Frank Witzel

Die Möglichkeit einer Micky Maus

Über den unwillkürlichen Abschied

 

 

Im Sommer 1995 fuhr ich nach Zürich, um mir dort die große Retrospektive des Fotografen Robert Frank anzusehen. Mir ist aus dieser Ausstellung eine einzige Fotografie in Erinnerung geblieben, ein Bild mit dem Titel Sick of Goodby’s. Um es genau zu sagen: Mir ist der Titel dieses Bildes in Erinnerung geblieben und die Tatsache, dass sich der Titel auch auf der Fotografie selbst wiederfindet. Das Foto stammt aus dem Jahr 1978, also aus einer Periode, in der Robert Frank eine neue Art des Fotografierens entwickelte, die mit collagierten Bildmotiven, Wörtern und Sätzen arbeitete, die oft in das Negativ selbst eingekratzt wurden, um sich untrennbar mit der Aufnahme zu verbinden. Ich erinnere mich, dass mir diese Fotografie seinerzeit nicht besonders gefiel, wohl, weil ich die Aussage als zu direkt und aufdringlich em-pfand. Als ich im Frühjahr dieses Jahres eingeladen wurde, einen kurzen Text zum Thema Abschied zu verfassen und zusammen mit anderen Autoren bei den Salzburger Festspielen vorzutragen, war es jedoch genau dieses Bild, das mir als erstes einfiel.

Ich nahm den Katalog, den ich mir damals gekauft hatte, aus dem Bücherregal und suchte das Foto heraus, das in der oberen Hälfte einen unscharf abgelichteten Arm vor einem schrägen Horizont zeigt, der zwischen Daumen und Zeigefinger eine kleine Puppe am Kopf hält, sowie in der unteren Hälfte einen Spiegel, in dem ein zweiter Spiegel zu sehen ist. Der Titel Sick of Goodby’s steht mit tropfender Farbe über beide Bildteile geschrieben und verbindet sie zu einer Einheit. Die Trennlinien zwischen Fotografie und Zeichnung sind verwischt, das an den Seiten ausgefranste Negativ bearbeitet, Frank hatte nicht nur die Distanz gegenüber seinen Motiven aufgegeben, das eigentliche Motiv wurde in der Dunkelkammer überhaupt erst erstellt. Ich schrieb ein paar erste Gedanken über Franks Arbeitsweise, spekulierte über die Bedeutung seines in diesem Bild verewigten Überdrusses an Abschieden und versuchte eine zaghafte Verbindung zur aktuellen politischen Situation herzustellen, in der erneut Millionen von Menschen Abschiede aufgezwungen wurden, weil sich die Länder, in die sie zufällig hineingeboren wurden, im Kriegszustand befanden. Diese Abschiede wurden so gut wie nie als Einzelschicksale thematisiert, sondern gingen in einer undefinierbaren und unüberschaubaren Menge von Toten, Traumatisierten und Vertriebenen unter. Anstatt in einer solchen Situation die Zufluchtsmöglichkeiten zu erweitern und unbeteiligte Länder mit Friedensverhandlungen zu beauftragen, wurde selbst in der Schweiz das Prinzip der Neutralität als unzeitgemäß infrage gestellt. Allerdings wies diese sprichwörtliche Grundlage der Schweizer Verfassung bereits während des Nationalsozialismus Lücken auf, denn Robert Frank, obwohl 1920 in Zürich als Sohn einer Schweizerin geboren und dort aufgewachsen, wurde 1941 durch eine erneute Verschärfung des Reichsbürgergesetzes der Nationalsozialisten als Jude zusammen mit seinem deutschen Vater und seinem Bruder für staatenlos erklärt. Einem Antrag auf Schweizer Staatsbürgerschaft wurde erst 1945 stattgegeben. 1947 wanderte Frank in die USA aus.

Ich versuchte in meinem Nachdenken über die Ambivalenzen der Neutralität eine Unterscheidung auszumachen zwischen individueller Neutralität, die womöglich, wie Robert Frank es in seinen Arbeiten zeigt, weder praktizierbar noch sinnvoll ist, und einer staatlichen Neutralität, die genau darum, weil sie dem Individuum verschlossen bleibt, eine wichtige Funktion einnimmt. Hatte mich die fehlende Distanz des 58-jährigen Robert Frank damals in Zürich gestört, so war gerade sie, wie ich nach beinahe drei Jahrzehnten feststellen musste, in meiner Erinnerung präsent geblieben. Nun sah ich in dem Foto auch die politische Neutralität symbolisiert, deren Wert als kulturelle Errungenschaft mir seinerzeit beim Betrachten des Bildes nicht in den Sinn gekommen war: Sie wurde durch das unscharfe Püppchen verkörpert, das vor dem schrägen Horizont eines Meeres in der Luft baumelte, aus der es jeden Augenblick fallengelassen werden konnte.

Bereits am nächsten Tag war ich jedoch mit dem Notierten nicht mehr zufrieden. Mich beschlich der Verdacht, einige allzu naheliegende Gedanken an-einandergereiht zu haben, die auf diese Weise schon tausendmal gedacht und dargelegt worden waren. Deshalb versuchte ich einen neuen Zugang, indem ich mich stärker auf das künstlerische Element in Franks Arbeit konzen-trierte, die sich in den 1970er Jahren mit den Möglichkeiten bildlicher Darstellung und der Bedeutung von Titeln und Inschriften – in der Tradition von Magrittes Ceci n’est pas une pipe – in Bezug auf das Dargestellte beschäftigte. Doch meine Unzufriedenheit verstärkte sich, da ich auch über dieses Thema bereits mehrfach nachgedacht und geschrieben hatte.

Am Abend blätterte ich im New Yorker und stieß auf einen Artikel, in dem die Autorin Jiayang Fang über Krankheit und Tod ihrer Mutter schrieb. What am I without you?, lautete die Überschrift, die mit der Genrebezeichnung Personal History überschrieben war und den Untertitel trug: Two lives merged by immigration and illness. Erneut war ich auf eine Verbindung von Privatem und Politischem und den daraus sich entwickelnden Spannungen gestoßen. Der Text war durchaus gelungen, doch störte mich auch hier, wie bei dem, was ich gerade selbst zu schreiben versuchte, dass ich ihn lesen konnte, ohne an irgendeiner Stelle zu stolpern oder aus dem Tritt zu geraten. Ich musste an eine Anekdote denken, in der Morton Feldman in den 1950er Jahren seinen Studenten zuerst eine Komposition von Pierre Boulez, dann eine von John Cage vorspielt und sie nach ihrer Meinung fragt. Als er mehrheitlich die Antwort bekommt, die Musik von Boulez sei interessant, die von Cage hingegen unverständlich, bemerkt er: »Das liegt daran, dass ihr das, was Boulez schreibt, schon hundertmal zuvor von anderen Komponisten gehört habt, das von Cage hingegen noch nie.«

Gleichzeitig erinnerte ich mich an die Sätze, die ich mit vierzehn aus einem ersten literarischen Impuls heraus aufgeschrieben hatte. Sie standen da wie von fremder Hand verfasst und eröffneten mir das Gefühl, in eine scheinbar unerschöpfliche Welt des Schreibens eintauchen zu können. Ohne es zu bemerken, hatte ich über die Jahre hinweg in diese Welt Orientierungsmarken und Grenzen eingezogen, die mir einerseits eine gewisse Sicherheit vermittelten, da ich mich darauf verlassen konnte, einen Text zu einem gestellten Thema, zum Beispiel dem Abschied, zustande zu bringen, mich andererseits jedoch auf bereits betretene Pfade führten, die mich beinahe zwangsläufig zu bekannten Gedanken und Formulierungen brachten.

Ich bekam einen Anruf. Roberto, ein Mann Ende fünfzig, hatte sich beim Aufdrehen einer Medikamentendose einen Splitterbruch im Arm zugezogen, der in den nächsten Tagen operiert werden musste. Roberto lebte in dem Haus, in dem ich noch bis vor Kurzem gewohnt hatte und in dem er seit mehreren Jahrzehnten einer meiner Nachbarn gewesen war, ohne dass es je zu mehr als kurzen Begegnungen im Hausflur gekommen wäre. »Ausgerechnet auch noch bei meinem Aids-Medikament, hat er zu mir gesagt. Wusstest du, dass er Aids hat?«, fragte mich die Nachbarin, die mir davon berichtete. Nein, das wusste ich nicht. Roberto führte ein unscheinbares Leben. Tagsüber arbeitete er irgendwo in einer Firma als Hausmeister. In seiner Freizeit baute er Burgen und Schlösser aus Lego und Ministeck. Ich überlegte, was es Überraschendes gab, das andere von mir erfahren könnten. Nicht viel, musste ich feststellen, da ich mein Leben wohl zu stark aus einer Außenperspektive betrachte, die mich gar nicht auf den Gedanken kommen ließ, daneben noch eine zweite private Existenz aufzubauen.

Gerade neulich erzählte mir ein Kollege, der gerade die Lebenserinnerungen einer Münchener Bordellbesitzerin lektorierte, dass ein ehemaliger Showmaster auf sehr voluminöse Frauen stand und die Verfasserin einmal sogar eine entsprechende Dame aus einem anderen Etablissement hatte holen müssen, weil keine der anwesenden Frauen seinem Geschmack entsprach. Ein mittlerweile bereits verstorbener Schlagersänger ließ sich hingegen regelmäßig in einen Käfig im Keller ihres Hauses einsperren. Mir kamen diese Geschichten nicht nur bekannt, sondern relativ klischiert vor. Aber wahrscheinlich gibt es Klischees nicht ohne Grund. Ist man vielleicht überhaupt nur deshalb in der Lage, fragte ich mich, nach außen hin ein strahlendes und unbekümmertes Bild von sich zu verkörpern, wenn man seine weniger vorzeigbaren Seiten entsprechend im Geheimen auslebt? Menschen hingegen, die nach außen hin verschlossen, düster und mürrisch wirken, so wie ich, haben womöglich weniger zu verbergen, weil sie der irrigen Annahme unterliegen, Selbstverwirklichung bestehe vor allem darin, sich nicht in eine private und öffentliche Persönlichkeit aufspalten zu müssen.

Von einer Bekannten, die über Eusapia Palladino forscht, einem berühmten Medium aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts, erfuhr ich, dass es in den sogenannten spiritistischen Kreisen, zu denen sie im Laufe ihrer Recherchen Zugang gefunden hatte, kein Geheimnis sei, dass auch heute noch Politiker, »und zwar quer durch alle Parteien«, regelmäßig an spiritistischen Sitzungen teilnehmen und sich – »manche sogar täglich oder vor jeder Amtshandlung« – Horoskope erstellen ließen. »Das kann ich mir irgendwie nicht vorstellen«, sagte ich, »ich meine, nicht, dass die nicht irgendwelche Doppelleben führen, aber spiritistische Sitzungen, das ist doch vollkommen aus der Zeit gefallen.« »Das ist eine uralte Tradition, älter als die Atlantik-Brücke, da wächst du im Lauf deiner politischen Karriere zwangsweise und Stück für Stück mit hinein.« Ich wusste nicht, was genau sie mit »Atlantik-Brücke« meinte, traute mich aber nicht nachzufragen, sondern lenkte das Gespräch zurück auf Palladino, von der ich erfuhr, dass sie in Paris vor Marie Curie und deren Bruder sowie Henri Bergson ihr Talent in Séancen unter Beweis gestellt hatte.   Gustave Le Bon hielt sie für eine Betrügerin, während Cesare Lombroso an ihre übersinnlichen Fähigkeiten glaubte, allerdings gab es das Gerücht, dass er ein Verhältnis mit ihr gehabt haben soll.

Mich erstaunte vor allem, dass Palladino über zwanzig Jahre lang in ganz Europa ihrem Gewerbe nachgehen konnte, obwohl sie von Anfang an immer wieder als Schwindlerin enttarnt worden war. Schon allein dazu gehörte eine gewisse Begabung, und wahrscheinlich war das überhaupt die Voraussetzung, um einer derartigen Betätigung nachgehen zu können. Das Medium ignoriert die übliche Einteilung von Öffentlichem und Privatem und äußert hemmungslos das, was andere sich noch nicht einmal im Geheimen zu denken trauen. Eine Enttarnung kann sein Tun nicht anfechten, weil das eigene Selbstverständnis von einer äußeren Missbilligung nicht berührt wird. Insofern gab es schon eine Verbindung zur Politik, in der man ebenfalls gegen Kritik immunisiert zu sein schien und unbeirrt weitermachte, auch wenn einem Betrügereien im großen Stil nachgewiesen wurden. Womöglich waren das gar keine Séancen im üblichen Sinne, die in irgendwelchen Kemenaten in Berlin oder Brüssel abgehalten wurden, sondern Workshops, in denen Medien ihre Erfahrungen an Politiker weitergaben.

In der Zwischenzeit meinte ich, einen neuen Ansatz für meinen Essay zum Abschied gefunden zu haben, indem ich wie folgt anfing: »Über den Abschied müsste geschrieben werden wie Georg Simmel ›Über das Geld‹ geschrieben hat. Schließlich fordert der Abschied die Distanz und sollte deshalb distanziert betrachtet werden. Ist er auch keine Ware, so hat er doch etwas von einem Objekt, das ›genommen‹ und ›gegeben‹ wird.«

Ich war mit dieser affirmativen Eröffnung zwar zufrieden, fühlte mich allerdings gleichzeitig eingeengt, da sie eine bestimmte Schreibhaltung forderte, die ich nicht durchhalten würde können. Die kühle Distanz dem Thema gegenüber, die ich mit diesen ersten Sätzen versucht hatte heraufzubeschwören, das ahnte ich bereits, würde mir auf die Dauer versagt bleiben. Im Gegenteil, immer wieder drängte sich in mein Nachdenken über den Abschied ein Gefühl abstandsloser Melancholie. Natürlich war die Melancholie auf gewisse Weise mit dem Abschied verbunden. Doch was verlieh ihr diese existenzielle Dringlichkeit? Konnte sie sich allein deshalb als wahr und unabweisbar gebärden, weil sie das einzig Zuverlässige beschrieb: die Vergänglichkeit? Doch weshalb sollte die Vergänglichkeit wahrer sein als der Moment, den ich doch unablässig erfahre, selbst wenn ich ihn begrifflich nicht fassen konnte? Es war ein seltsamer Schwindel, der mich überkam, wenn ich im Nachhinein Situationen auch nur ansatzweise in ihrer Komplexität zu verstehen meinte, nachdem ich sie im Augenblick des Geschehens, vor allem dann, wenn ich selbst beteiligt war, auf einen simplen mechanistischen Reflex von Ursache und Wirkung reduziert hatte. Und noch etwas fiel mir auf: Obwohl ich beständig über Beziehungsgeflechte nachdachte, gelang es mir nicht, meine Erkenntnisse in der Praxis anzuwenden. Dass ich von Berufs wegen durch ständiges Beobachten abgelenkt war, ließ ich als Erklärung nicht gelten. Die sprichwörtlich gute Beobachtungsgabe, die zum Schreiben befähigen soll, halte ich für ein nicht erwiesenes Gerücht. Im Allgemeinen konnte ich so gut wie nichts beobachten oder wahrnehmen, weshalb ich gezwungen war, alles im Nachhinein mühsam zu rekonstruieren. Konnte dieses Nachsinnen aber wenigstens, wenn auch verspätet, eine Form der Erfahrung vermitteln?

Wahrscheinlich waren mir meine über die Jahre eingeübten Verhaltensweisen längst zur zweiten Natur geworden, die liebgewonnene Arbeit der Rekonstruktion am Schreibtisch eine Beschäftigung, von der ich nicht mehr würde lassen können, selbst wenn ich immer wieder als unerlöster Geist in die Straße zurückkehren musste, die an dem ehemaligen Minigolfplatz vorbei zum Haus der Eltern führt, in dem die Mutter, verwunschen wie in einem Märchen, auf ewig am Herd steht. Hätte sie gewusst, dass ich komme, hätte sie Klöße mit Zwiebeln gemacht. Im Wohnzimmer sitzt mein Bruder bei einer Bastelarbeit. Ohne dass er mich bemerkt, gehe ich an ihm vorbei in den schmalen Hausflur und weiter in den Garten. Zusammen mit den Blüten vom Mirabellenbaum fallen welke Blätter, und die Luft riecht so, wie ich meine, sie seit vielen Jahren nicht mehr gerochen zu haben. Warum aber hatte ich das alles damals, als es tatsächlich vorhanden war, nicht wahrnehmen können? Oder warum reichte das, was ich wahrgenommen hatte, nicht aus, um es bei sich zu belassen?

In dem Krankenhaus, in das Roberto am Mittwoch kam, herrscht aus irgendeinem Grund immer noch komplettes Besuchsverbot. Nicht einmal seine Schwester darf zu ihm. Sie erfährt, dass man ihn nicht operieren kann, weil sein Herz zu schwach ist. Am zweiten Tag seines Aufenthalts fällt er und bricht sich das Bein. Der Nachbarin, mit der ich einmal die Woche telefoniere, fallen immer mehr Erlebnisse ein, die, früher nicht weiter beachtet, sich nun mit Vehemenz aufdrängen. Vor einigen Jahren etwa habe sie Roberto einmal nachts in der S-Bahn getroffen und von ihm erfahren, dass er in verschiedene Clubs gehe, weil er bisexuell sei. Als sie ihm vergangenen Mittwoch noch einmal auf der Treppe begegnete, seltsamerweise ohne Tasche, obwohl er auf dem Weg ins Krankenhaus war, sagte er unvermittelt, dass er für seine Krankheit selbst die Verantwortung trage, weil er ein »böser Bub« gewesen sei, der Drogen genommen habe.

Vielleicht hatte ich irgendwann einmal mit dem Schreiben begonnen, um etwas herauszufinden. Mit den Jahren hatte sich dieses Schreiben jedoch in etwas verwandelt, das mich bestenfalls von meinen eigenen Unzulänglichkeiten ablenkte. Das lag aber nicht am Schreiben an sich, sondern allein an meiner Unsicherheit dem Leben gegenüber. Vor mir tauchte das Bild einer dünnen Eisschicht über einem tiefen, dunklen See auf, die ich nur betreten kann, wenn ich nicht daran erinnert werde, was unter ihr liegt. Sehe ich durch die dünne Membran auch nur den Schatten einer meiner vergessenen Sehnsüchte, breche ich unmittelbar ein. Es war kein wirklich passendes Bild für das, was ich tatsächlich empfand, darüber hinaus war es abgenutzt. Bestimmt wäre es übertrieben zu sagen, dass ich mir angewöhnt hätte, in einer Art Bewusstlosigkeit zu leben, doch zusammen mit bestimmten Gefühlen hatte ich Teile meiner Selbstbestimmung aufgegeben. Deshalb war ich froh, wenn sich andere mit Vorschlägen, Wünschen oder Aufträgen, zum Beispiel einen Text zum Thema Abschied zu verfassen, an mich wandten.

Bei der weiteren Arbeit an besagtem Text für Salzburg war mir Prousts Unterscheidung von bewusster und unwillkürlicher Erinnerung in den Sinn gekommen, worauf ich der Frage nachgegangen war, ob sich eine ähnliche Differenzierung vielleicht auch auf den Abschied anwenden ließe, da die Vorstellung eines bewussten und eines unwillkürlichen Abschieds mir intuitiv, allerdings ohne dass ich genauere Gründe dafür hätte angeben können, plausibel erschien. Natürlich würde der unwillkürliche Abschied, anders als die unwillkürliche Erinnerung, nicht zufällig und aus einer momentanen Eingebung heraus vollzogen, auch wenn es vereinzelt Fälle geben mochte, an denen sich jemand, einer spontanen Gefühlsregung folgend oder als Reaktion auf ein unerwartetes Ereignis, plötzlich verabschiedet, um ein anderes Leben zu beginnen. Der unwillkürliche Abschied, so versuchte ich eine erste Definition, wäre vielmehr ein Abschied, der ohne das eigene Zutun, selbst ohne das eigene Wissen vollzogen wird. Es wäre folglich eines der Hauptmerkmale des unwillkürlichen Abschieds, ihn erst später, oft sehr viel später zu erfahren, dann nämlich, wenn eine der vielen unwillkürlichen Erinnerungen auftauchte, die ohne eigenes Zutun etwas hervorrufen, das vor vielen Jahren erlebt wurde, ohne ihm damals größere Beachtung geschenkt zu haben.

Tatsächlich entwickelte ich meine Theorie vom »unwillkürlichen Abschied« nicht in einem abstrakten Raum, sondern erfuhr sie ganz konkret, als ich vor zwei Tagen abends und eher nebenbei einen Dokumentarfilm aus den frühen 1970er Jahren ansah und an einer Stelle Musik von Genesis gespielt wurde. Ohne sagen oder rekonstruieren zu können, weshalb, fiel mir die Besitzerin eines Häuschens in Cambrai an, in dem ich vor mehr als fünfundzwanzig Jahren einige Sommertage verbracht hatte. Über einen Bekannten, der seinen Urlaub um eine Woche nach hinten hatte verschieben müssen, bot sich mir die Möglichkeit, dort das erste Viertel seines Aufenthalts ohne weitere Kosten und Verpflichtungen zu übernehmen. Fasziniert von dem Namen der Stadt, der beinahe so klang wie Prousts Combray, fuhr ich Mitte Juli nach Nordfrankreich zu dem schmalen Haus, das eine ehemalige Theaterschauspielerin den Sommer über vermietete, und verbrachte dort einige ruhige Tage, in denen ich in dem weitläufigen Garten saß, durch die Straßen der Stadt schlenderte und Proust las. Gerade weil ich den Urlaub nicht selbst ausgesucht oder gebucht hatte, beachtete ich die Besitzerin bei der Schlüsselübergabe nicht weiter, nahm überhaupt alles so, wie es sich ergab, blieb noch das Wochenende, als mein Bekannter mit seiner Freundin eintraf, und fuhr anschließend zurück nach Deutschland. Hin und wieder dachte ich in den nächsten Jahren an Cambrai, das Häuschen, den Garten, die Straßen, all das, was ich seitdem kein zweites Mal gesehen hatte, nie jedoch kam mir dabei die Besitzerin in den Sinn, bis eben zum Zeitpunkt dieser »unwillkürlichen Erinnerung«.

Eigenartigerweise war diese Erinnerung keineswegs neutral, wie man es nach einer so langen Zeit erwarten könnte, sondern melancholisch eingefärbt und mit einer mir unverständlichen emotionalen Dringlichkeit versehen. Es wäre übertrieben zu sagen, dass ich erschrak, denn dazu war die einmalige Begegnung mit der Besitzerin dann doch zu kurz und zu oberflächlich, dennoch meinte ich, seinerzeit etwas versäumt zu haben. Nicht nur, dass ich sie weder bewusst begrüßt noch verabschiedet hatte, ich hatte sie überhaupt nicht wahrgenommen und im Weiteren auch keinen Gedanken an sie verschwendet, obwohl ich doch für eine gute Woche zwischen ihren Dingen verbracht hatte. Mir fielen die Plakate der Theaterstücke ein, bei deren Aufführungen sie mitgewirkt hatte, dazu ein großes Werbeposter, das im Flur hing und unverkennbar ihr Gesicht mit Anfang zwanzig zeigte, mit dem sie für eine Wurst mit dem Namen Bâton de Berger warb. Da eine Wand im Schlafzimmer komplett mit Privatfotos bestückt war, hatte ich an einem Abend sogar versucht, ihr Leben zu rekonstruieren: Hochzeit mit einem älteren Mann, Geburt eines Sohnes, der wohl allein bei ihr aufwuchs, und, kaum erwachsen, in eine indische Familie einheiratete. Dazwischen immer seltener werdende Theater- und Filmproduktionen, die sich vom experimentellen Schwarzweiß-Film in Richtung Boulevard und Klamotte entwickelten, da sie sich in eine der wenigen Rollen zu fügen hatte, die das Theater für ältere Frauen bereithält, in ihrem Fall die Schwiegermutter. Das alles, und noch weitere Details, von denen ich allesamt bis zu diesem Moment nicht geahnt hatte, sie noch im Gedächtnis zu haben, spulte sich vor mir ab und verstärkte den melancholischen Unterton zu einem Gefühl der Wehmut. War ich bei anderen Erinnerungen in der Regel zu stark miteinbezogen und dadurch von der Frage abgelenkt, was ich hätte anders machen können, konnte ich am Beispiel der Hausbesitzerin einen Aspekt der beständigen Vergänglichkeit erkennen, der sich in den unwillkürlichen Begegnungen offenbart, die nichts von einem Abschied zu wissen scheinen, obwohl er gleichermaßen vollzogen wird.

Leicht hätte ich mich damit herausreden können, dass es schlichtweg unmöglich ist, alle Begegnungen im Leben entsprechend zu würdigen, ihnen einen bewussten Anfang und ein bewusstes Ende einzuräumen, vor allem einen Abschied zuzubilligen, weil es einen nicht nur überfordern würde, sondern das Leben damit zum Stillstand käme. »Zum Stillstand kommen«. Ein eigenartiger Begriff, der mich in meiner Rechtfertigung innehalten ließ. Es war ja nun einmal die grundlegende Eigenschaft des Lebens, dass es, so lange es andauerte, eben nie zum Stillstand kam. Wird ein Abschied unumgänglich, weil er sich aufzwingt, da mich jemand verlässt, weil er stirbt oder sich für eine andere Lebensplanung ohne mich entschieden hat, kann ich durchaus meinen, das Leben würde für einen kurzen Moment anhalten, um sich selbst zu besinnen, vielmehr sich selbst in seiner Wesenheit zur Besinnung zu bringen. Tatsächlich aber kommt mir allein das beständig wirkende Vergehen zur Besinnung. Das heißt nicht, dass ich mit dieser Bewusstwerdung zwangsläufig etwas anzufangen weiß. In der Regel stört sie mich, und ich lasse sie ungenutzt verstreichen, weil es, wie bereits gesagt, einfach nicht praktikabel wäre, ihr nachzugehen.

Als jugendlicher Melancholiker war ich schon bald auf die Zeile aus Rilkes Orpheus-Sonetten gestoßen, in der es heißt »Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter dir«. Über Tage konnte ich seinerzeit in einer Form der übersteigerten Wahrnehmung einhergehen, in der mir alles und jeder in seiner Vergänglichkeit erschien. Meine Welt war in eine Wolke süßer Traurigkeit gehüllt, die mich gleichzeitig dem Weltlichen enthob, in das ich schon wenig später gezwungen war zurückzukehren. Weil ich mich dem Vergehen ganz nah wähnte, fragte ich nicht genauer nach, was es denn wirklich bedeutet, »allem Abschied voran zu sein«. Ich interpretierte diese Anweisung als Aufforderung, sich schon beizeiten zu verabschieden, bevor es zum wirklichen Abschied kommt. Aber wie sollte das möglich sein? Aus den weiteren Zeilen des Gedichts lässt sich schließen, dass Rilke von dem spricht, was er an anderer Stelle »Nicht-Sein« nennt, ein Zustand, dessen Bedingung er auffordert zu erkennen, ja sogar zu »wissen«. Es ist ein Gedanke, der mir vertraut ist und aus dem es mir manchmal gelingt, eine Form des Trosts zu entwickeln. Dennoch löst er die grundsätzliche Frage nach dem Abschied, die Frage, die der Abschied stellt und der ich mich im Abschied stellen muss, nicht. Kurzgesagt: Ich kann den Abschied nicht üben, ihm weder vorauseilen noch ihm hinterherhinken, auch wenn ich beides immer wieder versuche. Der Abschied, und wahrscheinlich meint Rilke auch das, existiert immer singulär und bleibt in seinem Vorgang der vermeintlichen Nichtung, aus dem gleichzeitig etwas entsteht, notwendigerweise einzigartig, weshalb es sinnlos ist, ihm eine Wesensart zuzuschreiben und ihn zu verdinglichen, als sei er immer auf gleiche, zumindest auf ähnliche Weise erfahrbar. Liegt das Geheimnis des Abschieds nicht gerade darin, dass er mich mit einer Verschiedenartigkeit überfordert, die mich immer wieder auf den ganz konkreten Moment verweist, da die Möglichkeit einer Vorbereitung im Vorhinein ausgeschlossen ist? Der Abschied ragt in das Nicht-Sein gleichermaßen hinein wie in das Sein, in die Vernichtung gleichermaßen wie in die Entstehung. Lehrt mich der Abschied vielleicht die Unmöglichkeit, etwas aus ihm lernen zu können? Und ist er damit nicht ein weiteres Paradox, das auf mein paradoxes Leben verweist, in dem sich ein Widerspruch an den anderen reiht und mir jeden Tag aufs Neue die Aufgabe stellt, daraus einen Sinn zu entwickeln?

Was, wenn ich versuchen würde, mich zwar auf den Abschied vorzubereiten, um genau zu sein, mich auf jeden einzelnen Abschied vorzubereiten, ähnlich wie ich mich vielleicht auf den Tod vorbereite, jedoch mit dem Wissen, dass diese Vorbereitung zwangsläufig misslingen muss? Ließen sich damit die Möglichkeiten des Abschieds, der sich ohnehin unwillkürlich vollzieht, bewusstmachen, ohne ihn gleichzeitig zu reglementieren, einzuschränken oder zu erklären? Vielleicht kommt der eine Abschied erst nach zwanzig Jahren an einem Abend im Sommer, als nichts ihn voraussagte, ausgelöst durch eine kurz eingespielte Musik, die wohl meine unwillkürliche Erinnerung an die Hausbesitzerin von Cambrai angestoßen hatte. Diese hatte mir nämlich bei der Schlüsselübergabe erzählt, wohl um die Bedeutung ihres Wohnortes aufzuwerten, dass Genesis auf ihrer letzten Tour mit Peter Gabriel hier Station gemacht hatte. Damals interessierte mich dieser Umstand nicht weiter, wahrscheinlich, weil mir mein eigener Abschied von dieser Band, obwohl er seinerzeit auch bereits über zwei Jahrzehnte zurücklag, noch zu nah war. Erst jetzt, im Verlauf meiner Erinnerung an meinen Aufenthalt in Cambrai, konnte er mir bewusstwerden, mehr noch, konnte ich ihn vollziehen, ähnlich wie man vielleicht eine vergangene Beziehung resümiert, wenn man einem einstmals geliebten Menschen nach Jahren wiederbegegnet. Es entspricht nicht meiner Erfahrung, dass ich nicht länger, wie es heißt, »etwas« für ihn empfinde. Tatsächlich empfinde ich das, was ich früher empfunden habe, nur, dass durch den Abschied eine zweite, eine historische Ebene hinzutritt, in der ich mein Gefühl als Gefühl betrachten kann, weshalb es mir nicht länger echt erscheint. Da die Abschiede mit dem Alter zunehmen, kann der Eindruck entstehen, dass eine Zunahme an Erfahrung die Unbefangenheit Neuem gegenüber verhindert und ein entsprechendes Erleben nur noch schwer möglich macht. Aber vielleicht ist genau das der Vorgang, von dem Rilke spricht: Etwas nicht isoliert betrachten und aus dem unüberschaubaren Netz, in das es eingebunden ist, herausnehmen; sich dabei weder der Melancholie und Trauer noch der Ablenkung und Euphorie überlassen, sondern verstehen, dass Abschied nur ein Hinweis auf das ist, was ohnehin beständig und unaufhörlich geschieht. Abschied ist eine Form der Lupe, die das Vergehen in seinen vielen Details etwas sichtbarer macht. Und plötzlich sehe ich, welche Implikationen eine kurze Begegnung für mein Leben haben kann. Und gerade weil ich nicht sagen kann, welche Implikationen es genau sind, weil sich das Geflecht der Erinnerungen nicht auflösen und einordnen lässt, erfahre ich das paradoxale und widersprüchliche Nebeneinander meiner Existenz.

Robertos Schwester hatte eine Sondergenehmigung bekommen und durfte nun doch zu ihm. Bei ihrem ersten Besuch stand er noch unter starken Medikamenten und sagte: »Meinen Beinen geht es okay, du siehst doch, wie ich hier vor dir stehe«, obwohl er im Bett lag. Bei ihrem zweiten Besuch war er klarer. Er litt schon länger unter starken Rückenschmerzen, hatte aber nie ein MRT machen lassen. Bislang konnte noch nicht festgestellt werden, ob der Tumor, der auf die Nerven in der Wirbelsäule drückte und seine Beine lähmte, tatsächlich auf den metastasierten Prostatakrebs zurückzuführen war, ebenso wenig, in welcher Verbindung dazu der Armbruch stand. Als seine Schwester Roberto fragte, was sie ihm bringen könne, fielen ihm, ohne zu zögern, seine Lego-Steine ein. Zuhause lagen die Entwürfe für eine Micky Maus auf dem Küchentisch. Selbst wenn er den Krankenhausaufenthalt überstand, würde er nicht mehr in diese Wohnung zurückkönnen, in der er über vierzig Jahre gelebt hatte, seit er mit siebzehn dort eingezogen war. Damals machte er eine Lehre zum Elektriker. Dann war er länger arbeitslos. In dieser Zeit fing er wohl an, Bauwerke und Figuren aus Lego nachzubauen.

»Ich finde das erschreckend«, sage ich zu der Nachbarin am Telefon, »du versuchst eine Dose aufzumachen, ziehst dir dabei einen Splitterbruch im Arm zu, gehst ins Krankenhaus, wo man feststellt, dass du Prostatakrebs und im ganzen Körper Metastasen hast und dazu noch einen Tumor an der Wirbelsäule, der dir das Gefühl in den Beinen abdrückt.« »Wenn es um eine Frau mit Brustkrebs ginge, würde mich das wahrscheinlich auch tangieren.« »Es geht mir doch gar nicht um die Prostata, sondern um diesen plötzlichen Einschnitt. Von jetzt auf gleich ändert sich dein ganzes Leben. Du hast noch nicht mal die sprichwörtlichen drei Monate. Was kannst du da noch groß machen?« »Wahrscheinlich würde ich versuchen, meine Wohnung aufzuräumen.«

Ich musste daran denken, wie Roberto sich manchmal sonntags verkleidet hatte und in Schnabelschuhen, Wildlederhosen und weißer Bluse zu einem Mittelaltermarkt gegangen war. Die Möglichkeiten innerhalb des eigenen Lebens waren wahrscheinlich doch eingeschränkter, als man allgemein wahrhaben will. Kein Wunder, dass man sich alle möglichen Kompensationen für diese Erniedrigung ausdenkt. Man entwirft große Pläne für die Weltgemeinschaft und zukünftige Generation, um nicht von der eigenen Bedeutungslosigkeit erschlagen zu werden. Wobei diejenigen, die sich aus allem herauszuhalten versuchen, so wie ich, auch nicht besser dran sind. Ihre Sehnsucht nach einer konstruktiven Distanz bleibt ein frommer Wunsch, der sich im Kampf mit alltäglichen Banalitäten erschöpft.

Ich überlegte, was es war, das mich unzufrieden machte, und was Unzufriedenheit überhaupt bedeutet. Gäbe es diese Unzufriedenheit auch dann, wenn ich nicht versuchen würde, über etwas zu schreiben? Mittlerweile war ich an einem Punkt angelangt, an dem mir alles abwechselnd suspekt, dann wieder gleich mit mehrfachen Bedeutungsebenen grundiert erschien. Dachte ich auch nur einen Schritt weiter, verwandelten sich diese Anwandlungen rasch in eine Form der Verzweiflung. Diese Vorgänge sind mir mittlerweile bekannt, dennoch gelingt es ihnen, mich jedes Mal aufs Neue zu überraschen, sobald ich mich daranmache, einen Text zu verfassen.

Als ich für einen Moment die Augen schließe, tauchen Landschaften auf, durch die ich mit einem Zug fahre. Ich bin mir nicht sicher, diese Landschaften tatsächlich zu kennen. Abschied, denke ich, hat zwangsläufig mit Räumlichkeit zu tun. Und Räumlichkeit ist für den Menschen entweder offener Raum, nämlich die Landschaft, oder der von ihm selbst umbaute und strukturierte Raum in Form von Häusern und Städten. Beiden kann man sich entziehen, indem man flieht oder sich versteckt. Ich denke an das Haus, in dem ich mehrere Jahrzehnte gewohnt habe und die Menschen, die dort mit mir lebten. Niemand von uns hatte sich diese Gemeinschaft ausgesucht, weshalb wir unserem Zusammenleben entsprechend wenig Beachtung schenkten. Manchmal traf ich Roberto auf der Straße, wenn er abends von der Arbeit kam. Meist hatte er eine Plastiktüte dabei und rauchte eine Zigarette. Oft nickten wir uns nur kurz zu und gingen aneinander vorbei. Dass er ein »böser Bub« war, hätte ich nie gedacht. Aber vielleicht war ich nur deshalb nicht auf einen solchen Gedanken gekommen, weil ich überhaupt nicht weiter über ihn nachgedacht hatte. Ich wusste, dass er schon früh eine ganze Reihe Zähne verloren hatte, weil er manchmal, wenn er den Tag zuhause verbrachte, seine Prothese nicht einsetzte. Aber ich wäre auf keine Krankheit wie Aids oder etwas Ähnliches gekommen, sondern hätte eher einen Unfall vermutet, wenn ich, wie gesagt, überhaupt einen Gedanken daran verschwendet hätte.

Roberto hatte über die Jahre verschiedene Freundinnen, die ihn regelmäßig besuchten und teilweise auch bei ihm wohnten. Zuletzt eine ältere Frau, die oft unzufrieden mit ihm war und ihn beim Abendessen in der Küche beschimpfte, sich andererseits entsprechend kostümierte, wenn sie ihn auf den Mittelaltermarkt begleitete. Diese Frau war vor einigen Jahren an einem Gangrän gestorben. Ähnlich wie beim Krankheitsbild Aids verbindet sich mit einem Gangrän etwas Unberechenbares, weil der Körper von außen befallen und langsam aufgezehrt wird. Einerseits wissen wir von all diesen Bedrohungen, andererseits gelingt es uns nicht, eine Lehre daraus zu ziehen, um zum Beispiel bei einem banalen Streit unmittelbar innezuhalten und uns in Erinnerung zu rufen, wie unbedeutend diese Auseinandersetzung im Verhältnis zur Endlichkeit unseres Lebens ist. Doch auch hier, ähnlich wie bei der Unmöglichkeit, jede Begegnung in ihrem Anfang und Ende wahrnehmen zu können, zeigt sich lediglich eine weitere Diskrepanz, nämlich die zwischen einem Bewusstsein über die Beschränktheit unseres Lebens und unsere davon weiterhin unberührte Lebensführung.

Mittlerweile erschien mir der Abschied immer mehr als eines der vielen Konstrukte, mit denen wir unser Leben zu strukturieren versuchen. Und wie die meisten dieser Konstrukte beruhte auch der Abschied auf einer falschen Prämisse. Obwohl wir in der alltäglichen Lebenspraxis beständig erfahren, dass an diesen von uns vorgenommenen Einteilungen etwas nicht stimmt, akzeptieren wir sie dennoch und scheuen uns nicht, die bereits auf den zweiten Blick undurchdringlichen und komplexen Leben anderer Menschen nach diesen mehr als unzureichenden Kriterien zu beurteilen. Elternhaus, Kindheit, Jugend, Ausbildung, Beruf, Ehe, Kinder, Karriere, Krankheit, Tod, Hinterlassenschaft, angereichert mit einigen schönen, vielleicht sogar außergewöhnlichen Erlebnissen und einer Reihe dramatischer, vielleicht sogar traumatischer Ereignisse. Wird sich einmal etwas ausführlicher mit einem Leben beschäftigt, tauchen zusätzlich Städte und Wohnungen auf, dazu eine Handvoll Bekannte und Freunde. Doch selbst, wenn man jeden Ausflug, jedes Tanzvergnügen, jeden Klassenaufsatz so detailliert und minutiös auflistet wie etwa Heather Clark in ihrer Biographie von Sylvia Plath, hat dies nur eins zur Folge: Je feiner das von außen an eine Biographie angelegte Raster ist, desto stärker verschwimmt die individuelle Existenz dahinter. Anfänglich war ich bei meiner Lektüre dieser Biographie allein durch die überwältigende Fülle letztlich nichtssagender Details fasziniert, weil ich hoffte, die Absurdität dieser Unternehmung, ein Leben auf solche Weise einfangen zu wollen, sollte damit deutlich gemacht werden. Ich musste jedoch feststellen, dass die Autorin tatsächlich meinte, durch eine möglichst lückenlose Auflistung von Ereignissen den Kern einer Existenz freilegen zu können. Das Buch wurde vielfach gelobt und ausgezeichnet, und auch ich hätte es gelobt und ausgezeichnet, allein wegen des Fleißes, der hinter einer solchen Arbeit steckt. Was aber erfuhr ich tatsächlich über Sylvia Plath? Konkret, und das war tatsächlich ein positiver Effekt dieser Biographie, stellte sich mir die Frage, was es überhaupt war, das ich erfahren wollte und mich zur Lektüre dieser Lebensgeschichte gebracht hatte. Eine Frage, die sich beinahe logisch ergeben sollte, dennoch von mir bislang nicht gestellt worden war. Ist es eine aus Lebenserfahrung resultierende Errungenschaft, solchen grundsätzlichen Fragen auszuweichen, um sie stattdessen mit Konzepten und Metaphern zu überdecken? War es nicht eine von Beginn an zum Scheitern verurteilte Unternehmung, die komplexen Strukturen eines Lebens mithilfe von Daten und Fakten rekonstruieren zu wollen? Warum nimmt sich ein Mensch das Leben? Weshalb trennen sich Paare, ohne sich zu verabschieden, und verabschieden sich voneinander, ohne sich zu trennen?

»Just before our love got lost ...« Mit dieser scheinbar lapidaren Feststellung beginnt Joni Mitchells Song A Case of You. Dieser Anfang hat eine nicht zu leugnende Dringlichkeit, weshalb mich dieses Lied über viele Jahre hinweg begleitet hat. Auch wenn ich unmittelbar – das ist der Vorzug der Poesie – eine Aussage zu erspüren meinte, wusste ich gleichzeitig, dass es diesen zu benennenden einen Punkt nicht gibt, an dem sich eine Liebe »verliert« – oder umgekehrt offenbart. Die poetische Paraphrase lässt das Angedeutete fassbarer erscheinen, als wir es in den durch gegenläufige Bewegungen bestimmten Dynamiken von Beziehungen erleben, weshalb wir im Nachhinein oft vergeblich nach einer Erklärung oder einem sogenannten »Kipppunkt« suchen. Schon allein darum stehen sich die Erzählungen, die jeder von zwei Partnern über die gemeinsame Beziehung entwickelt, nicht selten diametral und unversöhnlich gegenüber. »Genau in dem Moment, bevor sich unsere Liebe verlor, hast du noch zu mir gesagt: Ich bin so zuverlässig wie der Polarstern«. Natürlich sprechen Liebende nicht so miteinander, wenn sie sich den »Abschied geben«, und doch wünschen sie es sich, weil es vieles einfacher machen würde. Warum nicht auch am Ende die Liebe als Schicksalskraft oder Himmelsmacht oder was auch immer anerkennen, eine Kraft, die einer eigenen Logik folgt, die weder die des Geistes noch die des Herzens ist. Liebende verstummen zu Beginn ihrer Beziehung und dann wieder gegen Ende, und doch könnten diese Formen des Verstummens nicht unterschiedlicher sein. Tatsächlich scheint man um den Abschiedsschmerz auch durch einen Anstieg an Lebenserfahrung nicht herumzukommen, denn in dem Moment, in dem ich gelernt habe, den eigenen Schmerz nicht länger in den Mittelpunkt meines Fühlens zu stellen, taucht dahinter unmittelbar der Schmerz des anderen auf. Ein letztes Mal, und vielleicht ist dieser Vorgang der Ablösung sogar intensiver als der der Annäherung, kann ich sehen, was mit dem anderen ist und woran er leidet. Und es ist die erzwungene Distanz des Abschieds, die mir diese Erkenntnis erst ermöglicht.

Am Sonntagmorgen bekomme ich eine weitergeleitete SMS, in der Robertos Schwester mitteilt, dass Roberto in der Nacht um 3 Uhr gestorben ist. Jetzt konnte er doch nicht mehr seine Micky Maus bauen, denke ich als erstes. Nein, es geht noch weiter, durch seinen Tod gibt es noch nicht einmal mehr die Möglichkeit dieser ganz konkreten Micky Maus. Sie ist mit Roberto auf immer aus der Welt verschwunden. Wahrscheinlich hatte diese Micky Maus für Roberto dieselbe Bedeutung wie für mich der nächste Roman, und mein nächster Roman, das gebe ich gern zu, hat keine größere Bedeutung als diese Micky Maus. Ein Leben lässt sich nicht an dem messen, was davon für andere sichtbar wird. Eine Tätigkeit zu finden, die ihre Bedeutung aus dem Tun selbst bezieht, um mehr kann es womöglich nicht gehen.

Ich erinnere mich daran, wie ich Roberto manchmal im Treppenhaus getroffen hatte, wenn er wieder einmal eine seiner Festungen oder Ministeck-Bilder in den Keller trug, weil in seiner Wohnung nicht mehr genug Platz war. Ich trage auch regelmäßig Bücher in den Keller, von denen ich mich noch nicht richtig trennen kann, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass ich sie nur in den seltensten Fällen wieder zurück in die Wohnung holen werde. Auch hier weiche ich einer Form des bewusst vollzogenen Abschieds aus und merke meine Erleichterung erst, wenn ich nach einem Wasserrohrbruch an der Papiertonne stehe und die unbrauchbar gewordenen Bände hineinwerfe.

Wenn Robert Frank mit Mitte fünfzig der Abschiede überdrüssig war, so ahnte er womöglich nicht, dass er noch weitere vier Jahrzehnte leben würde. Es würden neue Abschiede hinzukommen, während sich alte Abschiede relativierten oder in Vergessenheit gerieten. Vielleicht würde er bemerken, so wie ich es gerade in meinem Nachdenken über den Abschied bemerke, dass mit der Konstruktion des Abschieds etwas nicht stimmt, weil er etwas heraushebt und zum Begriff macht, was tatsächlich in dieser Form nicht existiert. Es ist eine künstliche Dramatisierung, der sich Romane und Filme bedienen und die uns wahrscheinlich nur deshalb so stark anrührt, weil sie uns unterschwellig an die unzähligen nicht vollzogenen und noch nicht einmal andeutungsweise bemerkten Abschiede erinnert. Beinahe erscheint mir der Abschied als conditio humana, die, wie die meisten Grundbedingungen der menschlichen Existenz, in einem nicht ganz fassbaren Raum zwischen Bewusstsein und Nicht-Bewusstsein, zwischen Erfahrung und Überlieferung, Erklärung und Verklärung anzutreffen ist. Bestenfalls gibt es Augenblicke, in denen wir von alldem einen winzigen Teil erkennen, der sich uns allerdings im nächsten Moment schon wieder entzieht.

Manchmal überkommt mich die Befürchtung, unerwartet von alldem, was ich gerade im Begriff bin zu versäumen, eingeholt und übermannt zu werden. Dann müsste ich mit Schrecken erkennen, für was es nun endgültig zu spät wäre. Glücklicherweise ist dieser Moment bislang noch nicht eingetreten. Ich dachte an Robertos Wohnung, die seit Tagen unverändert vor sich hindämmerte, so wie er sie verlassen hatte, ohne sich von ihr zu verabschieden, weil er meinte, sein Weggehen sei nur vorübergehend. Die auf Vorrat gekauften Schachteln Zigaretten, obwohl er seinen Konsum in letzter Zeit stark eingeschränkt hatte, eine Jeans über einem Sessel, der kleine Fernseher, die Stofftiere auf der Couch und die unzähligen Drachen und Burgen und Gebäude und Bilder aus Lego und Ministeck. Mittlerweile war er schon eingeäschert und in ein paar Tagen würde er auf dem Waldfriedhof bei der Rotbuche 706 begraben werden. Seine Schwester, die sich um all das kümmern musste, hatte als Bild auf ihrem Whatsapp-Account ein schwarzweißes Kinderfoto von sich und ihrem Bruder hochgeladen. Was hatten diese Kinder einmal werden gewollt? Wen hatten sie geliebt? Von wem waren sie geliebt worden? War Robertos ganze Leidenschaft an einem bestimmten Punkt in die Welt der Drachen und Burgen geflossen, nachdem er sich entschieden hatte, kein »böser Bub« mehr zu sein, keine Drogen mehr zu nehmen, sich nicht länger in fragwürdigen Clubs herumzudrücken?

Die Arbeitskollegen von Roberto warfen ihm bei seiner Beerdigung statt Blumen oder einer Schaufel Erde Lego-Steine ins Grab. Ist eine solche Geste nicht anrührender als jede großartig inszenierte Trauerfeier? Und geschieht es den Politikern nicht recht, dass sie ein Staatsbegräbnis bekommen, bei dem jegliches Gefühl von vornherein ausgeschlossen bleibt? Mir fiel Robertos Keller ein, in dem Regale und ein alter Wohnzimmerschrank standen und alles penibel aufgeräumt und in Kästen einsortiert war. Dieser Keller erinnerte mich an meine Kindheit, an den Keller meiner Großeltern, der ganz ähnlich aussah und in den ich mich manchmal an verregneten Ferientagen zurückzog, einerseits außerhalb der Wohnung und damit der Kontrolle entzogen, andererseits dennoch geborgen. Ich sah durch das schmale Kellerfenster in den Garten, in dem die Gräser vom Regen nach unten gedrückt wurden, und roch die Kohlen und Briketts, die nebenan in dem düsteren Raum lagerten, zu dem es einen Zugang von der Straßenseite mit einer Schütte gab. Es sind die nicht vollzogenen Abschiede, die unser Leben wie ein Gitternetz überlagern. Im Schreiben versuche ich dieses Gitternetz in Sprache zu übertragen, bis ich merke, dass genau das nicht gelingen kann. Das Schreiben scheint mir immer stärker wie ein gegenläufiger Prozess, der gleichzeitig schafft und auflöst. Das ist es, was an der Vorstellung, ein Thema bearbeiten zu können, nicht stimmt, denn je mehr ich mich einem bestimmten Thema zu nähern versuche, desto weiter rückt es von mir weg. Letztlich kann ich das Thema nur wieder vergessen, bestenfalls verabschiede ich mich gleich zu Beginn ganz bewusst von ihm.

Im April 1954 wurde Andrea Frank geboren. Am 23. Dezember 1974, in dem Winter, in dem ich nach dem Abitur von zu Hause auszog, kam sie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Auf eine Fotografie aus dem Jahr 1975, die aus verschiedenen übermalten und bearbeiteten kleinen Bildern zusammengesetzt ist, schrieb Robert Frank: »For my daughter Andrea who died in an Airplane crash at TICAL in Guatemala on Dec. 23. last year. She was 21 years and she lived in this house and I think of Andrea every DAY.« Zwanzig Jahre später wird Franks Sohn Pablo, der an Schizophrenie erkrankt war, nach einem Selbstmordversuch in einem Krankenhaus in Allentown sterben. Ich beschließe, meinen Text für Salzburg auf die Erinnerung an Cambrai und die Schauspielerin zu beschränken und irgendwann später noch einmal genauer über das Thema Abschied nachzudenken.

Am Abend, nachdem ich den ganzen Tag allein und ohne ein Wort mit jemandem zu sprechen verbracht habe, bekomme ich ein Foto auf mein Handy geschickt. Es ist nur ein paar Tage alt und am letzten Tag im September aufgenommen, an dem es noch einmal sommerlich warm war. Ich stehe mit einer gestreiften Badetasche auf einem Waldweg. Als das Foto gemacht wurde, wusste ich noch nichts von dem Streit, der am selben Abend folgen, und den unruhigen Nächten und Tagen, die sich anschließen würden. Wenn ich das Foto in einigen Monaten noch einmal anschauen werde, wird auch das in Vergessenheit geraten sein. Ich werde nur noch an die Sonne zurückdenken und das Licht, das durch die Blätter der Birkenäste fiel, um vielleicht in einigen Jahren aus ganz anderen Gründen noch einmal an diesen Tag erinnert zu werden und an die Frau, die mit mir dort war und ein letztes Mal im See schwamm, während ich mit ihrem Hund einige Schritte weiterging, weil ihn das Verschwinden seines Frauchens im Wasser beunruhigt hätte.

 

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