Joshua Groß

Männer mit Waffen

 

Wenn ich umherschaue, wenn ich im Wahn des Feeds halluziniere, drängt sich meinem Gehirn André Breton auf. Angeekelt vom Weltgeschehen frage ich mich, welches Aufbegehren nicht alsbald im Malstrom der Diskurslogiken entschwindet. Es gibt die psychedelische Willkür des Internets, es gibt die eng gefassten Reiz-Reaktions-Mechanismen im menschlichen Miteinander – aber wie ist es möglich, künstlerisch eine Wirkmacht zu beanspruchen, die sich dem Konsens nicht unterwirft, sondern ihn angreift; eine Wirkmacht, die trotz Inkorporierung gegenwärtiger Gewaltzusammenhänge neue Sehnsüchte produziert?

 

Mein Ausgangspunkt ist eine Aussage von André Breton, die sich in seinem Zweiten Manifest des Surrealismus befindet: „Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen – der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe.“ In einer zugehörigen Fußnote betont Breton, dass er diese Handlung eben aufgrund ihrer Einfachheit aber nicht empfehlen wolle. Im Haupttext heißt es weiter: „Die Berechtigung zu einer solchen Handlung ist meines Erachtens keineswegs unvereinbar mit dem Glauben an jenen Glanz, den der Surrealismus in unserem tiefsten Innern zu entdecken sucht. Ich habe hier nur der menschlichen Verzweiflung Raum schaffen wollen, denn diesseits von ihr vermag nichts diesen Glauben zu rechtfertigen ...“

Es gibt also, laut Breton, einen Double Bind aus Glanz und Verzweiflung.

Was daran anschließt, ist die Aussage von Rolf Dieter Brinkmann bei einer Veranstaltung der Berliner Akademie der Künste im Jahr 1968, als er in Richtung der Kritiker sagte: „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt niederschießen.“ Er rekurrierte dabei offensichtlich auf Breton.

Was irgendwie auch dazu passt, ist Haiytis Song Uzi aus dem Jahr 2019, in dem sie rappt: „Kein Sponsor von Fiorucci/ Doch komm' in deine Boutique/ Scheiß mal auf dein Souvenir/ Hab' die Scheine in der Blue Jeans/ Wenn nicht mit Rap, dann mit der Uzi ...“ Haiyti wiederum rekurriert dabei auf den Refrain von Haftbefehls Dann mit der Pumpgun: „Goethestraße, Louis Vuitton Store/ Zahl die Kollektion bar, fick auf Sponsor/ Ich hol mir das Para, her damit komm schon/ Wenn nicht mit Rap, dann mit der Pumpgun ...“

 

In einem Gesellschaftssystem, das erstarrt ist, würden wir selbst dazu neigen, Erstarrtes zu betrachten, sagte Wilhelm Reich. Das möchte ich nicht fortführen.

 

Aber zurück zu Breton. Ich empfinde Unbehagen, wenn ich an die von ihm vorgeschlagene Verzweiflungstat denke, an diese surrealistische Ermächtigungsfantasie. Dabei erscheinen mir nämlich eindringlich und unausweichlich die Eindrücke von rechtsradikalen und rassistisch motivierten Terroranschlägen, zu denen es in Deutschland in den letzten Jahren immer öfter gekommen ist. Gleichzeitig weiß ich, dass diese Terroranschläge eben nicht blindlings ausgeführt werden, wie es bei Breton heißt. Dieser Unterschied ist wichtig. Trotzdem gibt es für mich eine Überlappung, die sich seltsam anfühlt. Ich kann diese plumpe Vorstellung surrealistischen Aufbegehrens nicht befreit vom aktuellen Kontext denken, so sehr mich das Aufbegehren als solches interessiert.

Auch Attentäter berufen sich auf Erniedrigung und Verdummung. Auch diese Überlappung mag ein Double Bind sein. Allerdings kann ich verstehen, dass man sich in der eigenen Wut oder im Angesicht von Entsetzlichkeiten wünscht, gewalttätig zu werden. Sogar meine Oma gestand mir am Telefon, dass sie sich bei Donald Trump manchmal danach sehne, „ihn einfach zu erschießen“. Ich weiß nicht, was ich damit meine: sogar meine Oma. Hier könnte die Aussage Bretons so ausgelegt werden, dass der Wunsch meiner Oma nur ihre Empfindsamkeit aufzeige, im Sinne davon, dass sie überhaupt noch dazu fähig ist, hinsichtlich der erdrückenden Weltlage aufrührerische Gefühle zu haben; abgesehen davon bin ich froh, dass sie noch nicht komplett wegsediert wurde. Wenn man in Strukturen lebt, die sich marode anfühlen, innerhalb kapitalistischer Strukturen also, dann kann die Verzweiflung surrealistische Auswüchse annehmen, weil man nicht weiß, wogegen man überhaupt ankämpfen soll; das Leben fühlt sich belanglos und übertrieben an, bedroht und verlogen. Das Wissen um die Kaputtheit unserer Vorstellungen immer wieder abzuschütteln, ist schwer; es ist, als würde man sich vorsätzlich vor der kollektiven Psychose verneigen, obwohl man sich eigentlich verweigern müsste. Und so willigen wir meistens ein, implizit, dass es okay ist, wenn sich die Verhältnisse nicht ändern, weil es weniger mühsam ist oder weniger Fantasie bedarf. Aber ich finde es nicht fantasievoll, blindlings in die Menge zu schießen; es verweist eher auf eine Abgestumpftheit, die sich als Aufbegehren tarnt.

 

Es mag sich wirkmächtig anfühlen, eine Pistole in der Hand zu halten. Ich selbst kenne eigentlich nur Spritzpistolen und Luftdruckgewehre. Meine Mutter verabscheut Waffen und ich durfte nie welche haben; also ich meine Spielzeugwaffen, keine echten. Mit einer Ausnahme allerdings: Einmal habe ich mit meinem vermeintlichen Opa das Gewehr von Winnetou aus Holz nachgebaut. Ich habe es geliebt. Es war schwarz und braun bemalt und rhythmisch mit goldenen Reisnägeln benietet. Ich habe keine Ahnung, warum meine Mutter zuließ, dass ich damit spielte. Ich rannte oft alleine durch den Wald zwischen Altdorf und Hagenhausen, ausgerüstet mit meinem Schweizer Taschenmesser und dem Gewehr. Ich steigerte mich in übertrieben ausgeschmückte Konflikte hinein, schlich umher, verschanzte mich hinter Baumstämmen und versuchte lautlos zu laufen; es war nicht leicht bei dem ganzen ausgedorrten Kleinholz im Hochsommer. Kann sein, dass ich mit meiner Silberbüchse imaginäre Schüsse abgab, wobei ich aber, jenseits meiner Imagination, immer wachsam blieb, was das etwaige Auftauchen eines tollwütigen Fuchses anging: Davor hatte ich nämlich am meisten Angst.

Ich weiß noch, dass ich Winnetou-Filme, sofern sie mir nicht zu spannend waren, an verregneten Nachmittagen bei meinen Großeltern gesehen habe; zuerst Der Schatz im Silbersee. Ich war fasziniert von Pierre Brice, vor allem von seinen glatten Wangen. Ich war vielleicht acht Jahre alt und habe sehr viel über diese glatten, glänzenden Wangen nachgedacht – wenn ich im Bett lag oder im Schulbus hockte oder alleine durch den Wald streunte. Ich fragte meine Mutter, ob Indianer keinen Bartwuchs hätten. Lachend wollte sie wissen, wie ich darauf kommen würde. Ich sagte, dass Winnetou immer glatte Wangen habe. Ich glaube, meine Mutter fand mich sehr süß in diesem Moment; sie versuchte mir zu erklären, dass es möglich sei, sich vor den Filmaufnahmen zu rasieren. Ich konnte nicht daran glauben, das war mir zu dekonstruktivistisch. Fast könnte man meinen, dieser Unglaube sei noch immer in meinem Körper verblieben, weil mir selbst nie ein richtiger Bart gewachsen ist; nur sehr spärlich erheben sich ein paar vereinzelte Haare aus meinem Gesicht. Halbseidene Pierre Brice Vibes.

Da ist dieses spezifisch männliche Elend in mir, das sich auf bestimmte Weise nicht unterscheidet von dem grundlegenden Gefühl der Verlogenheit, das ich schon beschrieben habe; es ist ein weiteres Symptom. Das wird auch bei bell hooks thematisiert und ich erkenne mich oft wieder, obwohl meine Mutter wirklich versucht hat, mich sanft zu erziehen; aber es gibt andere Kontroll-instanzen, die subtil und grausam ins Heranwachsen eingreifen. Beispielsweise bezieht sich bell hooks auf den Psychologen Terrence Real und dessen Konzept der natürlichen Traumatisierung von Jungs. Sein Sohn spielte gerne mit Barbies, bis er von älteren Kindern eines Tages dabei beobachtet wurde; sofort züchtigten sie ihn mit schockierten Blicken, die ihm unweigerlich zu verstehen gaben, wie inakzeptabel und falsch sei, was er tat. Auf diese Weise tradieren sich Verhaltensvorstellungen, die ein männliches Ideal von unemotionaler, verschlossener Hartgesottenheit einfordern, spannenderweise unausgesprochen: „Der eine wie der andere muss bei seinem Kontakt mit der Gewalt unweigerlich erfahren, dass sie alle, die mit ihr in Berührung kommen, entweder stumm oder taub macht“, schreibt Simone Weil. Im Schweigen fällt nie auf, wie gestört unsere Annahmen sind. Stattdessen kommt es in vielen Fällen zu Abkapselung und Entrückung. Und die einzige Gefühlsäußerung, die sich aus dem Elend heraus artikuliert und der Wert beigemessen wird, ist Zorn. „Real men get mad“, wie es bell hooks formuliert.

Hallo André Breton.

Männer seien durchwegs am Wegperformen ihrer Emotionen; sie seien gewalttätig, weil sie andauernd tief in sich ahnen würden, wie limitiert und voraussehbar ihr Verhalten sei. Junge Männer, schreibt bell hooks, würden zu Killern erzogen werden, auch wenn sie lernen, ihre Tötungslust zu verbergen.

Ich selbst schlich durch den Wald und ermordete vorgestellte, mir feindlich gesinnte Cowboys ohne Gewissensbisse.

 

Beim Sommerurlaub in Südfrankreich sagte ein Junge zu mir, er wolle probieren, einen Eichelhäher mit einem Stein zu töten. Wir befanden uns auf einem Campingplatz am Ufer des Gardon. Der Eichelhäher saß gut sichtbar auf dem Ast einer Pinie. Ich dachte, der Junge könne niemals so weit werfen. Er schmiss und traf den Eichelhäher beim ersten Versuch; reglos kippte der Vogel vom Baum. Ich verfiel in Panik. Stundenlang standen wir um den Eichelhäher, der tot schien, herum und hassten uns selbst. Plötzlich zuckte der Eichelhäher und flatterte davon.

 

Mit ungefähr zehn Jahren besuchte ich einmal Thommy, mit dem ich im Fuß-ballteam zusammenspielte. Abgesehen davon hatten wir nicht viel mit-einander zu tun, weil ich nicht im selben Dorf wohnte und eine andere Schule besuchte. Es war ein Samstagmittag, nach einem Ligaspiel in der E-Jugend. Thommys Mutter briet Leberkäse und Spiegeleier, dazu gab es frische Brötchen. Das Ketchup war viel ungesünder und leckerer als zuhause. Thommy hatte, im Gegensatz zu mir, zwei ältere Brüder und war daher anders mit den Versuchungen oder den Möglichkeiten verwoben, denen man anheimfallen kann, wenn man andauernd beigebracht bekommt, dass Dominanzgebaren cool und männlich und gewinnerhaft sei. Meine Mutter versuchte mich genau davor zu bewahren. Nachdem Thommy und ich eine Weile Cartoons geschaut hatten – was mich zufriedenstellte, ihn aber nicht –, entwendete er das Luftgewehr seines Vaters und wir gingen in den geräumigen Garten; er schnurstracks, ich verträumt. Ich glaube, es war ein nasser Herbsttag. Auf dem Boden war Blätterschmodder verteilt, die Erde war feucht. In meiner Erinnerung war es dreckig und runtergekommen. Die Büsche wirkten schwach oder elendig auf mich. Im hinteren Bereich des Gartens wurde Feuerholz gestapelt. Thommy stellte eine leere Konservendose auf einen abgeschnittenen Baumstamm. Er hielt mir das Gewehr hin. Ich befolgte seine Anweisungen und schoss zwei- oder dreimal. Aber ich traf nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie ich zielen sollte. Thommy lachte mich aus, weil ich so wenig Gespür oder Verständnis fürs Schießen hatte. Er ballerte die Konservendose immer wieder runter, mit reglosen Gesichtszügen, spürbar stolz.

Ich fand es dermaßen langweilig und fürchtete mich eher vor fehlgeleiteten Kugeln.

 

Nicht mal, wenn Kirchweih war, interessierten mich die Schießstände. Dosenwerfen war okay; Luftballons mit Spickern zu zerstören, auch. Logischerweise hatte ich nie Faschingsrevolver, nie Platzpatronen etc. Ich drifte gerade vielleicht ab, aber ich konnte auch Böllern nie was abgewinnen. Eher fühlte ich mich wohl, wenn mir meine Mutter Die Kinder aus der Krachmacherstraße vorlas. Ich frage mich, ob ich mich jemals zum Exzess hingezogen fühlte.

 

Währenddessen fanden Computer immer mehr Verbreitung.

Die immense Zeitverschwendung, die sich im banalen Inferno des Digitalen abspielt, habe ich zum ersten Mal erlebt, als ich elf Jahre alt war. Das Einzugsgebiet der Waldorfschule, die ich besuchte, war ziemlich groß. Deshalb war es schwer mit gegenseitigen Besuchen; viele meiner Mitschüler*innen lebten so weit weg von Altdorf, dass es für mich meistens nicht möglich war, abends wieder nach Hause zu kommen – zumal es meiner Mutter zu gefährlich erschien, mich in der Dämmerung auf eine Odyssee mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu schicken. Deshalb kamen Besuche nur zustande, wenn mein Vater beispielsweise einen Geschäftstermin hatte und mich auf dem Heimweg einsammeln konnte. Dann durfte ich nach der Schule Freunde besuchen; beispielsweise Toni, der mit seiner Familie in Kornburg lebte. Ich erinnere mich an seine Zahnspange und hochgegelte, dunkelblonde Haare. Einmal, als ich dort war, zeigte er mir heimlich das Wasserbett seiner Adop-tiveltern; ich weiß noch, dass ich mich nicht traute, es zu testen, weil ich Angst hatte, die Matratze kaputtzumachen und das ganze Schlafzimmer zu überschwemmen. Das war bislang das einzige Mal in meinem Leben, dass ich ein Wasserbett berührt habe.

Im zweiten Stockwerk stand ein Computer im Flur. Wenn wir uns sicher    waren, dass sich Tonis gewalttätige Adoptivbrüder nicht in der Nähe aufhielten, spielten wir GTA 2. Beziehungsweise: Toni spielte. Ich setzte mich neben ihn und schaute zu; angespannt, weil es jederzeit passieren konnte, dass wir plötzlich in Tonis Zimmer fliehen mussten. Außerdem roch es nach dem Urin der Katzen, die überall durchs Haus schlichen. Ich war zu behütet oder weltfremd aufgewachsen, um Begeisterung für Tonis blindwütige Massaker in Downtown entwickeln zu können. Er ballerte wahllos Passanten über den Haufen, woraufhin nach ihm gefahndet wurde; alles wurde immer hysterischer. Von allen Seiten kamen Polizeiwagen angefahren. Toni setzte sie mit einem Flammenwerfer in Brand. Ich kapierte nicht, was daran so reizvoll sein sollte.

Ich entdeckte eine Leere in mir, die über Langeweile hinausging; es war eine adrenalingeschwängerte, trostlose Leere. Außerdem verängstigte mich die Atmosphäre, die entstand. Ich konnte Gewalt nicht ertragen, sie übte auch keine Faszination auf mich aus; sie führte eher zu einer Traurigkeit und einer Form des Schwindels. Ich spürte langsam, dass um mich herum überall Gewalterfahrungen lauerten. Ich reagierte darauf, indem ich mich zurückzog. Ich kämpfte nicht dagegen an. In der Schule wurde immer öfter von Horrorfilmen erzählt, die meine Freund*innen gesehen hatten. Ich kannte das, was sie erzählten, nur auszugsweise aus den dreißigsekündigen Vorschauen von Sat1, die Werbeunterbrechungen abschlossen, wenn ich Fußball schaute. Fußball war das einzige, was ich bei meinen Eltern im Fernsehen verfolgen durfte. Alles, was darüber hinausging, verstörte mich – und verfolgte mich bis in die Nächte, in denen ich angsterfüllt wachlag.

Während ich also neben Toni saß, der durch seine willkürlichen Tötungen immer mehr Punkte sammelte, inmitten des Uringeruchs der Katzen, fühlte ich mich unwohl, traute mich aber nicht, aufzustehen oder vorzuschlagen, etwas anderes zu machen. Gleichzeitig fand ich es auch spannend, mitanzusehen, wie Toni es immer wieder schaffte, den Polizist*innen zu entkommen. Ich glaube, dass mein Herz schneller schlug, wenn Toni in die Enge getrieben wurde. Die Erkenntnis, dass im Falle des Scheiterns alles von vorne begann, konnte mich nicht beruhigen oder erleichtern. Dass eine getötete oder verhaftete Spielfigur immer wieder von Neuem starten konnte, unter den gleichen Vorzeichen, in derselben wahnwitzigen Mission, die Stadtgesellschaft von Downtown in Schrecken und Aufruhr zu versetzen, kam mir merkwürdig vor. Auch, dass Toni immer wieder scheinbar derselben Sehnsucht folgte, möglichst viel Zerstörung anzurichten, war mir fremd. Mich überkam ein Gefühl der Zwecklosigkeit, in dem Sinne, dass sich plötzlich alles sinnlos anfühlte – das ganze Haus, das Halbdunkel im Flur, der klebrig schimmernde Korkboden, die blinzelnden Katzen, die unaufgeräumten Kinderzimmer, Tonis offenstehender, leicht sabbernder Mund, die Sirenengeräusche, die unheimliche, heizungswarme Atmosphäre.

Ich glaube, Verzweiflung habe ich oft gespürt, wohingegen der Glanz nur selten in meinem Leben aufschien. Die Nachmittage bei Toni waren glanzlos. Ich übte dabei, in der Abwesenheit des Glanzes nicht verrückt zu werden.

 

In Wider den Terrorismus schreibt der Psychoanalytiker Arno Gruen: „Wir fürchten die Todessucht der Terroristen. Wir versuchen, diese zu verstehen, und glauben, dass das, was wir als ihre Verzweiflung wahrnehmen, vergleichbar ist mit unserer eigenen Verzweiflung, wenn wir auf andere wütend werden. Es ist wichtig, zu erkennen, dass hier ein gewaltiger Unterschied besteht zwischen Wut und zerstörerischen Gedanken einerseits und einem tatsächlichen Tötungsakt. Viele von uns haben Probleme, die eigenen aggressiven Impulse richtig einzuschätzen. Manche Menschen fürchten sich so sehr davor, dass sie glauben, sterben zu müssen, wenn sie Hass in sich verspüren. Sie glauben, dass es allen Menschen so geht, und halten sich für potentielle Mörder, sobald sie Aggression empfinden. Es ist jedoch etwas ganz anderes, tödliche Gedanken zu haben als tödlich zu handeln.“

Diese Passage entlastet meine Oma weiter. Sie wirkt auch fast wie eine nicht gekennzeichnete Antwort auf Breton. Eine Antwort, die Bretons Aussage umschließt oder abmildert. Eine Antwort, die eine tieferführende Präzision von Breton verlangt: Überleg dir noch mal, was du da vorschlägst. Offensichtlich kennen wir kaum Praktiken, die uns dabei helfen, mit Verzweiflung umzugehen. Wir verstehen Verzweiflung als individuelle Dysfunktion, nicht als gesellschaftliche Problematik. So bleiben wir unserer tiefen Verzweiflung ausgesetzt, eingebettet in diese kollektive Psychose; unfähig, anders als stumm von ihr befallen zu sein. Kein Aufschrei, der etwas zurechtrücken könnte. Oder?

In Lisa Krusches Text Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere sagt die Protagonistin Judith einmal: „Man kann sich den Kämpfen nicht entziehen. Es geht nur darum, wer am Ende noch lebt. Ich wünschte, ich könnte in Photonenstrahlen baden und dann overkill.“ Sie rüstet sich bei einer Dealerin mit einer P229 aus, die sie immer bei sich trägt, der Sicherheit halber, wie sie meint, weil sie kein Glücksspiel aus ihrer Existenz machen wolle; immer bereit, sich zur Wehr zu setzen. Sie begibt sich in das Multiplayer-Computerspiel galaxias, in dessen Welten sie unsichtbar umherstreunt und alle männlichen Avatare killt, die ihr über den Weg laufen; in der Hoffnung auf einen sogenannten World Glitch, der sich in dem Moment einstellen soll, wenn alle Männer tot sind: ein zerstörerisches Ereignis, kathartisch oder apokalyptisch, wonach alles schlagartig anders ist. Ich erahne Wut und Hilflosigkeit in diesem Wunsch, als wäre Judith eine Jägerin, die potenzielle Bedrohungen aufspürt und ausschaltet, um einen Raum zu kreieren, der unvorsichtig genutzt werden kann, angstfrei und ausgelassen; wo die uns umgebende Wirklichkeitstextur verändert wird durch systematisches Töten.

Die einsame Hoffnung auf Revolution. Auch Judith agiert nicht blindlings, könnte man anfügen.

Als ich den Text von Lisa Krusche zum ersten Mal las, dachte ich an eine Notiz von Jean-Luc Godard aus dem Jahr 1991, in der er schreibt, dass man, um einen Film zu machen, nur eine Waffe und eine Frau brauche. Ich denke, hier komme ich meinem Unbehagen möglicherweise auf die Spur. Mein Unbehagen lässt sich ungefähr so zusammenfassen: Männer mit Waffen sind lächerlich, Männer mit Waffen eignen sich nicht mehr als Versprechen. Männer mit Waffen versprechen gar nichts, sie sind nur Symptome einer psychopathischen Welt. Die Feststellung von Breton mag im Jahr 1929 vielleicht provokant gewesen sein, mittlerweile wirkt sie abgeschmackt für mich. Männer mit Waffen verlieren sich in der Pose; es gibt keine existenzielle Begründung mehr, die den bretonschen Akt heroisieren könnte. Auch ich wünsche mir, dass der Glanz im tiefsten Inneren des Menschen entdeckt und hervorbefördert wird. Ich glaube auch, menschliche Verzweiflung teilweise verstehen zu können. Aber ich würde sagen, wenn sich Männer verzweifelt fühlen, sollten sie eine Psychotherapie machen anstatt rumzuballern. Männer mit Waffen, dieses Bild ist abgenutzt und verbraucht und nicht die Zukunft.

Kunst, das könnte das Gegenteil einfacher Bilder sein. Es gibt diesen sympathischen und anrührenden Meltdown von Werner Herzog, aufgenommen von Wim Wenders, im Film Tokyo-Ga von 1985. Herzog befindet sich auf der Aussichtsplattform des Tokyo Towers und sinniert vehement über die Notwendigkeit adäquater Bilder. Unter anderem sagt er: „Man muss also wie ein Archäologe mit einem Spaten graben. Man muss eben schauen, dass man aus dieser beleidigten Landschaft heraus noch irgendetwas finden kann. Sehr oft natürlich ist das verbunden mit Risiken, und die würde ich nie scheuen, und ich sehe eben: Es sind so wenige Leute heute auf der Welt, die sich wirklich etwas trauen würden, für die Not, die wir haben, nämlich zu wenig adäquate Bilder zu haben. Wir brauchen ganz unbedingt Bilder, die mit unserem Zivilisationsstand und mit unserem inneren Allertiefsten übereinstimmen. [...] Und ich würde mich nie beklagen, dass es zum Beispiel manchmal schwierig ist.“

 

„Wer hat behauptet, dass es einfach sei, einen Roman zu schreiben?“, fragt Ursula K. Le Guin.

 

Kunst, das heißt nicht unbedingt schwierige Bilder. Ich denke eher, es könnte bedeuten, dass Bilder entstehen, in denen gleichermaßen Glanz und Verzweiflung spürbar werden. Surrealistisch an der Gegenwart ist auch die perverse Gleichzeitigkeit, die Überschneidungsaggression von paradoxen, sich ausschließenden oder sich befeuernden Motiven und Geschehnissen. Deshalb brauchen wir vielschichtige, eindringliche Bilder; und wenn sie angetrieben von Verzweiflung sind, wenn sie von Verzweiflung erzählen, dann können sie trotzdem den inneren Glanz des Menschen spürbar machen – wie der Text von Lisa Krusche, der melancholisch und traurig auf mich wirkt, der in seiner Tristesse und Abgeschiedenheit aber so adäquat ist, dass er ein Vorankommen ermöglicht. Weil es gerade nicht darum geht, die immer gleichen, festgefahrenen Vorstellungen zu reproduzieren. Während wir an überkommenen Bildern festhalten, entgleitet uns die Welt: Sie erhitzt sich, sie schmilzt davon, sie verschrottet – in einem Ausmaß, das unabsehbar und beängstigend ist. Männer mit Waffen sind machtlos dagegen. Das gilt es einzusehen.

Aber Männer mit Waffen werden kein Einsehen kennen, suggeriert Simone Weil, sie werden in ihrem emotionalen Verstummen versteinert: „So unerbittlich wie die Gewalt vernichtet, so unerbittlich berauscht sie den, der sie besitzt oder zu besitzen glaubt.“

Über die Motivation terroristischen Tötens schreibt Arno Gruen: „Durch das Besitzergreifen kann er [der Terrorist] wahnhaft phantasieren, sein eigenes Leben im Griff zu haben.“ Was also sinnstiftend wirkt, ist eigentlich lächerlich und krank. Männer mit Waffen werfen sich der Veränderung entgegen; heim-gesucht von stiller, uneingestandener Verzweiflung wähnen sie sich wirkmächtig im Zorn, in der Gewalt. Jahrtausende des Patriarchats haben Männer dumm und einfältig werden lassen. In ihren Selbstermächtigungsfantasien meinen sie, die Welt mit Waffen retten zu können. Aber in Wahrheit ist es feige, sich nicht adäquat mit der Welt auseinanderzusetzen. Männer mit Waffen scheuen das Risiko. Sie sind keine Hilfe. Sie wissen nicht um ihre Lage; und so, schreibt Simone Weil, „gehen jene zugrunde, denen das Schicksal Gewalt verlieh, weil sie ihr zu sehr vertrauten.“

 

Die Verbrauchtheit von Männern mit Waffen beschreibt auch Ursula K. Le Guin in ihrer Tragetaschentheorie des Erzählens. Es sei notwendig, die    „Killergeschichte“ zu überwinden, die uns alle präge; schon zu prähistorischen Zeiten seien es die Männer gewesen, die von ihren aufreibenden Jagdausflügen heimkehrten, mit Beute und Fleisch bepackt. Männer mit Waffen seien Helden gewesen, weil sie actionreiche Geschichten erzählen konnten, die von List, Auseinandersetzung und Gewalt handelten, vom Sieg, von Vernichtung, vom Töten. Die Heroisierung von Männern mit Waffen übertrumpfte die Tatsache, dass „fünfundsechzig bis achtzig Prozent dessen, wovon Menschen sich [...] ernährten“, aus der Wildsammlung stammte, nicht von der Jagd. Donna Haraway schreibt: „Es ist die messerscharfe, kampfbereite Fabel der Aktion, die das Leiden klebriger, im Boden rottender Passivität über das Erträgliche hinaus stundet. Alle anderen in dieser dummen, phallischen Geschichte sind Requisiten, Gelände, Raum der Spielhandlung oder Opfer.“ Männer mit Waffen haben über Jahrtausende hinweg die Deutungshoheit über die Weise, wie wir uns von der Welt erzählen, eingefordert; das zeitigt Folgen: „Das Problem ist nur, dass wir alle zugelassen haben, selbst zu einem Teil der Killergeschichte zu werden, so dass deren Ende auch uns den Garaus machen könnte“, schreibt Ursula K. Le Guin. Männer mit Waffen tappen tobsüchtig umher, immer kurz davor, in den Blutrausch zu kippen; das schüchtert ein und soll Ehrfurcht erwecken. Eingebunden in diese narrativen Strukturen fällt es schwer, andere, adäquatere Bilder zu entwickeln. Dabei wäre es wichtig, widerstehen zu lernen, anstatt stillschweigend zu kollaborieren. Es wäre gut, voranzukommen; es wäre gut, wegzukommen von dieser destruktiven, sich von Adrenalinkick zu Adrenalinkick hievenden Langeweile. Sich in diese Richtung zu bewegen, wäre eine Errungenschaft.

 

Ich stelle mir Judith vor, die mit ihrer P229 durch eine dystopische, glimmende, halb verfallene Stadt geht, wachsam, auf der Hut.

Ich stelle mir Haiyti vor, die mit ihrer Uzi in die Fiorucci-Boutique läuft, wild, ungehemmt, mit der Verve einer Banditin. Sie und ihre Freund*innen sind maskiert. Im Verkaufsraum stehen rote Plüschsofas rum, an den Decken hängen Neonröhren; rosafarbene Schriftzüge, hellblaue Schnörkel. Haiyti kickt eine Schaufensterpuppe um. Eine ihrer Freundinnen wischt einen Stapel Shirts von einer Auslage und setzt sich drauf; ihre Beine baumeln daraufhin verzückt gegen die Plastikverschalung. Haiyti verlangt, dass die aktuelle Kollektion in allen verfügbaren Größen bereitgestellt werde. Durch die Fenster sieht man, dass die Sonne untergeht; das Licht ist orange. Das Personal beginnt hektisch, durch den Laden zu laufen und Kleidungsstücke einzupacken.

Und ich stelle mir meine Oma vor, gezeichnet vom Leben. Sie ist achtundsiebzig Jahre alt. Ihr macht die Arthrose zu schaffen; in den Handgelenken, in den Knien. Sie ist sehr klein und grauhaarig, aber in ihrem Gang liegt Entschlossenheit, wenngleich ihre Körperhaltung gebeugt wirkt. Ich stelle mir vor, wie sie meinen kranken Opa schweren Herzens in ein Pflegeheim bringt und anschließend nach Miami fliegt. Sie läuft schwitzend durch die Ankunftshalle, ohne Gepäck; Schiebetüren öffnen sich automatisch. Meine Oma steht zwischen silbernen Säulen und schaut sich um. Das subtropische Klima in Florida bekommt ihren Knochen überhaupt nicht. Sie lässt sich in einem Taxi trübsinnig durch die Stadt fahren. Im grellen Licht wirkt sie fremd, die hohe Luftfeuchtigkeit verursacht Migräne bei ihr. Die Fahrt dauert nicht lange, nur ein kurzer Stopp bei einem Waffengeschäft verzögert die Ankunft. Schließich stapft sie, gemächlich aber entschieden, über den fein gepflegten Rasen von Trumps National Doral Hotel. Meine Oma trägt eine ausgewaschene Jeans, ein dunkelgrünes Shirt, schwarze Lederschuhe. Sie hält ein Maschinengewehr in der linken Hand, geladen und entsichert. Helllichter Tag. Sie schreitet über die Golfplätze des 5-Sterne-Resorts. In der Ferne stehen Palmen. Das getrimmte Gras ist perfekt: weich und gleichmäßig. Das Gras ist so weich, dass es beinahe die Arthrose meiner Oma lindert. Ein leichter, süffiger Wind weht. Möwen fliegen vom Meer her.

 

Vielleicht geht es bei all dem um die Frage, ob der Glanz in unserem tiefsten Inneren überleben soll.

 

 

 

 

Nachweise:

André Breton, Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg, 1969
Jean-Luc Godard, Wikiquote
Arno Gruen, Wider den Terrorismus, Stuttgart, 2015
Haiyti, Uzi, Universal (Label), 2019
Haftbefehl, Dann mit der Pumpgun, Echte Musik (Label), 2010
Donna Haraway, Unruhig bleiben, Frankfurt, 2018
bell hooks, The Will To Change, New York, 2004
Lisa Krusche, Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere, Tage der deutschsprachigen Literatur, 2020
Ursula K. Le Guin, Am Anfang war der Beutel, Klein Jasedow, 2020
Sibylle Späth, Rolf Dieter Brinkmann, Stuttgart, 1989
Simone Weil, Krieg und Gewalt, Zürich, 2011
Wim Wenders, Tokyo-Ga, 1985, 92 Minuten

 

Dieser Text erschien in einer deutlich kürzeren Fassung unter dem Titel Nieder mit den verbrauchten Bildern in: Christiane Lembert-Dobler, Manfred Rothenberger, Anne Schuester, Sebastian Seidel, Stephanie Waldow (Hrsg.): Ruiniert euch! – Literatur, Theater, Engagement, Fürth, 2021.

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