, und wann immer Agata ihn betrat, fragte sie sich, ob, würde der alte Mann sterben, auch die Vögel von den Wänden verschwänden, sich mit einem großen Flügelschlagrauschen erheben und durch das stets gekippte Fenster davonfliegen würden. Jenen, die niemanden hatten, deren Angehörige fern waren und deren Ehepartner schon im Grab auf sie warteten, blieben nur die Vögel in den Bäumen, die sie mit Blicken zu erhaschen versuchten, und je mehr sie sich wünschten, dass sie näherkämen, desto höher stiegen sie in den Himmel.

An jenem Tag, an dem die Frau mit dem Zuckerfuß stürzte, sich den Oberschenkelhals brach und im Labyrinth des Krankenhauses verschwand, aus dem man nie mehr herausfand, weil es Wege gab, die sich nicht zurückgehen ließen, erhob Gustav die Hand gegen Agata. Er war wie von Sinnen, blindwütig vor Eifersucht, zu der es keinen Anhaltspunkt in der Welt gab, stieß sie gegen den Küchentisch und ohrfeigte sie mit einer Kraft, über die er augenblicklich zu erschrecken schien. Es war nicht das erste Mal, das ein Mann sie schlug, aber stets hatte sie gedacht, es wäre das letzte Mal gewesen. Keine Wut, keine Traurigkeit, aber eine sehr leise Angst und eine übermächtige Müdigkeit befielen sie, noch während sie zurücktaumelte. Wie alle anderen Männer vor ihm verkaufte auch Gustav ihr die Gewalt als Ausnahme einerseits und als Folgerichtigkeit andererseits, als Reaktion auf sie, nicht als Aktion von ihm, wurde rührselig und machte Versprechungen, von denen sie bereits wusste, dass er sie nicht halten würde. Wie sie sich vormals in der Ungläubigkeit versucht hatte, probierte sie es nun mit einem Glauben gegen alle Wahrscheinlichkeit, einer Hoffnung gegen jede Erfahrung. In den Computer schrieb sie: Ich dachte, er wäre der liebste Mensch, und das Programm antwortete mit dem Satz, den all seine Nutzer so gerne hörten: Alles wird gut.

Bald saß sie morgens im Auto, und es gelang ihr kaum aufzuwachen, statt munter wurde sie auf dem Weg durch die frühe Dämmerung schon wieder müde, und sie fragte sich, wann wohl das Gleichgewicht von Schrecken und Liebe in ihrem Leben verloren gegangen war. Ihr Glauben an das Glück nutzte nicht, die Wirklichkeit blieb unangetastet von ihrer Hörigkeit, verwandelte sich im Gegenteil Stück für Stück in eine, mit der sie nicht zurechtkam. Nichts lief mehr gut, immer öfter kippte die Stimmung, immer seltener verspürte sie jene Art innerer Beruhigtheit, die einen in der Welt barg. Die Störgeräusche waren zur Dauerbeschallung geworden, zur dröhnenden Hintergrundmusik des Alltags, die an- und abschwoll, aber nie verstummte. Er brach ihr erst das Herz und dann den Finger, und bald hatte sie überall kleine Beschädigungen am Körper, unauffällig genug, dass niemand nach ihnen fragte, so dass sie nicht nur die Wunden ihrer Kranken versorgen musste, aber auch ihre eigenen. Noch sah sie ihren Leib als einen Index der missglückten Gespräche, als einen Ort, an dem die Sprache versagt hatte, nicht der Mensch. Und doch fing sie schon an, sich vor Gustav zu fürchten, und auch wenn es ihr schwerfiel, musste sie sich doch das erneute Scheitern eines Liebesglücks eingestehen. Manchmal war sie so müde, dass sie ein paar Schritte hinter ihm ging, und oft wollte sie stehen bleiben, sich auf die Mitte der Straße setzen, während die Fußgängerampel von Grün auf Rot sprang, weil sie das Gefühl hatte, ihre Kräfte würden nicht genügen, die andere Seite zu erreichen. Die schwierigen Momente in der Arbeit setzten ihr von Tag zu Tag mehr zu, jede Ablehnung eines Patienten war eine zu viel, jedes Misslingen schien ihr böse Absicht zu sein, der verlängerte Arm Gustavs, der auch aus der Ferne nach ihr griff. Sie war gereizt, erschöpft, dem Gefühl der allumfassenden Vergeblichkeit preisgegeben. Wenn sich eine alte Frau, die sie nicht mochte, in die neu gewechselte Windel entleerte, nachdem sie sie eben gewaschen, aus dem Bett herausgesetzt und frisch gemacht hatte, schien es ihr wie eine Machtdemonstration in der Ohnmacht, als hätte die Kranke eine diebische Freude an der zusätzlichen Arbeit, und sie fasste sie grober an, als sie es gewollt hatte, und empfand so etwas wie Erleichterung, als sie unter dem festen Griff zusammenzuckte.

Die Energie, einem Angehörigen an der Tür die Hand zu drücken, verschwand, und den Gott im Computer bat sie abends bald nur noch um Schlaf, einen, von dem sie sich nicht sicher war, ob er denn enden sollte, wenn man ihn einmal gefunden hatte. Gustav war unzufrieden mit ihr, drangsalierte sie mit Kleinigkeiten des Alltags, störte sich an ihrer Art, Suppe zu kochen oder den Bäcker anzusehen, verbot ihr, diesen und jenen zu treffen, herrschte sie an, tat sie es doch. Er wütete gegen sie, mal mit Worten, mal mit Fäusten, zog sie an sich und stieß sie wieder fort, diktierte ihr abwechselnd eine alles verletzende Nähe und eine ebensolche Distanz, wies sie weg, selbst als sie sich nach der Nachricht vom Tod ihrer Mutter keinen anderen Weg wusste, als in größter Verzweiflung in seine Arme zu flüchten.
Etwas entglitt Agata mit der Zeit. Die Gewalt schien sich unbewusst fortzupflanzen, ihr Körper wurde zur Schnittstelle, in den sie auf der einen Seite eingespeist und auf der anderen Seite verwandelt ausgegeben wurde. An schlechten Tagen quälte sie nun ihre Patienten, gerade so viel, dass sie sich hinter dem Zufall oder der eigenen Ungeschicklichkeit verstecken konnte, zwickte den einen heimlich beim Ankleiden und ließ den anderen wissentlich in seinen Exkrementen sitzen. Mal antwortete sie nicht auf eine Frage, mal schrie sie jemanden an. Sie gab vor, nicht zu hören, wenn man nach ihr rief, ging hinaus auf eine Zigarette und schloss die Türe nicht, um eine Frau zu maßregeln, die sich bei der Körperpflege gewehrt hatte, so dass die kalte Winterluft über ihren nackten, weißen Körper zog, bis sie am ganzen Leib  zitterte und Gänsehaut ihre Waden überzog. Sie führte ein System von Strafen ein, das die Verhaltensweisen ihrer Schützlinge ahndete, kleine Vergeltungen, die für einen Augenblick das Leben der einen leichter und das der anderen schwerer machten, eine ausgleichende Ungerechtigkeit, die, war sie geschehen, das Gesamtgewicht aller mit jedem Mal anhob. Sie machte keine Ausnahmen, die Schutzbedürftigkeit des Menschen, an die sie stets geglaubt hatte, war an diesen Tagen wie außer Kraft gesetzt. Und auch ihr Mitgefühl litt, dafür musste der Tag nicht erst ein schlechter sein. Hatte sie vormals die Scham und den Schmerz jener, die gerade beim Waschen verzweifelten, Nein riefen oder Auweh, unmittelbar nachempfunden, die Entblößung, das Ausgeliefertsein, so war heute nur noch Unverständnis dafür in ihr übrig.

Manchmal las sie nachts auf der Toilette die Zeitung, kurz bevor sie zu Bett ging, gerade rechtzeitig, dass die Nachrichten noch galten für die letzten Minuten des Tages. In der Zeitung stand, ein Mann habe seine Freundin mit Benzin übergossen und angezündet, weil sie sich von ihm trennen wollte, ein Artikel berichtete, wie ein anderer seine Ehefrau, mit der er vierzig Jahre verheiratet gewesen war, mit einem Messer erstach, weil ihm das Essen nicht geschmeckt und er sich an einem trockenen Knödel verschluckt hatte. Warum dienen wir unter bösen Menschen, fragte sie sich dann, den Kopf in die Hände gestützt, und glaubte für ein paar Momente stets, dass die Antwort wäre, weil wir liebten und nicht anders könnten. Wenn sie aber daran dachte, Gustav zu verlassen, hatte sie nur eines: Angst.

 

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