Tara Meister

lose prinzen, märchen

 

 

Meine Schwester inseriert das andere Zimmer, Ende Februar.

Unter den vierundzwanzig Anfragen ist Liam, 19.

Liam sagt in dem Zoom Call, dass er nicht sagen darf, wo er gerade ist. Meine Schwester sagt ja.

 

Als er dann in der Tür steht mit dem großen Koffer, stößt er sich fast den Kopf an, 1,95 m plus die hohen Schuhe.

 

Na, ihr süßen Mäuse, sagt er.

 

Sein Deutsch ist perfekt und seine Augenbrauen auch, ein Gesicht wie ein persischer Prinz oder Toni Mahfud.

Sein Top ist bauchfrei und seine Collegejacke billig.

Er zieht ein, mit nichts als einem Koffer.

 

Er ist hier, um die Ballroom-Szene zu erobern, sagt er.

Er voguet für uns, pam-pam-pam, kick und dann der Drop. Die Lippen dabei geschürzt, er fordert uns heraus, seine High Heels machen: klack-klack-klack.

 

Liam ist die Queen, wir sind alle Queens, so nennt er uns, und Sisters und Babe und dass wir uns die Achseln rasieren sollen, sagt er.

Wir machen große Augen. Wir sind schmuddelige Feministinnen. Mit Secondhandunterwäsche und überzeugt ungeschminkt, mit roter Gesinnung und einer schwarzen Liste.

Er sagt So gehst du mir nicht außer Haus und macht eine No-no-no-Bewegung mit der Hand. Er sagt no-go und bitch please.

Dinge, die wir gecancelt haben, gibt er wieder frei.

Er will Fun und Trash, er macht sich lustig, wenn wir Bio kaufen oder Indie-Rock hören, ich bitte dich. Bei Deutsch-Rap verlässt er den Raum.

 

Er brüllt mit uns auf den Demos, aber bald ist es ihm zu langweilig, er will tanzen und Scheinwerferlicht. Nicht, dass die Leute ihn übersehen hätten.  

Irgendwie denken wir, er müsste politisch sein, aber meistens schaut er Männern in Anzügen hinterher und spricht von sich als Dirty Bitch.

Wir gehen auf den Klimastreik, er sagt, er ist Vegetarier, aber ein Cocksucker und will so gerne Urlaub auf Bali.

Wir wollen free the nipple und Körper, die nicht beschämt werden. Wir spielen Strip-Poker am Equal-Pay-Day, er sagt, er heiratet irgendwann einen reichen Mann.

Er hat kein Geld und einen Job bekommt er erst, als er bei der Bewerbung kein Foto mehr mitschickt.

 

Wir bauen seinen Schminktisch zusammen und er malt uns Sommersprossen auf die Nasen. Seine Hände sind weich.

Zeig dich, Babe, zeig dich.  

Er ist bereit für das wahre Leben.

 

Dass er weggelaufen ist, wissen wir bald, von zuhause, vor den Brüdern und Onkeln, den Cousins und Schwagern, weil es nicht sicher war. Die wollten nicht, dass er glitzert. Dass er erst in einem Männerhaus untergebracht war und auf dem Weg dorthin Springerstiefeln ausgewichen ist. 

 

Untertags jagt Liam dann Barcodes über den Barcodeleser an der Kassa im Supermarkt, trägt dabei das dunkelblaue Firmenhemd mit gelber Schrift. Er packt an, mit manikürten Nägeln, und klaut uns nach Dienstschluss ein paar braune Bananen.

Wir essen in der Küche bei offenem Fenster und Nicki Minaj. Für diesen Arsch, sagt Liam, würde ich töten.

 

Er macht uns runter für fettige Haare. Er will, dass wir mitgehen auf den Ball, er macht uns hübsch, davor.

Die Schlange vor dem Eingang ist lang, drinnen „life is too short“ aus den Lautsprechern. Dance Battle. Schwanzvergleich beim Tanzen sagt meine Schwester.

Liams House tritt auf. Er voguet und die Menge cheert – pop, dip, spin. Give the floor to: Sein Lip Sync ist on point, seine Wangenknochen blitzen, cheeky sein Blick.

Er stellt sich vor und aus am Dancefloor.

Er streckt die Hände und nimmt sich den Raum.

Hier sprechen alle dieselbe Sprache, eine Tüllsprache, eine Glamour-Pussy-Sprache. Poor cishets, sagt einer im Vorbeigehen, they miss all the fun.

Liam twerkt so wild, dass wir uns fragen, ob bald die falschen Wimpern abfallen und was sonst noch. Er heult auf, ist on fire.

 

“We got our feet on the ground / And we're burning it down”

 

Wir stehen am Rand, der Tanga zwickt ein bisschen, überall ist Freude und Haut.

 

Wie heißt du eigentlich wirklich, hat sich niemand getraut zu fragen.

 

Nachts auf den Straßen tanzt er neben uns her und windet sich an jedem Laternenpfahl. Wenn jemand ruft, fauchen wir zurück.

Alle sind neidisch, sagt er.

 

White guys, sagt er und verdreht die Augen, straight guys.

Wir fragen uns, was wir sind.

 

Wir sagen Wörter, die er nicht versteht, und schämen uns.

Wir helfen ihm mit Papierkram und halten aus, dass er nicht bitte sagt, aber immer danke. Wir lieben ihn bald.

 

Der Frühling kommt und Liam redet nur von Sex, bis er sein erstes Mal hat, danach ist er ein paar Tage still. Wir reden über aktiv-passiv und Männer, die Männer bleiben.

 

Meine Schwester weicht nicht mehr von seiner Seite, sie zeigt ihm Thrift Shops und er ihr bunte Partys, High Life, und wie man Highlighter richtig verwendet. Sie stretchen zusammen und sagen, irgendwann können wir einen Spagat.

Manchmal bringen sie Männer mit nachhause und werfen sie morgens wieder raus. Kick.

 

Wir haken uns unter auf dem Nachhauseweg nachts und strecken unsere Bauchnabel dem Patriarchat entgegen.

 

Wir nehmen Liam mit zu unseren Eltern aufs Land ein Wochenende, er catwalkt über den Feldweg und snapt nach den Schmeißfliegen. Wir verbieten unserem Opa den Mund und essen Apfelkuchen im Garten.

Wir nehmen ihn mit in die linke Bubble, trinken Sprudelwasser am Kanal und alle wollen mit ihm befreundet sein.

 

Scheiß Türken, sagt er, wenn der Bäcker am Eck ihm das kleinere Stück Baklava gibt.

Wow, sagt er, weil wir alle Hauptstädte Europas kennen und wissen, wo wir zuhause sind.

 

Wo wollen wir eigentlich hin – meine Schwester wechselt das Studium und wir werden träge in der Hitze.

Liam will Visagist werden und wir lachen zu oft, wenn er es ernst meint.

 

Wir schreiben check your privileges auf den Kühlschrank, mit bunten Magnetbuchstaben, die wir als Kinder von unseren Eltern bekommen haben.

Wir planen lose den Sommer, Liam will mit nach Paris, bekommt aber keinen Urlaub. Scheiß Lohnarbeit, sagen wir, dabei arbeiten wir gar nicht.

 

Wir schlafen Räusche aus auf glitzerverklebten Kissen und überlegen, wie woke wir tatsächlich sind.

Seine Hände wirbeln durch die Luft und wir sehen nicht das ganze Bild. Seine Handtasche ist durchsichtig und seine Augen fast schwarz.

 

Manchmal kommt er nicht aus seinem Zimmer.

In der Wohnung sagt er, aber nicht zuhause.  

Er steht auf Stolz und Vorurteil, er liegt in seinem Bett an zähen Tagen.

Wir sagen gehen wir an die Donau und er, dass er nicht schwimmen kann. Dass einmal das Boot gekentert ist auf ihrer Flucht aus Kurdistan, da war er fünf und das Ufer schon ganz nah.

Er sagt, dass Familie alles ist und dass Familie nicht alles ist. Wenn er schlimmes Heimweh hat, schlafen wir im selben Bett und träumen verschieden.

 

Ich habe Angst, sagt er manchmal, vor dem und dem und zeigt aus dem Fenster auf Menschen im Laternenlicht. Vieles verstehen wir nicht. Wir lernen, wie man Alles Gute auf Kurdisch sagt.

 

Im House sind alle füreinander da und alle mit ihrem eigenen Scheiß beschäftigt. Mental Health wird groß- und kleingeschrieben.

Liam voguet wie besessen.

Er muss sich verstecken, er möchte gesehen werden.

Die Adresse darf niemand wissen.

Er trägt seine pink Camouflage-Jacke, er sagt, er hätte gerne einen Sugar Daddy.

Er weint die Nacht vor seinem Geburtstag, weil er seine Mama vermisst.

 

House, sagt er, ist auch Family. Aber irgendwie kommt er nicht an. Mike kommt vorbei, seine House-Mutter,Butch Queen, und kann ihn nicht trösten.

Er erzählt von Lidschattenpaletten unter dem Bett versteckt und ungeschminkt maskiert sein. 

Dass seine Mutter mit ihm zu einem Schamanen wollte.

 

Wir kochen zusammen und reden über toxische Männlichkeit und er macht das Curry viel zu scharf: Weicheier, sagt er und lacht.

Ich bin fett geworden, sagt er und wir schauen ihn böse an.

 

Wenn er betrunken ist und wir zusammen im Park, läuft er manchmal davon. Liam, sagen wir. Er kichert und stolpert, er ist groß und stark, wir können ihn nicht festhalten.

Er sagt, er will unbedingt mal Gras rauchen und liegt dann den Abend auf der Couch, ganz grün im Gesicht. 

 

Wir finden, er schaut nicht gut auf sich. Wir lernen in der Vorlesung, Gesundheit ist eine Klassenfrage.

Wir suchen queer bi*poc Beratungsstellen für ihn raus. Ihr seid klasse, sagt er und geht nicht hin. 

 

Einmal telefoniert er mit seiner Schwester, sie ist ein ally, sagt er, beide weinen.

Wir sind betreten in der Küche und die Wände sehr dünn.

Der Sommer ist ganz nah.

 

Dann der Drop.

 

Er wird unruhig und sagt, er müsste eigentlich nach New York ziehen oder London oder Berlin. Wo das echte Leben passiert.

Wir meinen, er soll vernünftig sein, und er, dass das nur Menschen sagen mit Schulabschluss.

Er beginnt, nach Inseraten zu schauen, und wir denken, es sind Spinnereien.

Über Pfingsten sind wir weg und finden ihn in einem tiefen Loch, als wir zurückkommen.

 

Dann ruft er an mit zitternder Stimme und sagt, Berlin ab nächstem Monat und dass er traurig ist.

 

Wir verstehen es nicht, er ist doch jetzt unsere Sister, unsere Schwester geworden, egal woher und so weiter. Wir finden, dass er doch jetzt hier zuhause ist, und werden wütend. Er sagt unglücklich: ihr süßen Mäuse. Er möchte getröstet werden, aber wir auch.

 

Wir machen ein gemeinsames Polaroidbild, auf dem die Farben verrinnen.

Wir lernen, wie man Lebwohl auf Kurdisch sagt.

 

Von ihm bleiben ein paar Dellen im Boden.

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